Warren Ellis (links) und Nick Cave (rechts), die mit Aufnahmen von Musik beschäftigt sind. Ellis bedient ein kleinen Synthesizer, Cave hält ein Mikro in der rechten Hand, auf seinem Schoß liegt ein aufgeschlagenes Notizbuch.

Musikvorstellung: Nick Cave & Warren Ellis – Carnage

Foto: Joel Ryan

Wie so oft in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten drehe ich meine tägliche (oder in diesem Fall: abendliche) Runde um den Block. Bisschen frische Luft schnappen, dabei Musik über Kopfhörer hören, die Birne freibekommen und im besten Fall an nichts denken müssen. Das Wetter, obwohl schon Mai, tut sehr als hätten wir noch April. Der Regen, der sich tagsüber immer wieder zusammen mit dem sturmböigen Wind über die Stadt gelegt hatte, hat sich verzogen und freundlicher Abendsonne Platz gemacht, welche die Szenerie um mich herum in warmes, goldenes Licht taucht. Der kalte Wind, der mir munter in Nase und Ohren zwickt, ist geblieben. Typischer Geruch weht aus der Dönerbude auf die Straße, beim Vorbeigehen kann ich sehen, dass Männer gelangweilt auf den Fernseher starren, aus dem etwas tönt, was ich mangels besseren Wissens für türkische Volksmusik halte. Viel zu tun haben sie offenbar gerade nicht. Kein Wunder, es ist einerseits mitten in der Woche, zum anderen ist Lockdown und Ausgangssperre angesagt. Dinge, die uns schon eine gefühlte Ewigkeit begleiten.

Ich komme an einem Laden für Modelleisenbahnen vorbei. Mein Blick bleibt an dem Schaufenster hängen, das inzwischen genauso öd und leer ist, wie ich mich nach all den Corona-Monaten fühle. Eine einzelne Modelllokomotive fährt auf einem kurzen Stück hin und her. Hin und her. Vermutlich tut sie das auch schon seit Wochen so. Hin. Und her. „I am a Botticelli Venus with a penis“ singt (oder besser: zischt) Nick Cave mir gerade ins Ohr und weiter: „Riding an enormous scalloped fan“. Kurz kommt mir der Gedanke, dass besungene Venus stattdessen auch einfach auf dieser Modellbahn reitet. Es ist dies eine Textzeile aus „White Elephant“, einem Song aus Caves neuem Album „Carnage“, das zusammen mit seinem langjährigen The Bad Seeds-Buddy Warren Ellis entstand – und das die beiden schlicht unter ihren Namen (also als Duo) veröffentlichten. Dieses Album, das guten Gewissens als definitives Lockdown-Album bezeichnet werden kann, regt auf vielerlei Weise das Hirn zu Aktivität an. Diesen Gedanken festhaltend, beende ich meine Runde, kehre in meine Wohnung zurück, klappe den Laptop auf und fange an zu schreiben.

„Eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe“ (Nick Cave)

Das eingangs erwähnte „Elephant Tears“ gehört zu den eindrucksvollsten Stücken von „Carnage“. Schwere Rhythmen dominieren zunächst das Klangbild, es wirkt wie flirrende, schwüle Hitze, eine Art Südstaatenatmosphäre breitet sich aus. „A protester kneels on the neck of a statue / The statue says I can’t breathe / The protester says now you know how it feels / And kicks it into the sea“, heißt es in diesem Song weiter und es fällt nicht schwer zu glauben, dass sich Cave und Ellis hier mit der Tötung von George Floyd befassen – nicht jedoch, ohne den Ereignissen etwas Surreales zu verleihen. Der Song gewinnt zusätzlich dadurch, dass er auf einen Höhepunkt zusteuert, der letztlich nicht weniger ist als eine astreine Gospelnummer, mehrstimmigen Gesang inklusive. „A time is coming / A time is nigh / For the kingdom / In the sky.“

Nick Cave & Warren Ellis - White Elephant (Official Lyric Video)

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Nick Cave sagt über „Carnage“, es sei „eine brutale, aber wunderschöne Aufnahme, eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe“ und spielt dabei natürlich auf den Ausbruch der Coronapandemie an, während der das Album entstanden ist. Gerade erst hatten wir „Ghosteen“ (2019) zu verdauen, zudem spielte Nick Cave ein Solo-Konzert, ganz alleine am Klavier („Alone At Alexandra Palace“, 2020) und doch war zwischen all dem „im Lockdown in der eigenen Bude Herumgehänge“ immer noch genug Schaffenskraft übrig, um mit Kollegen Ellis ein ganzes Album einzuspielen, das wie ein Destillat des bisherigen Schaffens der Band wirkt. Von elektronischen Spielereien über soundtrackartige Flächen bis zu wunderschönen Klavierballaden ist vieles dabei, was man am Tun des Duos zu schätzen gelernt hat. „Die Arbeit an Carnage war eine komprimierte Phase intensivster Kreativität“, erklärt Ellis, „denn es dauerte gerade mal zweieinhalb Tage, bis diese acht Songs in irgendeiner Form standen. Dann erst sagten wir uns: ‘Ach komm, lass uns doch ein Album machen!’ Das alles war also nicht sonderlich geplant.“

