Foto von Beborn Beton. Die drei Männer tragen alle schwarze Kleidung, im Vordergrund ist Sänger Stefan Netschio, dahinter, leicht unscharf, Michael Wagner und Stefan Tillmann.

Musikvorstellung: Beborn Beton – Darkness Falls Again

Foto: Chris Ruiz

Ich zu sein ist schwer manchmal. Es fällt mir immer öfter immer schwerer, mich zu fokussieren, klare Gedanken zu fassen und diese dann zu Papier zu bringen. Keine Ahnung, ob das erst seit der Pandemie so ist, dass meine Gedanken und Gefühle gleichzeitig Achterbahn und Karussell fahren, oder ob das nur der Brandbeschleuniger war für etwas, das ohnehin schon seit geraumer Zeit unter der Oberfläche brodelte. Wie dem auch sei: wenn ich mich an dieser Stelle über Musik äußern möchte – noch dazu, wenn sie mir wichtig ist, mich berührt oder aus anderen Gründen am Herzen liegt – muss ich zu einem bewährten Mittel greifen. Nein, ich meine nicht die Modeerscheinung ChatGPT. Ehe ich mir Reviews von einer KI formulieren lasse, stampfe ich den Bums hier wieder ein. Wäre ja nicht das erste Mal. Nee, ich mache etwas anderes: Ich schnappe mir meine Jacke und meine AirPods und verlasse das Haus. So auch heute, nachdem die Dunkelheit schon lange den Kampf gegen das Tageslicht gewonnen hatte. In meiner Playlist ist heute „Darkness Falls Again“. Ich tippe auf den Play-Button und gehe mit den Jungs von Beborn Beton und ihrem neuen Album spazieren.

Die Zeit und die Welt, in der wir leben, sie ist mit „beschissen“ noch einigermaßen wohlwollend umschrieben. Als wären die Pandemie und der russische Angriffskrieg in der Ukraine nicht schon genug Gründe für aktiv gelebte Verzweiflung, gesellt sich dazu noch das viel größere Thema der Klimakatastrophe, die uns alle in den Po pieksen wird. Neulich bin ich mit meinem Kind bei meinen Eltern gewesen, das ganze Wochenende ergiebiger Schneefall und Regen. Auf der Fahrt zurück: so viele Felder komplett unter Wasser, wie ich es noch nie erlebt habe in dieser Gegend. Ein paar Zentimeter mehr und die Straßen wären vermutlich nicht mehr befahrbar gewesen. Oder nur noch mit einem Gummiboot. Und gerade erst heute habe ich gelesen, dass die NASA einen Asteroiden entdeckt hat, der im Jahr 2046 eine sehr kleine, aber eben doch vorhandene Wahrscheinlichkeit hat, uns auf den Kopp zu knallen. Dass man hier nicht mehr mit Wahrscheinlichkeiten im Nullkomma-Bereich argumentiert hat, dafür aber vorsorglich schon mal erwähnt hat, es sei kürzlich erfolgreich gelungen, einen Asteroiden von seiner Bahn abzulenken, hat mich nachdenklich gemacht. Genug Mist also, der jeden Tag passiert. Und wessen Hobby es ist, Doom Scrolling zu betreiben, also quasi nur noch die schlechten Nachrichten zu konsumieren, kommt gar nicht mehr hinterher.

Foto: Chris Ruiz

„Welcome, apocalypse, what’s taken you so long? Bring us the fitting end that we’ve been counting on. Welcome, apocalypse, we’ve been expecting you. We brought this on ourselves, now kindly follow through“ heißt es in einem Lied des Kollegen Tom Shear von Assemblage 23. Ob sich die Herren Beborn Beton davon haben inspirieren lassen, entzieht sich meiner Kenntnis, ich bezweifle es aber. Ein flüchtiger Blick ins Internet reicht schon, um depressive Verstimmungen zu entwickeln. Oder Inspiration für Texte zu finden.

