Foto von Chris Corner alias IAMX. Er trägt lange, rote Lederhandschuhe und lüftet sich eine an Katzen erinnernde schwarze Maske vom Kopf. Chris Corner ist zum größten Teil von Schatten bedeckt und daher kaum erkennbar.

Musikvorstellung: IAMX – Alive In New Light

Foto: Gretchen Lanham

Soweit wie ich das um mich herum beobachten konnte, stieß das letzte IAMX-Album „Unfall“ nicht überall auf Gegenliebe. Tatsächlich konnte ich immer wieder Meinungen hören oder lesen, die „Unfall“ als eben solchen betrachteten. Zu weit hätte sich Chris Corner mit diesem Album, das nach seinem Remix-Pseudonym benannt war, vom gewohnten IAMX-Sound entfernt. Zu minimalistisch, zu technoid, zu verschroben, zu experimentell – das waren nur einige der Attribute, mit denen das Album bedacht wurde. Und auch ich war in dem Artikel zu dem Album der Ansicht, dass eine Veröffentlichung unter dem Namen Unfall vielleicht die bessere Idee gewesen wäre. Wie dem auch sei: Der „Unfall“ ist passiert und inzwischen schon wieder Geschichte. Chris Corner jedoch hat sich nicht auf die faule Haut gelegt und präsentiert mit „Alive In New Light“ nach rund vier Monaten das nächste, dieses Mal reguläre Album unter dem Namen IAMX. Wen der Unfall irritiert hatte, sei an dieser Stelle schon einmal beruhigt: Dieses Mal ist auch wieder IAMX drin, wo IAMX draufsteht.

„Alive In New Light“ ist so etwas wie ein musikalisches „Hallo, da bin ich wieder – so fit und munter wie schon lange nicht mehr!“. Es heißt, das neue Album stünde mit seinem Titel als Metapher für Neubeginn, für das Besiegen des Dämons, von dem Chris Corner in den vergangenen Jahren heimgesucht worden sein soll. Depression, das sei der Name dieses Dämons gewesen. Ein Dämon, der so oft irgendwo ganz unvermittelt zuschlägt. Manchmal mit fatalen Folgen. Bleibt zu hoffen, dass Corner tatsächlich einen gangbaren Weg gefunden hat, damit fertig zu werden. Gleichzeitig steht „Alive In New Light“ aber auch für die beständige Wandlung auf dem Weg der Selbstfindung von IAMX. Ein „Danke schön“ an die Fans soll es sein und gleichzeitig eine Einladung, die eingeläutete nächste Evolutionsstufe mitzuerleben. Man kann also sagen, dass diesem Album ganz schön viel Bedeutung auf so vielen Ebenen beigemessen wurde und wird, dass es nicht überraschen würde, wenn es daran zerbräche. Es ist ein Glücksfall für die Fans, aber auch für Chris Corner und seine Mitstreiterin Janine Gezang, dass es das nicht tut. Ganz im Gegenteil, „Alive In New Light“ besitzt überragende Strahlkraft wie schon länger kein IAMX-Album mehr.

Ein Neuanfang in der kalifornischen Wüste

Aufgenommen wurde das neue Album, das leider Gottes gerade mal neun Tracks umfasst (und sich damit die einzige wirkliche Schwäche erlaubt), in der kalifornischen Wüste, in einem Trailer mit Blick auf die Berge – „weit weg von den Joshua-Tree-Hippies“, wie es Chris Corner zu umschreiben pflegt. Ich stelle mir gerade brütende Hitze vor, staubtrockene Landschaft mit nur wenig Grünzeug darin, Schlangen, die sich gelegentlich durch die Szenerie zischeln, und vor allem bedrückende, endzeitliche Stimmung inmitten dieses Nichts, wo sich am Horizont Gestein aufhügelt. Kein Ort jedenfalls, an dem ich mich länger aufhalten wollen würde; für Corner jedoch scheinbar eine erfrischende Inspirationsquelle. Und irgendwie auch passend zu der vorherrschenden Stimmung dieses Albums.

