Foto von Adrian Hates. Er steht vor einem alten Gemäuer und lehnt sich an eine Wand. Er trägt eine schwarze Lederjacke, hat das lange Haar zum Zopf gebunden und blickt direkt in die Kamera.

Musikvorstellung: Diary of Dreams – Hell in Eden

Foto: Frank Machalowski

Eden. Ein Begriff für so vieles, am meisten bekannt wohl aber für das Paradies, aus dem sich der Mensch dereinst hat verjagen lassen. Selbstverschuldet, klar. Die Wikipedia listet für den Begriff so viele Deutungen auf, dass man vermutlich ein mehr als abendfüllendes Programm daraus machen könnte, sie alle herunterzurasseln. Was aber, wenn Eden gar kein Ort ist, sondern eine Maschine? Diese Aussage hauen Diary of Dreams zu ihrem jüngsten Album im Booklet raus. Ist dieses Eden, diese Maschine, dann vielleicht so ein weltumspannendes (soziales) Netzwerk, in dem so viele Menschen hängen? Ein Ort, in dem sich jeder die Filterblase suchen kann, die der eigenen Einstellung am nächsten kommt? Wo man rund um die Uhr Träume, gute wie schlechte, vorgelebt bekommen kann? Und was passiert eigentlich, wenn diese Filterblase Risse bekommt? Wenn Gedanken, Strömungen und Einflüsse Einzug halten, die nicht schön sind? Käme das nicht der Nascherei am Baum der Erkenntnis gleich? Und: wenn das Weltbild zu wackeln beginnt, wäre das nicht „Hell in Eden“? Die Begriffsdefinition bzw. -interpretation bei Wikipedia muss in jedem Fall um einen Eintrag ergänzt werden.

In dem besagten Text heißt es weiter, dass die Maschine, dereinst erbaut aus Holz und Stahl, geschaffen wurde, um die Träume der Menschen zu behüten. Und dass sie bis heute unser Bewusstsein spiegeln würde. Damit wären wir von dem kollektiven Bewusstsein, dass sich jedem von uns auf ganz eigene Weise in dem sozialen Netzwerk seiner Wahl, offenbart, nicht mehr so weit entfernt. Weiter heißt es: Doch je älter sie wird und je mehr sie erlebt und erleidet, desto dunkler und größer wird ihr Schatten – der Ursprung unserer Albträume. Das könnt Ihr deuten, wie Ihr wollt, ich habe da auch meine Theorie dazu, und sie dreht sich sehr um Hasskommentare in diesem Internet und Ähnliches. Aber wie immer bei Diary of Dreams: absolute Wahrheiten gibt es nicht und wenn, dann kennt sie allenfalls Adrian Hates. Aber genug der Gedankenspielereien, werfen wir einen Blick auf die Musik.

Mit „Made in Shame“ eröffnet die Band ihr nunmehr 13. reguläres Studio-Album (Best-Of-Zusammenstellungen wie die beiden „Dream Collector“ oder das Akustik-Album „The Anatomy of Silence“ nicht mitgezählt). Ziemlich wuchtig und brachial wirkt das, was da aus den Boxen scheppert. Wie ein Raubtier schleicht sich der Song in den Strophen an, nur um sich dann im Refrain auf die ahnungslosen Hörer*innen zu stürzen. Und noch während sich der Song entlädt, bekommt man schon direkt zum Start eine leise Ahnung davon, was sich im Verlauf der insgesamt 13 Tracks bestätigen soll: auf keinem Album vorher ist es den Tagebuchträumern derart gut gelungen, die ganz eigene Symbiose aus elektronischen und herkömmlichen Instrumenten zu vollziehen. Beinahe scheint es so, als seien diverse Alben vorher – die für sich betrachtet auch schon gut waren – nur eine Aufwärmübung gewesen; als hätten Diary Of Dreams die vorherigen Alben gebraucht, um den eigenen Stil zu perfektionieren.