Der musikalische Finger in der Wunde

Aber mit den ganz großen Keulen, die derzeit überall geschwungen werden, ist es ja noch nicht getan. Frauen ihre Rechte absprechen? Menschen abstreiten wollen, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen wollen oder wen und wie sie leben und lieben? Den Stinkefinger außer jenen, die so unterwegs sind, auch noch gegenüber Verschwörungstheoretikern, Hasspredigern, Demagogen, Umweltzerstörern und anderen, fehlgeleiteten Erscheinungen erheben, die eigene Stimme nutzen, um vielleicht einen Unterschied zu machen, und sei er noch so winzig? Hold my beer!, scheint das Motto von Beborn Beton gewesen zu sein. In den leider nur 8 Songs dieses Albums erlebt man eine Positionierung und eine Stellungnahme, wie sie in gerade in der Szene, in der sich Beborn Beton bewegen, selten ist. Haltung, Moral, Anstand und ein klarer Standpunkt verschafft nicht nur Freunde (oder Abverkäufe des Tonträgers bzw. Streams), ist aber so unfassbar wichtig, wenn diese Welt nicht komplett vor die Hunde gehen soll. Allein dafür haben Beborn Beton schon meinen größten Respekt. Dass sie beinahe „nebenbei“ eine unfassbar geschmeidige Produktion in die Welt entlassen, ist da schon fast nur noch ein erfreulicher Bonus obendrauf.

Foto: Chris Ruiz

Wie ich so durch die dunklen Straßen meines Viertels laufe, Gedanken und Blicke schweifen lasse, begegnen mir unterwegs verschiedenste Gestalten. Nicht immer ist mir klar, wie und wo ich sie einordnen soll. Die beiden Frauen, die mir in einiger Entfernung mit einem kleinen Hund entgegenkommen, kann ich aber klar als solche identifizieren. Noch immer in einiger Entfernung wechseln sie die Straßenseite, ehe ich selbst entsprechend aus dem Weg hätte gehen können. Was für eine kaputte Welt es doch ist, dass sich Frauen automatisch von einer männlichen Gestalt, die ihnen in der Dunkelheit entgegenkommt, bedroht fühlen. Oder zumindest – bewusst oder unbewusst – genötigt fühlen, sicherheitshalber die Straßenseite zu wechseln. Es wird gesellschaftlich noch viel passieren müssen, angefangen bei der Erziehung von Jungen, ehe hier eine Besserung zu verzeichnen sein wird. Musikalische klare Haltung ist da ein weiteres Puzzleteilchen.

Es schiebt sich „Dancer in the Dark“ in meine Gehörgänge und wie durch Zufall laufe ich gerade an dem Parkplatz eines größeren Einkaufskomplexes vorbei. Die Läden haben noch geöffnet, Menschen strömen in und aus den Geschäften. Vor dem Eingang von Lidl kann ich eine Frau neben einem Kinderwagen stehen sehen und eine Zigarette rauchen. Ich schüttele kurz den Kopf. Hinter ihr, großflächig auf eine Anzeigetafel plakatiert, eine Werbung für eine „Mega-Malle-Party“. Warum neben den Namen diverser Acts aus den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends eine Blondine abgebildet sein muss, deren Outfit James Bond mit dem Satz „Das ist aber ein entzückendes Nichts, das Sie da anhaben“ kommentiert hätte, erschließt sich mir nicht.

„And you feel like a dancer in the dark / When you see that the world is turning / We will all be like dancers when / Darkness falls again“ singt mir Stefan Netschio in diesem Moment ins Ohr und vielleicht deckt sich das mit der Beobachtung, die ich ein paar Straßen vorher in der Eckkneipe gemacht habe, an der ich vorbeigelaufen bin. Drinnen saßen haufenweise Menschen mittleren Alters, meist Männer, die verqualmte Luft schien selbst bei äußerer Betrachtung so dicht gewesen zu sein, dass man sie hätte schneiden können. Und auf dem Fernseher, um den sich die Anwesenden mit ihren Bieren versammelten, lief eine Sportübertragung. Brot und Spiele, während die Welt untergeht. Oder um es mit Beborn Beton zu sagen: während sich die Dunkelheit wieder über die Welt legt. Lord has no mercy on Babylon, heißt es in einer anderen Zeile desselben Lieds. Jau, hatte er schon einmal nicht und dieses Babylon, in dem wir leben, hat seinen Zenit scheinbar auch längst überschritten.