„Die Arbeit an „Carnage“ war eine komprimierte Phase intensivster Kreativität“ (Warren Ellis)

Der Grundstein für „Carnage“ wurde bereits in den ersten Wochen des Lockdowns gelegt; einer Zeit also, in der Nick Cave viel Zeit damit verbrachte „zu lesen, regelrecht zwanghaft zu schreiben und einfach nur auf meinem Balkon zu sitzen und über die Dinge nachzudenken. Das Album ist dann einfach so vom Himmel gefallen. Es war ein Geschenk.“ Da sage noch mal einer, dass diese elendige Pandemie, die so vielen Musik- und Kulturschaffenden aus verschiedenen Gründen in den Hintern getreten hat, nicht doch noch zu etwas von Nutzen gewesen wäre. Sicherlich mag es ein schwacher Trost sein, dass unter anderem Umständen „Carnage“ nicht der wunderbare Begleiter gegen den Lockdown-Blues geworden wäre (oder überhaupt irgendwas geworden wäre), das es letztlich geworden ist, aber der Lockdown ist nun einmal passiert und mit ihm dieses Album. Und wenn ich persönlich in den vergangenen Monaten nicht allzu viele Gründe hatte, dankbar zu sein – dieses Album ist durchaus einer davon.

Interessierte Hörer*innen wird „Carnage“ vielleicht direkt schon mit dem etwas sperrigen, gleichwohl elektrisch pulsierenden „Hand of God“ für sich einnehmen, das wirkt, als wollte es eine Brücke zu dem eher introvertierten „Ghosteen“ schlagen. Es flirrt, es pulsiert, es steckt voller Details und es möchte gewiss nicht als der Song in die Geschichte des Duos eingehen, der Hörer*innen einlullt. Gleichwohl demonstrieren Cave & Ellis hier ihre Lust am Ungewöhnlichen, ihre Freude an Experimenten, ihr Faible dafür herauszufinden, wie weit sich ein Song verbiegen lässt, um noch als Song wahrgenommen zu werden. Religiöse Motive durchziehen „Hand of God“, doch wie so oft lässt sich Musikliterat nicht vollständig in die Karten seiner kryptischen Texte schauen.

„Old Times“ ist ähnlich unbequem und sperrig und wirkt mit all seinen vielen Fragmenten ein wenig so als betrachtete man fotografische Momentaufnahmen von Großstadtleben im Daumenkinoformat. Vieles blitzt nur kurz auf und verschwindet genauso plötzlich wie es gekommen ist – sei es die kreischende Gitarre, das schwere Klavier oder die luftigen, höchst zarten elektronischen Spielereien im Hintergrund. Kurz muss ich an so was wie „Morning Papers“ von Vangelis’ Album „The City“, denken – nur dass „Old Times“ viel unruhiger daherkommt, viel getriebener. „Search and search and some day find / That wherever you are, darling, I’m not that far behind“ heißt es in den letzten beiden Zeilen dieses Songs und verdeutlicht die musikalische Ruhelosigkeit auch noch mal in gesproch-gesungener Form.

Nick Cave & Warren Ellis - Albuquerque (Official Lyric Video)

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Mich persönlich hat diese Pandemie den Job gekostet, aber ich will mich nicht beklagen. Andere Leute hat es deutlich schwerer getroffen. Bisher sind meine Familie und ich gesundheitlich soweit gut durch die Pandemie gekommen. Erkrankungen, die es gab, hatten einen sehr milden Verlauf und bisher sieht es so aus, als wären die in der Familie Betroffenen auch von Long Covid verschont geblieben. Und doch gibt es natürlich auch bei mir eine Sache, der ich hinterher trauere: Es ist das Reisen. Es fehlt mir wirklich sehr, die Welt zu sehen und zu bestaunen. Aber auch ohne Pandemie um mich herum gehört Fernweh zu den Dingen, die in meinem Leben ziemlich präsent sind. „Albuquerque“ fängt dieses Gefühl, diese Sehnsucht danach, die Welt zu sehen und zu erleben, auf eine Weise ein, die mir manches Mal das Wasser in den Augen zusammenlaufen lässt. „This morning crawls towards us, darling / With a memory in its paws / A child swims between two boats / Her mother waving from the shore, darling / And we won’t get to Amsterdam / Or that lake in Africa, darling / And we won’t get to anywhere / Anytime this year, darling“ singt Nick Cave in dieser gefühlvollen und behutsam instrumentierten Klavierballade. Jau, auch in diesem Jahr wird es aller Voraussicht nach wieder nichts damit, die Welt zu sehen. „And we won’t get to anywhere, baby“ heißt es gegen Ende, „Unless you take me there“. Und da passiert sie wieder, diese Magie, die nur Musik zu wirken vermag. Während Cave also in diesem Lied darüber sinniert, dass er es auch nicht nach Albuquerque schaffen wird, kann ich die Augen schließen und mich zu den Orten träumen, die ich gerne sehen möchte. Oder noch einmal besuchen. Für die Dauer von 3 Minuten und 57 Sekunden bin dort, wo auch immer das dann jeweils gerade sein mag. Das ist mehr Urlaub, als der Pandemie-Alltag meistens zulässt. Und dafür bin ich dankbar.

