Foto von Ekat Bork. Sie trägt ein gelbes T-Shirt, hat die Hände in den Taschen ihrer Hose und spitzt den Mund wie zum Küssen.

Musikvorstellung: Ekat Bork – EKAT.

Foto: Ekat Bork

Es gibt immer wieder Dinge, die völlig unvermittelt auf meinem Radar erscheinen und die dafür sorgen, dass ich mich ein wenig dumm fühle. So habe ich nämlich kürzlich feststellen müssen, dass ich im Prinzip nur wenig über Sibirien weiß. Sicherlich, danach gefragt fallen mir durchaus ein paar ganz grobe Details ein, wie dass Sibirien locker Dreiviertel von Russlands Fläche ausmacht, dass es dort Tundra gibt und den Baikalsee, einen der größten, wenn nicht sogar den größten (in jedem Fall aber: tiefsten) See der Welt, zusätzlich ganz viel Landschaft von schroffer Schönheit und dass wir in Sibirien die Stadt Nowosobirsk besuchen können, drittgrößte Stadt Russlands, die ihre Gründung nur dem Bau einer Brücke für die Transsibirische Eisenbahn verdankt und heute quasi das kulturelle Zentrum Sibiriens ist. Und damit nähern wir uns dem Knackpunkt: über Sibiriens (oder gar Russlands) Kultur weiß ich im Prinzip wenig bis nichts, vor allem und ganz besonders, wenn es um aktuelle Musik geht. Ich erinnere mich noch dunkel daran, in einem früheren Leben mal über die Synth-Popper Tesla Boy aus Moskau und die Dark-Waver Otto Dix geschrieben zu haben. Aber sonst ist die russische Musiklandschaft ein unbeschriebenes Blatt für mich.

Wie so oft habe ich keine Idee, wie und warum, aber kürzlich hat mich eine junge, aufstrebende Künstlerin angeschrieben und mich auf ihr aktuelles Musikvideo aufmerksam gemacht. Ekat Bork heißt sie, stammt aus Sibirien, wohnt inzwischen in der Schweiz und wird demnächst ihr drittes Album veröffentlichen. Wie gesagt, die Umstände wie und warum sie auf Avalost gestoßen ist, sind mir nicht bekannt. Aber nachdem ich nun in den Genuss von „EKAT.“ kam, muss ich sagen: Ich bin dankbar dafür. Mein Horizont wurde dadurch erweitert – und nachfolgend möchte ich Euch gerne daran teilhaben lassen. Zu den schönsten Arten, die Welt zu entdecken, gehört es doch, es auf musikalische Weise zu tun, oder? Vor allem erst recht dann, wenn sich bedingt durch Corona keine andere Möglichkeit dafür bietet.

Ekat Bork, die eigentlich Ekaterina Borkova heißt, wird in ihrer Biografie wie folgt umschrieben: eklektische Künstlerin, geboren in Sibirien und wohnhaft in der Schweiz, alternativ-elektronische Pop-Autodidaktin, Sängerin, Songwriterin, Komponistin, Produzentin und Regisseurin. Weiterhin heißt es in einem Pressetext zu einem früheren Album:

Ekat Bork - We Have A Dream

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Wie im Großteil Russlands, prägten der Zirkus und das Theater die Kultur. Ihre Stadt beherbergte ein Militär-Theater, 6000 Meilen von Moskau entfernt. Einen Zirkus gab es auch. Ekat lernte Trapez-Turnen und Gymnastik. Sie sang traditionelle Lieder des Fernen Osten Russlands. Sie tanzte wild. Sie studierte an der Universität. Sie sah sich Heavy Metal Bands an, verstand sie aber nicht. Sie packte alles, was sie hatte, stahl Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und nahm den Transsibirien-Express nach St. Petersburg. Es dauerte 9 Tage.
Stürzte mit No-Name-Bands in dreckigen besetzten Häusern ab, sang in der U-Bahn für Essensgeld. Sie arbeitete und wurde gefeuert, weil sie sang, statt zu verkaufen. Sie entfloh erneut, diesmal in die Schweiz. Sie studierte „Gesang und zeitgenössisches Schreiben und Produktion“ und knüpfte Kontakte innerhalb der Musical-Szene der Schweiz und Italiens. Ekat drückt sich selbst aus, indem sie Musik, Texte und Arrangements schreibt.

Von Sibirien in die Schweiz

Ein Tausendsassa und Wildfang also, mit einer Umschreibung, die sich in einigen Punkten gewiss auf viele Künstler*innen münzen ließe. Lasst mich raten – Ihr seid jetzt genauso schlau wie vorher? Um ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen, möchte ich festhalten: genannte Dinge (alternativ-elektronischer Pop) treffen hier genauso zu wie sie auch nicht passen. Ich habe im Laufe der Jahre wirklich viel Musik hören und kennenlernen dürfen, es waren viele erste Male dabei. Ekats Musik ist ein wenig wie Schroedingers Musik: Ich kann nicht sagen, dass ich so etwas noch nie gehört habe – und gleichzeitig muss ich förmlich sagen, hier mit etwas völlig Neuem konfrontiert zu werden. Klingt verwirrend? Ist es auch. Auf eine wunderbare Weise allerdings. Nicht jedem Album wohnt der Zauber inne, etwas Neues zu erhören. Diesem schon.

