Ein Portrait von System Syns Clint Carney. Er hält etwas in seinen Armen vor der Brust verschränkt, das Gesicht ist komplett in grünes und blaues Licht getaucht.

Musikvorstellung: System Syn – Once Upon A Second Act

Quelle: System Syn

Ein Album via Crowdfunding zu finanzieren, ist aus mehrerlei Hinsicht eine gute Sache für Musikschaffende. Ist das gesetzte Kampagnenziel erreicht, hat man die finanzielle Sicherheit, das nächste Album nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen umsetzen zu können. Weiterhin ist die Kalkulation entsprechend einfacher. Und nicht zuletzt ist der kreative Entstehungsprozess völlig unbeeinträchtigt von dem, was ein im Hintergrund agierendes Label womöglich an Vorstellungen und/oder Erwartungen hat. Schließlich übernimmt das Label für gewöhnlich die Vertriebs- und Werbearbeit inklusive der Kosten und möchte sicherstellen, dass das investierte Geld auch entsprechend wieder reingeholt wird. Mit Gewinn, versteht sich.

Es überrascht daher nicht, dass sich immer öfter immer mehr vor allem Nicht-Mainstream-Künstler*innen dafür entscheiden, ein Album durch Fanfinanzierung zu realisieren. Zumal dies auch die Kommunikation mit den Fans fördert und die Bindung selbiger an das eigene Tun verstärkt. Heute muss niemand mehr zwingend bei einem Label unter Vertrag sein, um sein Album an die Musikhörenden zu verbimmeln. Mit anderen Worten ist Crowdfunding so etwas wie die praktische Umsetzung des Sprichworts: Wenn du möchtest, dass etwas gut wird – mach es selbst! Auch Filmemacher, Künstler und Musiker Clint Carney hat für das jüngste Album seines Düster-Electro-Projekts System Syn gewissermaßen diesen Weg gewählt und veröffentlicht „Once Upon A Second Act“ zu 100 % unabhängig. Sprich: ohne Label, ohne finanzielle Unterstützung. Nur er allein. Das Album, so sagt er, wird entweder ein Erfolg oder ein Fehlschlag. Das hängt allein von den Fans ab. Daher war es sein Anspruch, das bisher beste System Syn-Album zu schaffen. Lasst uns mal herausfinden, ob ihm das geglückt ist.

Out of Line und Dependent Records versuchten, System Syn in Deutschland zu etablieren

Genauer beurteilen kann das wohl nur Clint Carney, wenn er die Auswertungen der Streaming-Dienste abruft, die ihm gewiss sagen können, woher seine Hörerschaft kommt. Mein Bauchgefühl aber sagt mir, dass die Zahl der (aktiven) System Syn-Hörenden in Deutschland eher überschaubar sein dürfte. In meiner persönlichen Filterblase kenne ich zwar einige, die auf der Facebook-Seite den Gefällt mir-Button angeklickt haben, an musikalische Fachsimpelei über diesen oder jenen Song bzw. ein bestimmtes Album des Projekts kann ich mich trotzdem nicht erinnern. Es ist mir allerdings nicht klar, warum das so ist. Warum System Syn nie zu der großen Nummer geworden ist, die es meines Erachtens verdient hätte zu sein. Schließlich war es zunächst Out of Line, die versuchten, Carneys Projekt in Deutschland zu etablieren. Das war 2004 mit dem Album „Premeditated“. Carneys Diskografie hatte zu dem Zeitpunkt schon fünf Alben vorzuweisen. Und es klingelt ja oft in der Kasse, wenn Out of Line etwas anfasst.