Wuchtig und epochal sind Schlagworte, die mir auch durch den Kopf gehen beim nachfolgenden Stück „Epicon“. Die Choreffekte lassen mich an Carl Orffs „Carmina Burana“ denken und ich könnte mir vorstellen, dass diese Assoziation nicht ganz ungewollt ist. Schließlich gilt Orffs Werk doch als eines der populärsten Chorwerke des 20. Jahrhunderts. Aber nicht nur Orff kommt mir in den Sinn, sondern auch das Schaffen von Diary of Dreams selbst. Schon beim Opener machte sich ein unbewusstes Gefühl der Vertrautheit breit. So als würde man nach langer Zeit der Abwesenheit wieder in das frühere Elternhaus zurückkehren oder in die Stadt, in der man aufgewachsen ist, der man dann aber – aus welchen Gründen auch immer – den Rücken gekehrt hat. Dinge haben sich verändert, andere sind aber immer noch an ihrem Platz. „Epicon“ ist das erste, aber nicht letzte Stück auf „Hell in Eden“, das mich an die Schaffensphase der Band rund um „Nigredo“, „Giftraum“ und „MenschFeind“ erinnert. Immer wieder funkeln in diesem noch brachialeren Song – und auch später noch – Töne durch, wie Sterne am Nachthimmel, die mich an diese Zeit erinnern, mich dorthin zurückversetzen. Es ist Diary of Dreams dabei übrigens hoch anzurechnen, dass sie sich auf eine Phase zurückbesinnen, die ich zu ihren fruchtbarsten und besten zähle, ohne dass sie sich stumpf wiederholen oder kopieren. Auch das treibende, tanzbare „decipher me“ hätte gut in jener Zeit stattfinden können, es erinnert in vielen Teilen sehr daran – glänzt aber gleichzeitig durch vieles, was neu, frisch und unverbraucht klingt. Eben wie nach Jahren nach Hause zurückkehren. Manches ist geblieben, anderes hat sich verändert. Den deutlichsten Anknüpfungspunkt an das erwähnte Schaffen vergangener Tage findet sich übrigens im Stück „Listen and Scream“. Was für ein Brett! In meinen Ohren der legitime Erbe von „MenschFeind“. Nach locker 12 Jahren ja durchaus auch mal fällig, wa? Diese Kontraste, die Adrian hier zeichnet, sind bemerkenswert. Mit stoischer Gelassenheit intoniert er mit seiner dunklen Stimme die Strophen, nur um dann im Refrain in feinstes Gebrüll auszubrechen. Totale Eskalation und, das muss man schlicht so anerkennen, eine der stärksten Nummern der Band seit Jahren! Wer dachte, Diary Of Dreams hätten sich damit abgefunden, lediglich dunklen Gefälligkeits-Pop zu produzieren, sieht sich hier eines Besseren belehrt.

Aber es gibt noch andere Punkte, in denen die Band ein wenig an Dinge anknüpft, die schon ein paar Tage zurückliegen. Da ist etwa das wunderbare, wenngleich unheimlich düstere „Hiding Rivers“, das von Cello und Violine getragen wird. Diese Kloß-im-Hals-Nummer der Sonderklasse erinnert doch sehr an die Stücke des sensationellen „The Anatomy Of Silence“, wo die Tagebuchträumer das erste Mal im großen Stil gezeigt haben, wie ihre Songs wirken können, wenn sie sich nicht der Elektronik und/oder der schrammelnden Gitarren verschreiben. Schwermut und Wehmut wurden wohl schon eine ganze Weile nicht mehr so formvollendet in Töne gegossen, auch von Diary of Dreams selbst nicht. „Bird Of Passage“ und „Sister Sin“ versetzen mich noch weiter zurück, erinnern sie mich doch an die guten alten Zeiten von „One of 18 Angels“ und „Freak Perfume“. Aber um das noch mal ganz deutlich zu sagen: es sind immer nur kleine Spurenelemente, die dieses nur schwer zu fassende Gefühl der Vertrautheit wecken. Ein bestimmter Ton hier, Adrians Vortragsweise da oder bestimmte Instrumentierung an anderer Stelle. Alles nur kleine Tupfer, die Kenner aber in Verzückung versetzen dürften.

Natürlich betritt die Band insgesamt gesehen auf diesem Album kein komplettes Neuland. Weder erwartet man das, noch kann man das ernsthaft wollen. Tatsächlich ist „Hell in Eden“ mehr so etwas wie die auf Albumlänge destillierte Quintessenz ihres bisherigen Schaffens und gleichzeitig ein frisches, neues Kapitel im Tagebuch der Träume.

Erstaunlicherweise berührt mich der einzige in Deutsch gesungene Song dieses Albums, das Titelstück, gar nicht. Dabei war ich früher immer ein großer Fan der Balladen von Diary Of Dreams. Das allerdings soll keine Wertung sein; ich bin erfreulicherweise derzeit einfach nicht in einer Situation, in der ich mich von den ergreifenden Tönen eines Songs wie diesem einhüllen und wärmen lassen müsste. Wer aber Trost sucht, findet ihn hier ganz gewiss.

Neben den vielen kleinen Reminiszenzen macht auch die Produktion des Albums eine Menge Spaß. Klanglich so vielfältig, wie es innerhalb des selbst gesteckten Rahmens möglich ist, herausragend (weil gleichzeitig druckvoll und dynamisch) produziert wie so oft von Daniel Myer ist es auch der Gesang Adrians, der hier Eindruck schindet. In einem Facebook-Posting sagte er etwas von 150 Stunden Gesangsaufnahmen. Das erscheint mir wahnsinnig viel. In jedem Fall war das eine Mühe, die sich gelohnt hat. Was auch nur konsequent ist; bei einem Album, das sich so um musikalische Abwechslung bemüht, sollte der Gesang nicht hinten anstehen. Und das tut er nicht. Ob Adrian spricht, singt oder brüllt – er tut es alles mit einer länger nicht mehr gehörten Intensität. Neben der reinen musikalischen Qualität des Albums sind es aber auch wie in all den Jahren zuvor die Texte, die begeistern. Wie so oft scheinen sie so einfach zu verstehen, bieten aber noch immer so viel Raum für eigene Interpretationen. Wie anfangs erwähnt: Es ist auf „Hell in Eden“ so, wie es immer wahr: absolute Wahrheiten gibt es nicht. Es gibt die Gedanken von Adrian Hates, die er hatte, als er die Texte verfasste. Und es gibt Euch, die Hörenden, die Ihr sie mit Euren ganz eigenen Empfindungen verknüpft.