Würde man Vergleiche aufgreifen wollen, um das sensationelle Schaffen der Dame zu umschreiben, kämen mir beispielswiese folgende Künstler*innen in den Sinn: Kate Bush, weil Ekat ihre Stimme in ähnliche Tonlagen bringen kann. Alice Glass, weil ihren Songs die gleiche Dunkelheit innewohnt, die gleiche zersplitterte Verspieltheit und Vielschichtigkeit. Die gleiche brachiale Wucht. Alternativ könnte man hinsichtlich des Industrial-Gefrickels in den Songs auch Trent Reznor nennen. Björk, ähnlicher Verschrobenheit wegen. Adam is a Girl, wegen des gleichen Gespürs für ganz tolle Melodien alternativer Pop-Musik. Aber eigentlich sind das Schubladen, die allesamt nicht so richtig passen. Ekat selbst umschreibt ihre Musik als eine Mischung aus Electronic, Post-Punk, Trip-Hop, Hip-Hop, Industrial und Avantgarde. Und alles das findet sich auf dem neun Songs umfassenden Album auch wieder. Das und so viele Ideen und klangliche Spielereien mehr, die das Album im positiven und buchstäblichen Sinn zu einem bisher unerhörten machen. So viele Dinge, die mich vermuten lassen, dass die mir bisher so fremde Kultur Russlands allgemein und Sibiriens besonders ihren Weg in die Songs gefunden haben. So viele Dinge, die gleichermaßen vertraut und fremd wirken. Kombiniert mit vielem, was in Sachen (alternativer) Pop-Musik auch nur ansatzweise Spaß macht.

„One More Hero“ flirtet mit Sounds aus den (westlichen) 80ern, hat gleichzeitig ein Flair, das asiatisch wirkt, darüber flirrt der sirenenhafte Gesang Ekats – und eine „Wall of Sound“, die Hörende unvermittelt platt bügelt! Wie eine Monsterwelle, die völlig unvermittelt auf ein Schiff prallt. Ich bin selten um geschriebene Worte verlegen, aber hier fehlt es mir tatsächlich an Sprache, um das Gehörte zu in Sätze zu kleiden. Vielleicht liegt es an den Effekten, die Ekat ihrer Stimme in diesem (aber nicht nur diesem) Song angedeihen lässt. An dem unwiderstehlichen Pop-Appeal, der zwischen all den düsteren, teilweise fast schon brachialen Sounds den Weg in mein Gehör findet. Ähnlich verhält es sich „Shamania“, das darüber hinaus auch noch mit astreinem Hip-Hop glänzt und den allgemeinen (Social-)Media-Overkill und die Sucht danach thematisiert. Selbstoptimierungswahn und der Angst, irgendwas zu verpassen, inklusive. Living your wi-fi life on diazepam / Technicolor dreams getting lost in your glam spam / Physical reality is live on Amazon / Primetime box sets streamed to your brain. Die neuen Götter aus Neil Gaimans „American Gods“ – dies könnte ihre Hymne sein. Und zwischen all dem Rap-Gewitter wieder Synthie-Fetzen, wieder direkt aus den (abermals westlichen) 80ern in den Song gebeamt. Quasi wie Silberstreifen am Horizont.

Irgendwo zwischen Pop, Nine Inch Nails und Kate Bush

„Driving My Mustang“ wirkt wieder so vertraut und fremdartig – und ist schon wieder so unfassbar einnehmend, dass ich kurz ob der Genialität von Ekat Bork meinen Hut ziehen möchte. Früher mal wurde mal der Begriff FuturePop etabliert für die Songs düsterelektronischer Musik, die massenkompatibel, tanzbar und eingängig waren und denen man durchaus einiges Chartpotential attestieren konnte. Gerade keimt in mir die Vermutung, dass bis heute niemand wirklich wusste, wie dieser Begriff sinnvoll verwendet werden kann, ohne in irgendwelche Diskreditierungen abzudriften. Und dann grüßt also Ekat Bork musikalisch aus der Schweiz und liefert Songs, die als neue Definition von FuturePop herhalten könnten.