Foto: Chris Ruiz

Viele meiner Gedanken derzeit befassen sich mit dem Tod und dem Sterben, mit dem Zustand der Welt und dass wir eigentlich keine Zeit mehr haben, nichts zu tun. Wir Menschen wissen eigentlich ziemlich genau, was getan werden muss, wir haben auch das technische Know-how dafür. Und doch tun wir: nichts. Ich betrachte immer wieder meinen kleinen Jungen, der spielerisch gerade die Welt entdeckt und von dem Elend um ihn herum noch nichts weiß. Und immer wieder denke ich mir: Kind, in was für eine Welt haben wir Dich nur hineingeboren? Daraus resultiert ein nicht in Worte zu kleidendes Gemisch von Trauer, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Vermutlich sind das alles Dinge, die dafür sorgen, dass ich demnächst mal für ein paar Wochen in einer Tagesklinik verschwinde, um die Birne wieder geraderücken zu lassen. Ich weiß aus Gesprächen mit Stefan Netschio, dass diese latente Verzweiflung über den Zustand der Welt dem Trio Beborn Beton nicht fremd ist. Wohl daraus erklärt sich auch die Tatsache, dass „Darkness Falls Again“ nicht nur dem Namen nach das bisher dunkelste Album der Band aus dem Ruhrpott geworden ist.

Tanzen oder Träumen

Man kann dieses Album auf mehrerlei Weisen erleben. Einerseits kann man den Inhalten folgen, sie als Ausgangspunkt für eigene Gedanken und Überlegungen nehmen. Andererseits kann man sich auch schlicht und ergreifend von den wunderbaren Melodien forttragen lassen. Jeder einzelne Song, jeder einzelne Ton ist so on point, dass es eine wahre Wonne ist, einfach nichts weiter zu machen, als sich an den vielen Details zu erfreuen, die Beborn Beton ihren Songs haben angedeihen lassen. Bei dieser überbordenden Detailverliebtheit ist es kein Wunder, dass es immer Jahre braucht, bis die Herren ein Album im Kasten haben. Und dann sind da auch noch die immer wieder durchblitzenden Anleihen an andere Bands desselben Genres, seien diese nun gewollt oder zufällig oder auch nur ein Produkt meiner Fantasie. „I Watch My Life On TV“, um nur ein Beispiel zu nennen, ist so sehr klassischer Synthie-Pop, wirkt so wunderbar warm und analog und oldschool, dass ich mich kurz an Alphavilles „Summer in Berlin“ erinnert fühle.

Zwischendurch ist mir auf meinem Spaziergang durch die Nacht ein bisschen der Faden gerissen. Das passiert mir öfter in letzter Zeit. Vermutlich auch eines der Begleiterscheinungen des Krankheitsbildes, das meinen Alltag bestimmt. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass das Album schon einmal komplett durchgelaufen ist und ich wieder bei „Dancer in the Dark“ angekommen bin. Mittlerweile habe ich den Teil meiner üblichen Route erreicht, auf dem eine sehr hohe, sehr breite Mauer, die wohl dem Lärmschutz dienen soll, die nachts ohnehin kaum befahrene Hauptverkehrsstraße von dem anliegenden Plattenbau trennt. Donald Trump hätte seine Freude daran, denke ich und bin mir des Zynismus in diesen Gedanken durchaus bewusst. Aber ähnlich wie es in diesen Zeiten schwierig ist, sich nicht irgendeine Störung in der eigenen Psyche einzufangen, ist es wohl nicht weniger knifflig, sich Zynismus zu verkneifen. Diese Straße jedenfalls, die durch besagte riesige Mauer von den dahinter liegenden Wohneinheiten getrennt ist, hat bis auf ein paar Straßenbahnschienen und wirklich nur sehr vereinzelten Laternen, deren schwaches, oranges Licht kaum ausreicht, um den Gehweg zu beleuchten, nichts zu bieten. Und dann passiert etwas, das ich nur selten wirklich bewusst zulasse: Ich lasse mich von der Musik und meinen Gefühlen leiten und bemerke, wie ich mittlerweile mehr tanze als laufe.

