Ein Foto von Kovacs, deren Gesicht und ein Arm aus einem Bällebad mit weißen Bällen auftauchen.

Musikvorstellung: Kovacs – Child of Sin

Foto: Willem Wouterse

Für die heutige Musikvorstellung muss ich mal ein bisschen in der Zeit zurückgehen, genauer: ins Jahr 2015. In jenem Jahr wurde ein Album veröffentlicht, das sich so wohltuend vom damals förmlich übermächtigen Plastikpop abhob, dass es eine wahre Freude war. Vor allem: wer es hörte, hatte meist bestimmte Vorstellungen im Kopf, wie die Person am anderen Ende des Mikrofons aussehen würde. Schließlich klang diese rauchige, im besten Sinne schwarze Stimme nach Marla Glen, nach Nina Simone und heute würde man vermutlich Künstlerinnen wie Celeste mit in den Assoziationstopf werfen. Niemand hätte wohl angenommen, dass es sich der Interpretin, die so wunderbare Songs wie „My Love“ oder „Whiskey and Fun“ ins Mikrofon trällerte, um eine zierliche Niederländin handelte, noch dazu scheinbar den gleichen Coiffeur wie Sinéad O’Connor aufsuchend und vor allem: weiß. Die Rede ist von Sharon Kovacs, die damals mit ihrem Debüt „Shades Of Black“ für viel Verzücken in unserer Stube sorgte. Es folgte eine Konzerttour, die sie unter anderem nach Wolfsburg führte (wir waren damals vor Ort) und dann … habe ich Kovacs ein wenig aus den Ohren verloren, muss ich zugeben. Das 2018er-Album „Cheap Smell“ ist komplett an mir vorbeigezogen, warum auch immer. Aber wenn man einen Halt verpasst, steigt man einfach in der nächsten Station wieder mit ein. So wie heute. Seit dem 13. Januar 2013 ist Kovacs neues Album „Child of Sin“ erhältlich und somit bietet sich eine prima Gelegenheit, mal zu hören, was sich so getan hat im musikalischen Universum von Kovacs.

Auf den ersten Hör und kurz gesagt: nicht viel. Wer 2015 eingeschaltet hatte, muss sich nicht umgewöhnen. Noch immer ist das herausragendste Merkmal einer Kovacs-Veröffentlichung die faszinierende Stimme der Künstlerin. Es ertönen die ersten, von Klavier begleiteten Töne des Eröffnungsstücks „Fragile“, und schon hat Sharon Kovacs mich wieder eingefangen. Ich sehe schon wieder förmlich vor mir, wie ich mir das Album in den Abendstunden gebe, wenn ich endlich mal einen Moment der Ruhe habe, und den Projektor im Kopfkino anwerfe. Schon das Debütalbum verführte dazu, ich nehme an, das zweite Album „Cheap Smell“ stellt hier keine Ausnahme dar. Und auch inhaltlich ist Kovacs in den Jahren seit „Shades of Black“ nicht dazu übergangen, mit ihren Ansichten, Gedanken und Geschichten hinter dem Berg zu halten. „When you said you love me / You sealed it with a bruise / When you brush my lips / You always paint them blue“, wie wir es in erwähntem „Fragile“ zu hören bekommen, sind eigentlich kaum misszuverstehen. Manches Beziehungskonstrukt ist mit „toxisch“ einfach noch zu wohlwollend umschrieben.

Foto: Willem Wouterse

Die größte Überraschung des Albums dürfte wohl das Titelstück sein, das sich als ein Duett mit Till Lindemann von Rammstein entpuppt. Sharon Kovacs erzählt darüber: „Die Arbeit mit Till war ein Lernprozess für mich, ich habe mich an jedem Detail ergötzt. Die Leute scheinen wirklich an den Song, die Zusammenarbeit und die Botschaft zu glauben. Es scheint sie zu berühren, was mich unendlich erfreut“. Wie und warum es zu diesem ungewöhnlichen Duett kam, darüber schweigt sich der mit vorliegende Pressetext beharrlich aus. Vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Wenn aber Lindemann und Kovacs in diesem melodramatischen Stück, das musikalisch aus dem meist eher Retro angehauchten Korsett entfleucht, Dinge singen wie „You are not a child of love / You are a child of sin“, dann kommt man nicht umhin zu denken, dass sie hier auf bewegende Weise das Thema Kindesmissbrauch bearbeiten. Vielleicht auch unheilvolle Geschwisterliebe. Gerne würde ich mich hier irren, aber wie schon weiter oben angeführt: so fürchterlich viel Raum für Interpretationen lassen die Texte meist nicht.

