Ein Foto von Marina Kaye. Sie posiert in Kniebeuge, trägt eine schwarze Lackhose, ein beigefarbiges Oberteil, hat den rechten Ellenbogen auf das Knie gestellt und stützt ihren Kopf mit der rechten Hand.

Musikvorstellung: Marina Kaye – Twisted

Foto: Yann Orhan

Bereits mit 13 Jahren stand sie auf der Bühne und hat seitdem mindestens eine Doppel-Platin-Auszeichnung bekommen können: Marina Kaye, heute 21 Jahre jung und bei uns noch weitgehend unbekannt. Zumindest ich hatte die Dame bisher nicht auf dem Schirm und ich frage mich: warum eigentlich nicht? Vielleicht hat es mit der Veröffentlichungspolitik ihres Plattenlabels zu tun, die das Tun von Marina Kaye eher im eigenen Land, in Frankreich nämlich, vermarktet. Ihr Debütalbum „Fearless“ erschien 2015 via Capitol Records (Universal Music) und seit heute ist ihr zweites Album „Twisted“ erhältlich. Und das möchte ich an dieser Stelle gerne schon mal vorwegnehmen: für zeitgenössische Pop-Musik braucht man nicht über die Nordsee oder gar über den ganz großen Teich zu schielen. Es reicht (wieder einmal) ein Blick in unser Nachbarland, um fündig zu werden. Wenn dann als Bonus noch eine angenehm dunkle Seite ins Spiel kommt, sollte man vielleicht mal hinhören.

Wie eingangs erwähnt: Marina Kaye hat im Prinzip ihre Teenager-Jahre, wenn nicht auf der Bühne, so doch aber zumindest im Musikgeschäft verbracht. Angefangen hatte es mit einer Teilnahme bei „La France a un incroyable talent“, der französischen Version von „Das Supertalent“. Dort gab sie „Set Fire To The Rain“ und „Rolling in the Deep“ von Adele zum Besten. Man sollte schon über eine entsprechende Stimme verfügen, um sich an Adeles Songs zu versuchen. Offenbar hat Marina Kaye eine solche Stimme; es gelang ihr, das Publikum zu überzeugen und den Wettbewerb zu gewinnen. Anschließend suchte sie sich innerhalb von drei Jahren ein Management und eine Plattenfirma, die sie mit Universal Music zunächst gefunden hatte. Später spielte sie Konzerte im Vorprogramm oder Lindsey Sterling. Insgesamt, so heißt es, könne sie inzwischen mehr als 100 Headliner-Shows verzeichnen. Ich frage mich ja immer, was das mit so jungen Menschen macht, wenn sie im Prinzip ab Kindesalter für das unbarmherzige Showbusiness herhalten müssen. Dass das auf die ein oder andere Weise Spuren, vielleicht auch Narben, hinterlässt, davon können wir sicher ausgehen, denke ich.

„Ich singe, seit ich sehr jung war, um mich selbst zu heilen, und bald merkte ich, dass ich mit meiner Musik die Wunden anderer Menschen heilen kann.“

„Ich hätte nie wirklich gedacht, dass ich professionell Musik machen würde. Ich singe, seit ich sehr jung war, um mich selbst zu heilen, und bald merkte ich, dass ich mit meiner Musik die Wunden anderer Menschen heilen kann. Schreiben und Singen haben mich in den vergangenen 10 Jahren in Gang gehalten, und heute fühle ich mich stärker denn je in meinen Entscheidungen und der Art und Weise, wie ich Musik machen will. Dazu wurde ich geboren“, wird die Sängerin mit der gleichermaßen angenehmen wie auch kraftvollen Stimme anlässlich der Veröffentlichung von „Twisted“ zitiert. Und auch wenn Marina Kaye ein engelsgleiches Unschuldsgesicht zur Schau trägt – jedenfalls auf veröffentlichten Promo-Fotos und in Musikvideos – so ist sie scheinbar jetzt an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, an dem sie auch die dunklere Seite ihrer Persönlichkeit erforschen möchte. Die guten und die schlechten Zeiten, die sie in den letzten Jahren durchlebt hat, sollen als Inspiration gedient haben. Als Beispiel sei hier das Video zum Titelsong „Twisted“ genannt, in dem Marina Erfahrungen verarbeitet, die sie in der Praxis eines Psychiaters gesammelt hat. Sie sagt: „Der Typ glaubte mir kein Wort und sah mich an, als sei ich ein Freak. Ich wollte diese Erfahrung nutzen und den Spieß für dieses Musikvideo umdrehen. „Twisted“ ist für mich ein extrem tiefer und persönlicher Song. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass etwas an mir ein wenig seltsam ist. Ich habe das Gefühl, dass ich einige verdrehte Gedanken in meinem Kopf habe, aber das ist nicht schlimm. Tatsächlich bin ich jetzt stolz darauf, weil es mich zu dem macht, was ich bin“. Denkbar, dass sie anderen jungen Menschen Identifikations- und somit Trostpotenzial bietet, wenn sie singt: I’m not a sad girl / I’m not a bad girl / I’m sorry if you never understand it / I wish that we could go the way you planned it.