Beim letzten Album „Grau im Licht“ und auch bei dessen Vorgänger „Elegies in Darkness“ habe ich rückblickend das Gefühl, seinerzeit wären Diary of Dreams ganz zufrieden damit gewesen, den Status quo zu erhalten. Ein paar Gassenhauer auf ein Album zimmern, damit die Fans neues Material haben und via Konzerten Geld verdient werden kann. Bei „Hell in Eden“ aber hat man sich scheinbar diesen Status quo angeschaut und festgestellt, dass „weiter so“ (genau wie im richtigen Leben) nicht mehr ausreicht. Für „Hell in Eden“ dürfen sich die Tagebuchträumer guten Gewissens auf die Schulter klopfen. Sie haben ihr bestes Album seit Jahren gemacht. Eines, das an alte Tugenden anknüpft und somit vielleicht den Weg ebnet für ein ganz neues Kapitel im Diary of Dreams? Aber wer weiß das schon. Es bleibt jedenfalls spannend. Ich hoffe, Adrian Hates und seine Band sich dessen bewusst, was für ein monumentales Werk sie hier wirklich geschaffen haben.

Ok, ein Geständnis an dieser Stelle: „Hell in Eden“ hat es mir zunächst nicht leicht gemacht. Zunächst einmal habe ich die großen Hits vermisst. Was total dämlich ist, denn das Album hat derer so einige – sie biedern sich meist aber nur nicht so direkt an, sondern wollen erobert werden. Danach hatte ich das Gefühl, dass mich Diary of Dreams irgendwie nicht mehr abholen würden. Ich dachte immer, ja okay, das ist schon gut, aber etwas fehlt. Ist das womöglich nicht mehr meins? Das hat mich tatsächlich etwas betroffen gemacht, schließlich höre ich diese Band schon seit ungefähr immer und verknüpfe so manche Erinnerung mit ihren Songs und Alben. Gute wie schlechte. Ich habe diese Review auch einige Zeit vor mir hergeschoben, weil ich mir dachte: wenn ich da jetzt aus dem ersten Impuls heraus schreibe, dann wird das nix. Und das wäre uncool, schließlich war mir die Güte dieses Albums die ganze Zeit unbewusst klar. Sie hatte sich nur versteckt. Irgendwann aber wurde ganz plötzlich der Schalter in meinem Kopf umgelegt. In dem Moment nämlich, als mir aufging, dass Diary of Dreams den Weg in ihre Zukunft damit ebenen, dass sie in vielen kleinen Details Dinge aus der Vergangen zurückholen. Und damit hatten sie mich dann. „Nigredo“ ist bis heute mein liebstes Album der Tagebuchträumer. Aufgrund des Gefühls, dass „Hell in Eden“ die DNA dieses Albums (und die der anderen genannten) in sich trägt, gleichzeitig aber eben nicht auf der Stelle tritt, schiebt es sich ganz dicht daran heran. Für diese Erkenntnis benötigte ich Zeit und jetzt, wo ich diese Zeilen tippe, bin ich froh, dass ich sie mir genommen habe. Darkwave war in diesem Jahr nicht besser und die Chancen stehen gut, dass es auch so bleiben wird. Ich las verschiedentlich Meinungen dieses Album betreffend, in denen vom „Album des Jahres“ die Rede war. Ich verstehe, warum. Für Adrian Hates, so heißt es, sei es ein Lieblingsalbum. Auch das verstehe ich gut. Es ist groß, es ist mächtig, es ist gewaltig, brachial, monumental, zerbrechlich, laut und leise, oder kurz: Es ist ganz wunderbar!

Cover des Albums Hell in Eden von Diary of Dreams.
Erscheinungsdatum
6. Oktober 2017
Band / Künstler*in
Diary of Dreams
Album
Hell in Eden
Label
Accession Records
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Darkwave war in diesem Jahr nicht besser und die Chancen stehen gut, dass es auch so bleiben wird. Ich las verschiedentlich Meinungen dieses Album betreffend, in denen vom „Album des Jahres“ die Rede war. Ich verstehe, warum. Für Adrian Hates, so heißt es, sei es ein Lieblingsalbum. Auch das verstehe ich gut. Es ist groß, es ist mächtig, es ist gewaltig, brachial, monumental, zerbrechlich, laut und leise, oder kurz: Es ist ganz wunderbar!
Pro
Es trägt die DNA früherer Alben wie "Nigredo" in sich und ist schon alleine deshalb ein gelungenes Album
Adrian Hates spricht hier von einem Lieblingsalbum und man ist geneigt, ihm zu folgen
Laut, brachial und ziemlich gewaltig - das meiste Diary of Dreams-Album bisher überhaupt!
Kontra
4.4
Wertung
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