„Das Album ist dann einfach so vom Himmel gefallen. Es war ein Geschenk“ (Nick Cave)

Mit dem ebenfalls sehr von Klavier und synthetischen Streichern geprägten „Balcony Man“ beenden Cave und Ellis dieses leider nur acht Titel umfassende „Lockdown-Album“ und hinterlassen der von dem Virus geplagten Welt ein Album, das eine vierzigminütige Auszeit von all dem Quatsch um uns herum ermöglicht. Musikalisch und inhaltlich auf höchstem Niveau. Wie schon bei „Ghosteen“ verfolgte das Duo hier einen Ansatz, der weniger auf klassischem Songwriting basiert als viel mehr eine auf Improvisation basierende Herangehensweise verfolgt. Ausgangspunkt waren der Überlieferung nach Textideen, die Cave zuvor über einen längeren Zeitraum verfasst habe und die meist von wenigen Kerngedanken und -themen, einzelnen Bildern und Metaphern geprägt waren. Die eigentlichen Songs indes entstanden später in ausgedehnten Improvisations-Sessions im Studio, über die Warren Ellis sagt, dass „da zwei Menschen im Raum sitzen und sich etwas trauen, indem sie erst mal einfach passieren lassen, was gerade passiert“. Schön, dass sie sich getraut haben, etwas passieren zu lassen. Dass die Überraschung dabei ein zentrales Element ist, dürfte kaum verwundern. Und so kam es, dass beispielsweise „Shattered Ground“ bereits nach dem ersten Versuch im Kasten war, während andere Songs erst durch viel Experimentieren, Machen und Tun ihren wahren Charakter zu erkennen gegeben haben sollen. „Carnage“, so berichtet es Ellis, habe erst während der Mixing-Phase den finalen Zustand erreicht. Diese Herangehensweise hat für acht bemerkenswerte Songs eines bemerkenswerten Albums gesorgt und man darf mehr als gespannt sein, wohin die Reise bei dem Duo Cave & Ellis noch gehen wird. Nach „Carnage“ habe ich in der Tat ein bisschen das Gefühl, das Beste kommt vielleicht erst noch – und das, obwohl das Schaffen von Nick Cave und Warren Ellis bislang wirklich viele hochkarätige Highlights umfasst.

„Carnage“ erschien als digitales Album bereits im Februar (die physische Variante folgt am 18. Juni 2021). Völlig überraschend und irgendwie auch ohne große Ankündigung. Ganz plötzlich, inmitten dieses nicht enden wollenden Corona-Winters kamen Nick Cave und Warren Ellis mit diesem Kleinod eines Albums um die Ecke, das trotz des geringen Umfangs so viel Möglichkeiten bietet, sich von der Grütze, die um uns herum passiert, ablenken zu lassen. Tatsächlich hatte ich diese Spazierrunden, die mich, von leichten Variationen abgesehen, im Prinzip immer die gleiche Route entlang führen, auch dafür vorgesehen, mir die Promos anzuhören, die mich so erreichen. Solange um den Block laufen, bis ein Album wenigstens einmal komplett durchgehört ist. Was soll ich sagen … bis auf wenige Aufnahmen ist es bisher bei dem Vorsatz geblieben. Letztlich lande ich immer und immer wieder bei „Carnage“, wenn ich meine Runden drehe. Auch in den eigenen vier Wänden, wenn ich eine kleine Auszeit brauche, lande ich immer wieder bei „Carnage“. Es trifft einen Nerv. Und ich kann mir vorstellen, dass es in dieser Zeit für viele Hörer*innen exakt das ist, was Cave angedeutet hatte: ein vom Himmel gefallenes Geschenk.

Cover des Albums Carnage von Nick Cave und Warren Ellis.
Erscheinungsdatum
18. Juni 2021
Band / Künstler*in
Nick Cave & Warren Ellis
Album
Carnage
Label
Goliath Records
Unsere Wertung
4.2
Fazit
Letztlich lande ich immer und immer wieder bei „Carnage“, wenn ich meine Runden drehe. Auch in den eigenen vier Wänden, wenn ich eine kleine Auszeit brauche, lande ich immer wieder bei „Carnage“. Es trifft einen Nerv. Und ich kann mir vorstellen, dass es in dieser Zeit für viele Hörer*innen exakt das ist, was Cave angedeutet hatte: ein vom Himmel gefallenes Geschenk.
Pro
Der auf Improvisation basierende Ansatz funktioniert hervorragend
Cave und Ellis haben die Freude an Experimenten trotz Pandemie nicht verloren
Kontra
Leider mit nur acht Songs ein viel zu kurzes Vergnügen
4.2
Wertung
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