Das Ticket zu diesem neuerlichen IAMX-Trip wird „Stardust“ gelöst. Was mit „Unfall“ nicht gelingen wollte – vielleicht ja auch gar nicht sollte – funktioniert hier auf Anhieb: Fans der klassischen IAMX-Sounds werden direkt vom Start abgeholt. Und doch gibt es direkt zu Beginn ein paar Neuerungen: Das Soundbild weist im Vergleich zu manch früherem Album viel mehr Farbtupfer auf, sprich: Die Freude an Experimenten hat Corner nach seinem „Unfall“ nicht verloren, ganz im Gegenteil. Im Verlaufe von „Alive In New Light“ werden wir so manches Mal Zeuge von manchmal quietschender, manchmal knarzender Elektronik und jeder Menge kleiner Spielereien, die den Wiederhör-Faktor enorm erhöhen. „Alive In New Light“ ist keines dieser Alben, die nach dem dritten oder vierten Durchgang nichts mehr böten, was noch entdeckt werden könnte. Ganz im Gegenteil. Außerdem neu: neben dem Auftakt „Stardust“ ist die Tattookünstlerin und IAMX-Superfan in Personalunion, Kat Von D., zusätzlich in drei weiteren Songs zu hören. Selbstverständlich hat den größten Gesangsanteil nach wie vor Chris Corner, was mit seiner nach immer bemerkenswerten Stimme auch angebracht ist. Dennoch stehen die stimmlichen Beiträge von Kat Von D. und Janine Gezang dem Sound ziemlich gut. Es wirkt ein wenig wie der finale Feinschliff, der bis dato noch fehlte. Kat Von D. wird über die Zusammenarbeit mit IAMX wie folgt zitiert: „Wir könnten Kleiderschränke und Make-up tauschen, niemand würde einen Unterschied erkennen. Wir sind beide äußerst kreativ. Nicht weil wir es unbedingt möchten, sondern weil wir es sein MÜSSEN“. Kreativität als Zwangshandlung, um die Dämonen in Schach zu halten?

Trotz kurzer Spieldauer gibt es viel zu entdecken

Wie gesagt, zu entdecken gibt es viel auf diesem Album. Trotz der kurzen Spielzeit von etwa 41 Minuten. Da wäre als Beispiel „Body Politics“ zu nennen, dessen tief-knarzigen, analogen Synthies einen starken Kontrast, beinahe schon einem Schlagschatten gleich, zu Corners heller Gesangsstimme bilden. Einer dieser Songs, die mich an zwielichtige SM-Clubs denken lassen. Das Kopfkino wird von Textzeilen wie „The union, the divine / When I touch you and I taste you I only want to be inside / Reaction and release / There’s something that’s stirring deep in me“ und dem Refrain „Your body is the answer / Your mind is in chains“ nur befeuert. Dass die Veröffentlichung des Albums von einer Reihe erotischer Merchandise-Artikel begleitet wird, passt da gut ins Bild.

Auch sehr gelungen: „Stalker“, das dem Titel und Inhalt entsprechend eine ziemlich finstere Stimmung verbreitet. „Knock knock / I am here for you / Who’s there? / Just the eternal fool“, singen Chris und Kat hier im Refrain und im Duet. Es würde mich nicht überraschen, wenn in diesem Stück nicht ein Stalker im klassischen Sinne gemeint wäre. Sondern vielleicht der im eigenen Kopf. Womit wir wieder bei den Dämonen angelangt wären …