Im April 2010 versuchte es dann Dependent Records erneut mit der Veröffentlichung des Albums „Strangers“. Ein Album, das ich persönlich auch heute noch sehr feiere. Vielleicht liegt es daran, dass System Syn auf deutschen Bühnen nur sporadisch zu sehen ist und somit einfach nicht so viel Aufmerksamkeit erregen konnte, wie beispielsweise der x.te Agonoize-Klon. Vielleicht auch daran, dass amerikanischer (speziell kalifornischer) Dark Electro eben doch anders klingt als europäischer/deutscher. Auch wenn die Zutaten oft die gleichen sind und die Gemeinsamkeiten nicht von der Hand zu weisen, so habe zumindest ich oft das Gefühl, es würde auf eine nicht zu erfassende und nicht zu erklärende Weise anders klingen. Das passiert vermutlich unterbewusst. Vorzustellen, dass das Leben in Los Angeles ein Album anders klingen lässt, als wenn man im Keller eines Reihenhauses in Wanne-Eickel hockt, fällt mir jedenfalls nicht schwer.

So, nach diesem kurzen Exkurs widmen wir uns nun also „Once Upon A Second Act“. Der Globalisierung sowie dem Siegeszug von Streaming-Diensten und digitalen Musikshops wie Apple Music oder Bandcamp ist es zu verdanken, dass Musikschaffende heute theoretisch weltweit ihr Publikum erreichen können. Wenn wir zurückdenken an „Premeditated“ oder auch „ Strangers“ – hätten sich nicht Out of Line bzw. Dependent entschieden, diese Alben in Deutschland verfügbar zu machen, hätten wir System Syn damals vermutlich gar nicht kennengelernt. Unter Umständen hätten wir mal in einem Musikmagazin (diese Dinge, die zu jener Zeit vornehmlich in Papierform erschienen sind) etwas darüber gelesen, weil durch einen glücklichen Zufall mal ein Wort darüber verloren worden wäre, aber die Musik seinerzeit zu konsumieren? Puh, das wäre schwierig geworden! Aber heute ist es ja, wie zuvor erwähnt, problemlos möglich. Und ganz ehrlich, Freunde – wer sich auch nur im Ansatz für elektronische Düstermucke interessiert, sollte in diesem Fall unbedingt konsumieren. Über Bandcamp, über Spotify, über Apple Music oder wo auch immer Clint Carney sein neues Album sonst noch raushauen wird. Er ist angetreten mit dem Anspruch, sein bisher bestes Album zu machen.

Ist ihm gelungen, so viel kann ich schon mal sagen.

Angetreten mit dem Anspruch, das beste Album bisher zu machen – und das ohne Label im Hintergrund

„The Wreckage“ ist der Einstieg in das Album und klingt so, wie uns Clint Carney vor sieben Jahren mit dem bis dahin letzten Album „No Sky To Fall“ zurückgelassen hat. Bisschen knarziger, knüppeltrockene Electro-Mucke mit klarer Fokussierung auf Melodie, Texte und Gesang. Erfreulicherweise kommt System Syn auch im Jahre 2020 noch gut zurecht, ohne die Stimme zu verfremden. Bei Dark Electro-Bands keine Selbstverständlichkeit! Aus irgendeinem Grunde fühle ich mich an „The Skeleton Of A Heart“ erinnert. Apropos: Diese Nummer war auf dem 2008er-Album „End“ zu finden, schon damals diente ein Herz als Artwork für das Cover. 2020 ist das wieder so, nur dass es in diesem Fall ein mechanisches Herz ist, das von Jim Bonner geschaffen wurde, basierend auf einem Gemälde von Mike Haffenden. Scheinbar schließt Clint Carney hier den ein oder anderen Kreis.

Der typische Sound von System Syn, den Fans über die Jahre kennen und schätzen gelernt haben – er bekommt auf „Once Upon A Second Act“ das bisher größte Upgrade spendiert. In Sachen Produktion und Klangqualität, aber auch hinsichtlich der Abwechslung. Das neue Album wirkt wie ein Streifzug durch die Jahre bis zurück ins Jahr 1997, dem Gründungsjahr von System Syn, allerdings produktionstechnisch aufgemotzt für das gerade angebrochene Jahrzehnt. Ohne dabei überproduziert zu klingen! „Promise“ beispielsweise, eine ziemlich ruhige, eher schwere Ballade über Finden und Verlieren, lässt mich mit seinem an Regentropfen erinnernden Synthie-Spielereien an „Premeditated“ vom gleichnamigen Album denken. Der mehrstimmige Refrain wiederum verbreitet beinahe so etwas wie Gospel-Stimmung. Nur eben ohne die Fröhlichkeit, die Gospels oftmals innewohnt.