An Abwechslung mangelt es „EKAT.“ wirklich nicht. Nicht eine Sekunde dieses Albums macht sich das Gefühl breit, man wüsste bereits, was als Nächstes kommt. Gerade wurde man mit dem unwiderstehlichen Hip-Hop-Pop-Gemisch verwöhnt, schon kommt eine schwere, atmosphärische Ballade angerauscht, die neben dem außerweltlichen Klavierspiel vorrangig von den krass in die Tiefe gezogenen Vocals von Ekat lebt. Was die Frau mit ihrer Stimme veranstaltet, sowohl mithilfe von Tools als auch ohne, ist sagenhaft! Und dann kommt mit „Let Me Be“ wieder ein gerapptes und gesungenes Feuerwerk, das wie ein Dialog von mehreren Beteiligten wirkt. Als würden sich verschiedene Facetten von Ekats Persönlichkeit in einem Gespräch miteinander befinden.

Ekat Bork - Driving My Mustang

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Nach inzwischen diversen Hördurchgängen von „EKAT.“ bleibe ich mich mit mehreren Erkenntnissen zurück. Musikalisch will 2021 uns ganz offenbar für viele Entbehrungen des Vorjahres entschädigen. Und da draußen gibt es noch so viel mehr zu entdecken, was spannende Musik anbelangt. Ekat Bork hat inzwischen über 100 Konzerte in Europa gespielt, heißt es. Wenn diese behämmerte Pandemie endlich mal überstanden ist und wir wieder Konzerte besuchen können, bietet sich dann hoffentlich auch die Chance, Ekat Bork mal bei uns live zu erleben. Bis dahin wird sich „EKAT.“ als Dauergast in meiner Playlist einnisten, denke ich. Zu gut, zu gelungen ist dieses Album! Was auch immer Ekat zu Avalost geführt haben mag – ich bin dankbar dafür und froh, dass ich meinen Horizont wieder etwas erweitern konnte. Als Nächstes beschäftige ich mich mal näher mit Sibirien und der Musiklandschaft dort; wer weiß, welche Perlen dort noch darauf warten, auch in unserem Ländle gehört zu werden?

PS: Mit Erscheinen des Artikels heißt es noch, das Album sei bereit zur Veröffentlichung, einen konkreten Termin kenne ich jedoch noch nicht. Sobald mir dieser bekannt wird, trage ich ihn im Info-Kasten nach. Zu bekommen sein wird es dann sehr wahrscheinlich wie alle anderen Veröffentlichungen auch via Bandcamp.


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Eigentlich bin ich ja ohne Vorsätze jeglicher Art ins neue Jahr gestartet. Ich dachte mir: nachdem 2020 ein in so vielerlei Hinsicht bescheidenes Jahr war, auch privat, auch im Zusammenhang mit Corona – was sollte das neue Jahr denn da schon zu bieten haben? Tja, ziemlich unfair dem noch jungen Jahr gegenüber, wie ich gerade lerne. Zwar wütet die Pandemie immer noch und es sieht auch nicht so aus, als wären wir dieses Problem so bald los, dennoch gibt es wenigstens eine Sache, in der wir ganz offensichtlich höchste Maßstabe an das Jahr 2021 anlegen dürfen: Musik. Das Jahr ist zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, gerade einmal 20 Tage alt und schon wieder habe ich ein Album hören und vorstellen dürfen, das mich in höchste Verzückung versetzt und dem ich größtmögliche Aufmerksamkeit wünsche. „EKAT.“ ist eine ganz und gar unwiderstehliche Mischung aus vertrauten und ungewohnten Sounds geworden, die viel, viel Spaß macht – vor allem dann, wenn man neben einnehmender Pop-Gefälligkeit eine Schwäche für alternative Verschrobenheit hat und sich für die Dunkelheit erwärmen kann, die alles immer so ein bisschen überschattet. „EKAT.“ gehört zu den Alben, die man 2021 gehört haben muss!

Foto von Ekat Bork. Sie trägt ein gelbes T-Shirt, hat die Hände in den Taschen ihrer Hose und spitzt den Mund wie zum Küssen.
Band / Künstler*in
Ekat Bork
Album
EKAT.
Unsere Wertung
4.3
Fazit
Das Jahr ist zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, gerade einmal 19 Tage alt und schon wieder habe ich ein Album hören und vorstellen dürfen, das mich in höchste Verzückung versetzt und dem ich größtmögliche Aufmerksamkeit wünsche. „EKAT.“ ist eine ganz und gar unwiderstehliche Mischung aus vertrauten und ungewohnten Sounds geworden, die viel, viel Spaß macht – vor allem dann, wenn man neben einnehmender Pop-Gefälligkeit eine Schwäche für alternative Verschrobenheit hat und sich für die Dunkelheit erwärmen kann, die alles immer so ein bisschen überschattet.
Pro
Gleichermaßen fremd und vertraut wirkende, ziemlich wilde Mischung verschiedenster Stile
Kontra
Bei diesem hohen Maß an Vielfalt und Abwechslung, an Kreativität und Ideenreichtum ist es ein Jammer, dass das Album nur neun Songs umfasst
4.3
Wertung
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