Ein schwarz-weißes Porträt von Jean-Marc Lederman, er trägt eine Sonnenbrille und ein schwarzes Hemd.

Musikvorstellung: Jean-Marc Lederman Experience – 13 Ghost Stories

Foto: Erica Hinyot

„Du stirbst. Du darfst einen Tag als Geist auf die Erde zurückkommen. Was würdest du tun?“ – Diese Frage, so einfach wie tiefschürfend, stellte Jean-Marc Lederman (Lesern dieses Blogs vor allem bekannt durch seine Beteiligung am inzwischen nicht mehr existenten Projekt „Ghost & Writer“, welches er bis zu einem vermutlich ziemlich bösen Bruch zwischen beiden Protagonisten mit Frank M. Spinath betrieb) diversen Musiker*innen des elektronischen Teils der Düsterszene. Herausgekommen ist ein Album, bei dem sich etliche großartige Künstler*innen die Klinke in die Hand geben – und sie alle gehen dieser Frage auf ganz unterschiedliche Weise nach. Damit könnte zu „13 Ghost Stories“ von der Jean-Marc Lederman Experience, das kürzlich bei Dependent erschienen ist, alles gesagt sein. In meinem Fall ist dem aber nicht so. Ein Album mit einem derartigen Hintergrund, noch dazu von solch hoher Güte, schreit förmlich danach, es genauer zu betrachten. Außerdem ist die Ausgangsfrage eine, die ich mir selbst stelle. Vor zwei Tagen wurde meine Großmutter zu Grabe getragen. Wenn sie noch einmal auf die Erde zurückkommen dürfte – was würde sie wohl tun?

Es ist ein kalter, ein grauer und einigermaßen stürmischer Tag im März. Er gibt sich alle Mühe, die auf dem Friedhof vorherrschende Stimmung bei den Trauernden (inklusive mir) in adäquates Wetter zu hüllen. Gesenkten Hauptes macht sich eine kleine Schar Hinterbliebene auf den Weg, dem Angestellten des Bestattungsinstitutes zu folgen, der die Urne mit den zu Asche gewordenen, sterblichen Überresten von dem, was einmal meine Großmutter gewesen sein soll, zu ihrer finalen Ruhestätte trägt. Unzählige unsortierte Gedanken rasen durch mein Hirn und tanzen Tango mit den Synapsen. Vermutlich war es eine Art makabre Laune des Schicksals, dass mich Ledermans neuster Geniestreich just in der Zeit erreicht, in der ich mit dem zweiten Verlust eines Familienmitglieds innerhalb weniger Monate umgehen muss. Als wir die Grabstelle erreichen, spricht der Mann vom Bestattungsinstitut ein paar Worte; er erzählt irgendwas von Erde und Asche und Staub – die Worte eben, die in so einem Fall immer fallen.

Foto: Jean-Marc Lederman Experience / Dependent Records

Ich höre ihm kaum zu. Stattdessen geistern die Zeilen von „The Dead Still Scream“ durch meinen Kopf. Der erste Song von „13 Ghost Stories“ nach dem gleichermaßen unterhaltsamen wie überflüssigen Intro. „The Dead Still Scream“ ist entstanden unter Mitwirkung von Christer Hermodsson (Biomekkanik, irgendwann früher auch S.P.O.C.K.) – und dessen markante Stimme scheint wie gemacht für die stimmungsvollen, behutsamen Klanglandschaften, die Lederman hier geschaffen hat. Aber das ist gar nicht der Punkt, weswegen mir das Lied in diesem Moment durch den Kopf geht. Vielmehr ist es der Inhalt. Wie ein Geist schwebt Hermodsson durch die Lyrics und besucht noch einmal ein Haus, das dem Erzähler des Songs dereinst so vertraut war, und blickt durch verschiedene Fenster. Jedes davon zeigt eine Momentaufnahme. Ein Echo vergangener Zeiten. Über allem ein Fragezeichen, eine unerledigte Sache. Hermodssons Geist sieht unter anderem seine Mutter davon- oder einen wütenden Sturm heraufziehen. Und im letzten Fenster den größten Verlust, den er hinnehmen musste. Die Toten träumen noch. Die Toten schreien noch.