Anderes Beispiel: „King Of Empty“ groovt so cool und lässig vor sich hin, dass sich damit sicher bequem Tanzflächen befüllen ließen – wenn man denn gerade irgendwo tanzen gehen könnte. Dass die Nummer schwer nach Imperative Reaction klingt, ist sicher kein Zufall. Schließlich stammt das Mastering des neuen Albums von Ted Phelps (Imperative Reaction), zudem hat der man bei diversen Songs auch zusätzliche Programmierungen geliefert. Ein Blick ins Booklet verrät: Jo, auch bei diesem hier.

Tanzflächenfüller und Melancholie-Hammer

„We Had Time“ ist ein Melancholie-Hammer und meines Erachtens eines der stärksten Lieder, die je den kreativen Kopf von Clint Carney verlassen haben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kippt auch irgendwie die Stimmung und man meint eine Idee davon zu bekommen, was der Mann hier künstlerisch umsetzt. Zunächst wie flirrende Hitze klingt die musikalische Gestaltung, erinnert an die schier endlosen Sommertage in der Jugend, wo man mit damaligen besten Freunden große Pläne machte, wie man die Welt im Sturm zu erobern gedachte. The gods were laughing at us / In all our innocence / And every passing year / Revealed our ignorance. We had time, singt er hier und bringt mit dieser (be-)drückenden, schwermütigen Nummer so unfassbar viele Erinnerungen, Träume und Hoffnungen zurück, dass ich sie unmöglich alle hier aufschreiben könnte. Hat dieses Lied das Zeug dazu, einem die Tränen in die Augen zu treiben? Definitiv! Neulich las ich einen schönen Spruch, den man als Motto für das eigene Leben nehmen kann: Wenn man die Welt verlassen muss, sollte man mit Erinnerungen gehen und nicht mit Träumen. Das macht dieser Knüller eines Songs ziemlich eindringlich bewusst.

Schwermütig wird es auch in „Weightless“, einer Ballade, die zunächst vom Klavier dominiert wird, ehe sich elektronische Flächen dazugesellen. Wenn man möchte, kann man sicher die Aufarbeitung des Themas Alzheimer-Erkrankung, der verzweifelte Kampf Betroffener gegen das Vergessen (und damit einhergehend die Angst, in Vergessenheit zu geraten, ehe die Krankheit zu mächtig geworden ist) in die Texte interpretieren, wenn Clint singt: I wont remember what is true / synapses don’t fire like they used to. Überhaupt bieten die Texte auf diesem Album viel Raum für verschiedenste Interpretationen.

Die Krönung in Sachen Schwermut und Traurigkeit ist „Collapsing“. Wenig überraschend eine ruhige Ballade, in welche dezent im Hintergrund Gitarren gemischt wurden, die als Kontrast zum fragilen Songkonstrukt wie ein Raubtier wirken, das aufgebracht im Käfig auf- und abläuft, bereit, zuzuschlagen, sobald sich auch nur der Hauch einer Chance bietet. Es brodelt, so wie es in einem brodelt, wenn man weiß, dass etwas sehr Schreckliches passieren wird und es keine Chance gibt, diesen Albtraum zu verhindern. Collapsing / Everything / Everything / And will we wake in the morning / Or will we sleep forever / Day by day you may be brave / But every night you are afraid, heißt es dort. Das Sterben, so sagt man, besteht aus fünf Phasen. Zorn und Wut, Aggression und Widerstand kennzeichnen Phase 2 und dieses Lied erweckt, trotz aller Fragilität, hintergründig den Eindruck, als wäre hier genau diese zweite Phase musikalisch verarbeitet worden aus Sicht des Menschen, der übrig bleibt, wenn eine geliebte Person gehen musste. Womöglich noch weit vor ihrer Zeit.