Es ist in Ordnung, auch mal nicht angepasst zu sein

Überhaupt besticht das ganze Album, neben der tollen stimmlichen Leistung von Marina und der sehr gelungenen Produktion, die zeitgemäß, aber nicht überkandidelt ist, durch den vermeintlich dunkeln Touch, der in Kontrast zu so manch anderer Pop-Sängerin steht. Bisschen wie Billie Eilish, allerdings fordert Marina ihre Stimme deutlich mehr, als es ihre Kollegin aus Los Angeles die meiste Zeit tut. Und es vermittelt das Gefühl, dass es in Ordnung ist, auch mal nicht angepasst zu sein, mal die dunklen Gefühle und Regungen zu erkunden, die stets und immer Teil einer jeden Persönlichkeit sind. Ein Beispiel: das scheinbar bittersüße „Scream“, in dem Marina mit eindringlicher und sehr kraftvoller Stimme singt: So scream louder / Coz ain’t nobody gonna hear ya / These walls are thicker than a bullet proof door / So scream louder / Coz you’re the one that done fucked up / And now you’re gonna pay the price and some more / More, more, more.

Oder „Visions“, das so lässig und entspannt vor sich hin groovt, dass ich direkt darin baden möchte. Decisions, visions, no opinions / I don’t, care for, all that / Coz I’ll be on the run / I’ll be on the run, tonight, heißt es da unter anderem und hey, diesen Wunsch, allem mal den Mittelfinger zu zeigen und durchzubrennen, erstmal völlig egal wohin, das kennen wir doch irgendwie alle, oder?

Foto: Mathew Parri Thomas

„Blind Heart“, diese Ende-einer-Beziehung-Nummer, hat eine solch schwere Blues-Gitarre vorzuweisen, dass selbst ein Keith Richard direkt wieder von einer Palme fallen könnte, und sprengt den bisherigen Pop-Rahmen des Albums. Spätestens jetzt ist klar: So wie Marina Kaye sich und ihre Persönlichkeit erforscht, so ist sie auch nicht abgeneigt davon, sich musikalische Ausreißer zu gestatten. Sich etwas zu trauen. Mit Erfolg, wie sich hören lässt. „The Whole 9“ steht in der Tradition von Pop-Songs, wie sie beispielsweise auch eine Sia in die Welt entlässt – catchy Hooklines inklusive. Überhaupt bemüht sich Marina Kaye musikalisch um Abwechslung. Ob moderner Pop im Breitbild oder Flirterei mit R&B – mit spielerischer Leichtigkeit bewegt sich die junge Dame zwischen Genres und Stilen, als würde sie das schon seit Jahrzehnten machen. Hörer*innen, denen Billie Eilish zu viel flüstert oder andere Pop-Stars zu sehr in ihrer radiofreundlichen Welt verfangen sind, denen präsentiert sich Marina Kaye als echte Alternative. Ich bin mir sicher, von der jungen Frau werden wir künftig noch öfter hören.

Ziemlich gelungen! Das war der erste, spontane Gedanke, den sich nach dem ersten Hördurchgang vor ein paar Tagen in meinem Kopf manifestierte. Gleichermaßen erstaunt war ich über die pure stimmliche Power, mit der Marina Kaye gesegnet ist – und die sich nicht hinter ihren Kolleginnen Adele oder Sia zu verstecken braucht. Hinzu kommen die gelungene Produktion, die sich ebenfalls an der musikalischen Vielfalt genannter Sängerinnen orientiert sowie der Umstand, dass Marina Kaye wirkt wie die Unschuld vom Lande, es textlich aber faustdick hinter den Ohren hat. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich glaube, dass wir es hier mit einer aufstrebenden Künstlerin zu tun haben, von der wir künftig noch mehr zu hören bekommen werden – und die das Zeug dazu hat, in der gleichen Liga zu spielen und im gleichen Atemzug genannt zu werden wie eben Adele, Billie Eilish und Co. „Twisted“ ist Marina Kayes Fahrkarte dorthin.

Cover des Albums Twisted von Marina Kaye.
Erscheinungsdatum
6. November 2020
Band / Künstler*in
Marina Kaye
Album
Twisted
Label
Labels P (PIAS)
Unsere Wertung
4.2
Fazit
Ziemlich gelungen! Das war der erste, spontane Gedanke, den sich nach dem ersten Hördurchgang vor ein paar Tagen in meinem Kopf manifestierte. Gleichermaßen erstaunt war ich über die pure stimmliche Power, mit der Marina Kaye gesegnet ist – und die sich nicht hinter ihren Kolleginnen Adele oder Sia zu verstecken braucht. Hinzu kommen die gelungene Produktion, die sich ebenfalls an der musikalischen Vielfalt genannter Sängerinnen orientiert sowie der Umstand, dass Marina Kaye wirkt wie die Unschuld vom Lande, es textlich aber faustdick hinter den Ohren hat
Pro
Wirkt wie die Unschuld vom Lande, hat es textlich aber faustdick hinter den Ohren
Stimmlich wirklich beeindruckend!
Gelungene, abwechslungsreiche Produktion
Kontra
4.2
Wertung
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