Ich frage mich in diesem Moment, was meine Großmutter wohl sehen würde, wäre sie in einem ähnlichen Szenario als Geist unterwegs. Die, die nach ihr kamen? Die, die vor ihr gingen? Durch eines dieser Fenster würde sie sicher ihren letzten Urenkel sehen, den sie nie kennengelernt hat – meinen Sohn. Die Demenz, das hinterlistige und rücksichtslose Biest, hatte ganz offensichtlich etwas dagegen. So richtig weiß ja niemand, wie die Köpfe von Demenzkranken funktionieren. Hat sie ihren letzten, ihren fünften Urenkel – der nun erschwerend auch noch aus dem Zweig der Sippe kommt, der bis vor wenigen Monaten noch ganz andere Lebenspläne hatte – in ihren Träumen wenigstens kennengelernt? Träumt sie noch, da wo sie jetzt ist? And now I know the dead still dream. Wie ich hier so stehe und auf das blumengeschmückte Grab schaue, frischt der ohnehin schon kalte Wind nochmals auf. Wäre heute der Tag, an dem sie zurückkommen dürfte – es hätte wieder nicht geklappt mit dem Kennenlernen des Urenkels. Fiebrige Nachwirkungen einer Impfung hätten dies abermals verhindert. And now I know the Dead still scream. Tut mir sehr leid, Oma. Manche Dinge werde ich dir auf ewig schuldig bleiben.

Reihenweise namhafte Mitwirkende

„The Dead Still Scream“ ist offensichtlich das Stück dieses Albums, das den größten, den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat. Angesichts der Umstände womöglich auch kaum überraschend. Aber: Es ist bei Weitem nicht das einzige. Mancherorts ist zu hören gewesen, mit „13 Ghost Stories“ hätte Jean-Marc Lederman seinem bisherigen, an spektakulären Höhepunkten nicht armen Schaffen die bisherige Krone aufgesetzt. Ich bin mehr als geneigt, dieser Einschätzung zu folgen. Weitere Highlights von „13 Ghost Stories“: Das außerordentlich verträumte, sehr melancholische „Maybe“ mit Louise Fraser. Das elektro-popige, leichtfüßige „Brian Wilson Stole My Prom Date“ mit Stefan Netschio von Beborn Beton. Und vor allem auch „The Tallest Building In Town“ mit Jenna Fearon, das durch eine ganz ungewöhnliche Struktur begeistert. Zunächst startet die Nummer wie eine typische Elektro-Ballade, die in ihrem Verlauf noch an Fahrt gewinnen möchte – nur um völlig unvermittelt ein wie aus dem Zusammenhang gerissenes Piano-Solo zu präsentieren. Oder später auch später Streicher*innen fiedeln zu lassen. Abermals völlig aus dem Kontext gerissen. Den Titel „ungewöhnlichster, überraschendster Song des Jahres“ ist dem Stück sicher!

Foto: Jean-Marc Lederman Experience / Dependent Records

Songs wie „Upset Karma“ mit Elena Fossi (Kirlian Camera) oder „Ball And Chain“ mit Mark Hockings (Mesh) unterstreichen hingegen den Eindruck, dass Lederman auch so ein bisschen das Who-is-who der Szene präsentiert. Auch wenn es fast schon auffällig ist, dass ausgerechnet ein Name auf der Liste fehlt: Frank Spinath. Der hätte sicher gut reingepasst haben, aber es wird seine Gründe haben, dass er auf „13 Ghosts“ nicht zu hören ist.

Nicht jedes Lied dieses Albums ist auch tatsächlich Musik. Da sind insbesondere Intro und Outro, die wie Mitschnitte aus den Adventure-Computerspielen von Telltale Games wirken. „The Ghost Of Your Father“ (mit The Acapella Robotic Association) beispielsweise besteht im Wesentlichen aus elektronischen Sprachmitteilungen, Windgeräuschen und einem Hauch von Ton. Experimentell trifft es wohl ganz gut. Gruselig auch.