Hymnischer Kloß im Hals

In „Nothing’s Wrong“ werden die manchmal nur dezent eingebunden Gitarren als ziemlich dominierendes Element den Hörenden um die Ohren geballert. Nach all den teilweise sehr düsteren, verstörenden Songs des Albums hat diese Nummer hier zumindest musikalisch etwas Hymnisches, möchte bei Konzerten sicher auch entsprechend gefeiert werden. Auch wenn der Inhalt einmal mehr das Potenzial dazu hat, einen mächtigen Kloß im Hals zu verursachen: What a strange world we’ve found ourselves in / The last time I saw you, you were ashes / Still every now and then, I forget you’re gone / Now I’m pretty good at pretending / Nothing’s wrong.

Im abschließenden, nicht weniger traurigen „The End“ fährt Clint Carney in einer Minute und 45 Sekunden noch einmal alles auf, was er an Emotionen in einen Song zu packen vermag. Wieder einmal dominiert schweres Klavierspiel, dazu gesellen sich Streicher- und Chorelemente. Und dass die restliche musikalische Gestaltung an eine Herzlungenmaschine eines Krankenhauses erinnert sowie an eine aufgezogene Uhr, die das Ablaufen der Zeit verdeutlicht, ist bestimmt kein Zufall. Spätestens mit dem letzten Ton dieses Albums macht „Once Upon A Second Act“ den Eindruck, dass musikalische Rückmeldung von System Syn gleichzeitig auch die Verabschiedung Clint Carneys von jemandem zu sein scheint. Das Herz, das als Artwork dient – es hat aufgehört zu schlagen. Das ist natürlich reine Spekulation meinerseits. Die Anordnung der Songs sowie die Inhalte legen jedoch diese Vermutung nahe.

Ich bin immer noch froh darüber, dass Dependent damals einen zweiten Versuch gestartet hat, System Syn in Deutschland zu etablieren. Wenn die nicht gewesen wären, würde ich heute vermutlich nicht mit einem entsprechenden Band-T-Shirt herumlaufen. Und vor allem würde ich vermutlich auch nicht hier sitzen und mich an diesem großartigen Album erfreuen können, das Clint Carney ab dem 26. Juni 2020 in die Welt entlassen wird. Er hatte den Anspruch, sein bestes Album zu schreiben. Und er erklärt in einem Beitrag bei Facebook, es sei sein Favorit. Ich kann in beiden Fällen nur sehr deutlich zustimmen. Natürlich weiß ich nicht, was in diesem seltsamen Jahr musikalisch noch so kommt. Die Messlatte aber im Bereich Düster-Electro wird 2020 mit „Once Upon A Second Act“ definiert. Ich bin mir sehr sicher, dass ich gerade mein Album des Jahres in diesem Bereich gehört habe. Chapeau!

Cover des Albums Once Upon A Second Act von System Syn.
Erscheinungsdatum
26. Juni 2020
Band / Künstler*in
System Syn
Album
Once Upon A Second Act
Label
-
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Er hatte den Anspruch, sein bestes Album zu schreiben. Und er erklärt in einem Beitrag bei Facebook, es sei sein Favorit. Ich kann in beiden Fällen nur sehr deutlich zustimmen. Natürlich weiß ich nicht, was in diesem seltsamen Jahr musikalisch noch so kommt. Die Messlatte aber im Bereich Düster-Electro wird 2020 mit „Once Upon A Second Act“ definiert. Ich bin mir sehr sicher, dass ich gerade mein Album des Jahres in diesem Bereich gehört habe.
Pro
Das Crowdfunding-Experiment,ein ganzes Album im Alleingang zu produzieren, ist mehr als geglückt
Bester Düsterelektro amerikanischer Schule
Abwechslungsreich, vielschichtig - je nach Stimmung und Gemüt kann man dazu entweder tanzen oder die Gedanken schweifen lassen
Kontra
4.4
Wertung
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