Foto der Band Beborn Beton. Die drei Männer stehen hintereinander auf einer Rolletreppe auf dem Weg nach oben und tragen alle drei schwarze Kleidung.
Foto: Chris Ruiz

Im ersten Moment, in dem ich mir dieser Handlung bewusst werde, schrecke ich zusammen. Nur um dann einen Scheiß drauf zu geben. Wer soll mich denn hier sehen, wie ich unter dem fahlen Licht einer Straßenlaterne vor mich hin tanze? Und vor allem: wen soll das interessieren? Geben wir nicht viel zu oft nicht den positiven Dingen im Leben nach? Als ich irgendwann wieder nach Hause komme, um den Laptop aufzuklappen und meine Eindrücke dieses Spaziergangs niederzuschreiben, kommt mir der finale Ratschlag für alle Interessierten in den Sinn: nehmt dieses Album mit raus in die Nacht, geht damit spazieren und werdet zu Tänzern in der Dunkelheit. Auf der Straße unter einer Laterne, im Neonlicht eines Clubs, in den eigenen vier Wänden, ganz egal. Vieles ist wirklich ein riesiger Haufen Bockmist heutzutage. Aber eben nicht alles. „Darkness Falls Again“ erinnert daran, trotz – oder gerade wegen – der ernsten Thematiken wegen, die hier beackert werden. Dafür ist allein die Musik viel zu schön, um durch dieses Album keine Freude zu empfinden.

Einigermaßen selbstbewusst spricht man bei Beborn Beton davon, bei „Darkness Falls Again“ würde es sich um ihr bis dato bestes Album handeln. Trotz der kurzen Spielzeit, die manche als Manko ansehen mögen, bin ich geneigt, in diesen Gesang einzustimmen. Zweifelsfrei ist es aber ihr bisher dunkelstes Album. Das Wort „düster“ möchte ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden. Es ist eher wie eine bittersüße Melancholie, der man sich bewusst hingibt. Denn durch die vielen Themen, die Beborn Beton hier auf dem Zettel haben, allesamt Bestandsaufnahmen der Abgefucktheit dieser Welt, fühle zumindest ich mich verstanden, wenn mir bei einer Schlagzeile bei Spiegel Online wieder der Kragen platzt. Und durch die von Meisterhand geschaffenen Melodien, durch und durch mit großer Kunstfertigkeit produziert, ist dieses Album bisschen wie die Hand, die sich auf die Schulter legt und wie eine Stimme, die sagt: jau, alles kacke gerade – aber wir stecken da zusammen drin. Und schon ist alles ein bisschen weniger schlimm. Somit ist schlussendlich auch dieses Album wieder eine mehr als „worthy compensation“ für die lange Zeit des Wartens.

Cover des Albums Darkness Falls Again von Beborn Beton.
Erscheinungsdatum
17. März 2023
Band / Künstler*in
Beborn Beton
Album
Darkness Falls Again
Label
Dependent Records
Unsere Wertung
4.6
Fazit
Einigermaßen selbstbewusst spricht man bei Beborn Beton davon, bei „Darkness Falls Again“ würde es sich um ihr bis dato bestes Album handeln. Trotz der kurzen Spielzeit, die manche als Manko ansehen mögen, bin ich geneigt, in diesen Gesang einzustimmen. Zweifelsfrei ist es aber ihr bisher dunkelstes Album. Das Wort „düster“ möchte ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden. Es ist eher wie eine bittersüße Melancholie, der man sich bewusst hingibt.
Pro
Thematisch/inhaltich eine deutliche und so wichtige Ansage
Musikalisch herausragend produziert
Wunderbar dunkel, ohne immerzu den Düsterhammer zu schwingen
Wer sich mit den Inhalten nicht auseinandersetzen möchte, kann auch einfach nur in großartigen Synthie-Hymnen abtauchen
Kontra
Die kurze Spielzeit von 8 Songs bzw. 42 Minuten in der regulären Album des Fassung kann man als Manko ansehen
4.6
Wertung
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