Ein Album, das auch rein instrumental funktionieren würde

Wenngleich es durchaus spannend zu hören ist, wie die beteiligten Künstler*innen mit der Ausgangsfrage umgegangen sind und durch ihre Beteiligung den jeweiligen Songs ihren unverkennbaren Stempel aufdrückten – all das würde nicht funktionieren, wenn da nicht der musikalische Unterbau von Jean-Marc Lederman wäre. Manchmal sind es unfassbar schöne elektronische Balladen, manchmal Synthpop, manchmal verschrobene bis verstörende Klanglandschaften, die mehr der Erzählung der Geschichte dienen als der musikalischen Unterhaltung. Allen gemein ist die Tatsache des großen Könnens, des Verständnisses für Stimmungen und dem Talent, Bilder im Kopf der Hörenden zu malen. Ich gehe jede Wette ein, dass dieses Album genauso gut funktionieren würde, wären die Stimmen der Gastmusiker*innen nicht zu hören; wäre es nur ein rein instrumentales Album. Vermutlich würden diese dreizehn Geistergeschichten selbst dann noch funktionieren, wenn nicht einmal die zugrundeliegende Ausgangsfrage bekannt wäre. Wenn sie Lederman sich nur selbst gestellt und mittels der Songs beantwortet hätte. So einige Songs hier transportieren trotz des düsteren Themas überraschend viel Wärme. Und doch, es fröstelt mich noch immer bei jedem Hören. The Dead still scream.

Wenn man sich nur durchliest, wer an diesem Album beteiligt ist, dann fällt es schon deshalb nicht schwer anzunehmen, dass „13 Ghost Stories“ ein großer Wurf geworden ist. Und tatsächlich hat Jean-Marc Lederman, zusammen mit allen Gastmusiker*innen, ein fantastisches Album geschaffen! Jeder einzelne Song erzählt eine ganz eigene Geschichte in einem ganz eigenen Stil – und doch ist alles erstaunlich homogen. Nichts wirkt auch nur im Entferntesten deplatziert, nichts fällt irgendwie aus dem Rahmen – allein das halte ich für eine große Leistung. Zwar heißt es immer, zu viele Köche verderben den Brei. Hier aber geben sie ihm die nötige Würze. Wir hatten zwar weiter oben schon festgestellt, dass das Album auch ohne Gäste gut funktionieren würde – aber da sie nunmal da sind – zum Glück! – funktioniert es eben noch besser. Herr Lederman, ich ziehe meinen Hut vor diesem unvermuteten Begleiter durch eine schwere Zeit. Ich weiß noch nicht, was ich mehr loben möchte – das Konzept oder die gelungene Umsetzung oder vielleicht auch beides. Während ich noch darüber nachdenke, freue ich mich aber über zwei Dinge: Den Göttern sei es gedankt, dass niemand erst versterben muss, um an „13 Ghost Stories“ Gefallen zu finden. Und dass es nach Acretongues „Ghost Nocturne“ schon der zweite, absolute Volltreffer aus dem Hause Dependent in dem noch jungen Jahr ist. Kann gerne so weitergehen.

Cover des Albums 13 Ghost Stories von Jean-Marc Lederman Experience.
Erscheinungsdatum
1. März 2019
Band / Künstler*in
Jean-Marc Lederman Experience
Album
13 Ghost Stories
Label
Dependent Records
Unsere Wertung
4.6
Fazit
Wenn man sich nur durchliest, wer an diesem Album beteiligt ist, dann fällt es schon deshalb nicht schwer anzunehmen, dass „13 Ghost Stories“ ein großer Wurf geworden ist. Und tatsächlich hat Jean-Marc Lederman, zusammen mit allen Gastmusiker*innen, ein fantastisches Album geschaffen! Jeder einzelne Song erzählt eine ganz eigene Geschichte in einem ganz eigenen Stil – und ist doch erstaunlich homogen. Nichts wirkt auch nur im Entferntesten deplatziert, nichts fällt irgendwie aus dem Rahmen – allein das halte ich für eine große Leistung. Zwar heißt es immer, zu viele Köche verderben den Brei. Hier aber geben sie ihm die nötige Würze. Zwar hatten wir weiter oben schon festgestellt, dass das Album auch ohne Gäste gut funktionieren würde – aber da sie nunmal da sind – zum Glück! – funktioniert es eben noch besser.
Pro
Hervorragende Auswahl, was die beteiligten Gastmusiker*innen angeht
Wunderbare musikalische Unterbauten zu den teilweise grandiosen Stimmen
Tolles Konzept, gute Idee - hervorragend umgesetzt
Kontra
Intro und Outro hätten nicht zwingend sein müssen, ein solches Album benötigt nicht unbedingt diese "Einführung"
4.6
Wertung
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