Mit „Big Man“ gestattet sich Chris Corner wieder einen dieser Ausflüge in musikalisch gänzlich andere Gefilde, wie sie immer wieder mal auf einem IAMX-Album zu finden sind. Ich muss bei diesem Stück an Tim Burton-Filme, oder an fantastische Jahrmärkte mit speziellen Sideshows denken. Eine Freak-Show vielleicht oder eine eigenwillige Form von Varieté. Für mich ein prima Beispiel dafür, dass sich Chris Corners Musik auch für Filme eignet. Aber das haben auch schon andere erkannt. Einerseits machte er 2005 den Soundtrack zum Film „Sky Fighters“, andererseits ist das entzückend elektronische „Mile Deep Hollow“ in der Serie „How To Get Away With Murder“ zu hören gewesen. Als inzwischen 15. Song (!), der für die ABC-Serie verwendet wurde. Keine Frage, die Macher scheinen Fans zu sein. Wer, bitte schön, wollte ihnen das verübeln? Und wenn uns Chris Corner, Janine Gezang und Kat Von D. mit „The Power And The Glory“ wieder alleine lassen, im besten Fall mit dem Kopf voller Gedanken, dann tun sie das mit der ergreifendsten Ballade, die je unter dem Label IAMX veröffentlicht wurde. Musikalisch so gestaltet, dass es direkt an „Stardust“ anknüpft, damit sich die Platte ohne Bruch in Dauerschleife hören lässt. Was angesichts der hohen Güte von „Alive In New Light“ auch durchaus angebracht ist.

Um noch einmal das Zitat von Kat Von D. aufzugreifen, dass sie äußerst kreativ seien – ich möchte das an dieser Stelle so unterschreiben. „Alive In New Light“ ist ein erstklassiges (IAMX-)Album geworden. Möglicherweise fehlt es manchen Fans ein wenig an den Gassenhauern, die auf früheren Veröffentlichungen zu finden waren. Da sei entgegnet, dass dieses Album den Aufbruch in die nächste Stufe IAMX darstellt. Auf dieser Stufe gibt es das vielleicht nicht mehr, weil es womöglich nicht mehr dem künstlerischen Anspruch gerecht wird, Tanzflächenfüller zu schreiben. Nach meinem Dafürhalten stimmt aber die Richtung, die Corner hier eingeschlagen hat: Musik zu machen, die mit einer gewissen Portion Aufmerksamkeit gehört werden möchte. Zudem ist Kat Von D. eine erstaunlich sinnvolle Ergänzung für das Klangbild. Hätte ich so nicht vermutet. Ich bin gespannt, wohin die Reise mit IAMX noch hingehen mag, diese Etappe jedenfalls war schon mal sehr spannend!

Cover des Albums Alive In New Light von IAMX.
Erscheinungsdatum
23. Februar 2018
Band / Künstler*in
IAMX
Album
Alive In New Light
Label
Caroline International (Universal Music)
Unsere Wertung
4
Fazit
Um noch einmal das Zitat von Kat Von D. aufzugreifen, dass sie äußerst kreativ seien – ich möchte das an dieser Stelle so unterschreiben. „Alive In New Light“ ist ein erstklassiges (IAMX-)Album geworden. Möglicherweise fehlt es manchen Fans ein wenig an den Gassenhauern, die auf früheren Veröffentlichungen zu finden waren. Da sei entgegnet, dass dieses Album den Aufbruch in die nächste Stufe IAMX darstellt. Auf dieser Stufe gibt es das vielleicht nicht mehr, weil es womöglich nicht mehr dem künstlerischen Anspruch gerecht wird, Tanzflächenfüller zu schreiben. Nach meinem Dafürhalten stimmt aber die Richtung, die Corner hier eingeschlagen hat: Musik zu machen, die mit einer gewissen Portion Aufmerksamkeit gehört werden möchte.
Pro
Nach "Unfall" wieder ein klassisches IAMX-Album
Kat von D. mag streitbar sein, passt sich hier aber gut in das Gefüge ein
Kontra
Der Umfang scheint mir etwas sehr knapp bemessen zu sein
4
Wertung
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