„Wenn man zu viel über eine Komposition nachdenkt, geht die persönliche Relevanz und Wirkung eines Songs verloren.“

Album Nummer 3 ist in großen Teilen komplett in Eigenregie entstanden: Musik, Videos, Kostüme, Bühnenbild, ja sogar das Artwork entstammt alles dem kreativen Geist von Sharon Kovacs. „Ich habe einige Zeit gebraucht, um an den Punkt zu kommen, an dem ich jetzt bin“, sagt Sharon, „aber ich wollte ehrlich zu mir selbst sein, damit ich meine Kämpfe nicht verstecken muss“. Viele Dinge, die wir Hörenden dabei entdecken können, sind meist direkt der erste Versuch gewesen. „Bei meinem ersten Album konnte ich kaum loslassen. Bei meinem zweiten Album sind einige Details und Facetten verloren gegangen. Jetzt ist alles von Anfang an ein Volltreffer. Wenn man zu viel über eine Komposition nachdenkt, geht die persönliche Relevanz und Wirkung eines Songs verloren.“

Details gibt es aber dennoch reichlich zu entdecken auf diesem Album. So spielt „Bang Bang“ beispielsweise mit Elementen des portugisischen Tangos, „Not Scared of Giants“ hingegen kommt mit türkischen Streichern daher. Diese Vielfalt und Abwechslung bringt es mit sich, dass das verruchte Frank-Sinatra-Ratpack-Feeling des allerersten Albums hier kaum noch vorhanden ist. Tausche bestimmte musikalische Stimmung gegen ein hohes Maß musikalischer Diversität – ein Deal, bei dem Hörende in diesem Fall als Gewinner vom Platz gehen.

Kovacs - Fragile (Official Live Music Video)

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Und während ich noch darüber nachdenke, warum das Thema Kovacs im Prinzip so plötzlich von meinem Horizont verschwand, wie es vor rund acht Jahren darauf auftauchte, freue ich mich über den Umstand, wieder was von Kovacs auf die Lauscher bekommen zu haben. „Child of Sin“ ist ein beachtliches und sehr unterhaltsames drittes Album einer Künstlerin geworden, bei der die sagenhafte Stimme noch immer das größte Aushängeschild und, zumindest wohl für Ersthörende, auch größte Überraschung ist. Vielleicht bringt ihr das Debüt mit Till Lindemann endlich mal die ganz große Aufmerksamkeit. Es wäre mehr als verdient.

Cover des Albums Child of Sin von Kovacs.
Erscheinungsdatum
13. Januar 2023
Band / Künstler*in
Kovacs
Album
Child of Sin
Label
Music on CD (H'Art)
Unsere Wertung
4.2
Fazit
„Child of Sin“ ist ein beachtliches und sehr unterhaltsames drittes Album einer Künstlerin geworden, bei der die sagenhafte Stimme noch immer das größte Aushängeschild und, zumindest wohl für Ersthörende, auch größte Überraschung ist. Vielleicht bringt ihr das Debüt mit Till Lindemann endlich mal die ganz große Aufmerksamkeit. Es wäre mehr als verdient.
Pro
Nach wie vor die faszinierende, betörende und unverwechselbare Stimme von Sharon Kovacs!
Tolle, vielseite Produktion, der es an Abwechslung und somit Unterhaltungswert nicht mangelt
Spannendes Duett mit Till Lindemann von Rammstein
Kontra
Der Retro-Flair des Erstlingswerks, das ein bisschen James-Bond-Vibes versprühte, ist der Abwechslung wegen geopfert worden
4.2
Wertung
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