Ein Portrait von Ben Lukas Boysen. Er steht seitlich von der Kamera abgewandt, hat leicht lächelnd den Kopf gesenkt und trägt einen schwarzen Mantel.

Musikvorstellung: Ben Lukas Boysen – Mirage

Foto: Patricia Haas

Es gibt Menschen, für die ist es inzwischen der gefühlt 512. Tag des Corona-Lockdowns und die Maßnahmen, die einerseits das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren und andererseits ältere, schwächere und kranke Gesellschaftsteilnehmer schützen sollen, kommen ihnen geradezu drakonisch vor. Das ist natürlich totaler Mumpitz. Ein Blick in europäische Nachbarländer reicht aus, um zu zeigen, wie sich die Dinge auch hierzulande hätten entwickeln können – und immer noch entwickeln können. Allerdings möchte ich an dieser Stelle gar keine Grundsatzdiskussion hinsichtlich Corona, dem Lockdown und dessen Folgen aufmachen. Mir geht es um einen anderen Twist in dieser Story. Eines der Themen, welches die Öffentlichkeit unseres Landes derzeit sehr zu interessieren scheint, ist das Thema Reisen. Gerade erst wurden weitere Reisewarnungen ausgesprochen. Unsere Bundesregierung wird Euch nicht an einer Ausreise hindern. Die Frage ist eher, welches Land derzeit Touristen mit Kusshand begrüßen wird. Spontan fallen mir keine ein. Corona ist schließlich überall ein Problem, nicht nur bei uns, auch wenn das manche zu vergessen scheinen. Wie dem auch sei: Niemand weiß, wann wir wieder in den Urlaub fahren können. Dabei braucht es für eine kleine Auszeit, eine kleine Flucht vom Alltag und der Realität manchmal gar nicht viel. Es reichen: ein gemütlicher Lieblingsrückzugsort in den eigenen vier Wänden (Sofa, Sessel, Bett, ganz egal), die Möglichkeit zur Musikwiedergabe und natürlich entsprechende Musik. Wie zum Beispiel „Mirage“, das neue Album des Berliner Komponisten und Produzenten Ben Lukas Boysen. Eine schönere Dreiviertelstunde Weltanhalten wird es in diesem Mai sehr wahrscheinlich nicht geben.

Das letzte Mal, als wir uns auf diesem Blog über das Tun von Ben Lukas Boysen unterhielten, war das im Rahmen seiner Tätigkeit als Produzent des Lionhearts-Debütalbums. Wer sich schon länger mit dem Tun von Herrn Boysen beschäftigt, wird bestätigen können, dass der Soundtüftler einer von dieser Sorte ist, wie sie nur schwer ein zweites Mal zu finden sein dürfte. Jedes Mal, wenn ich mir einen Song aus seinem Schaffen anhöre, frage ich mich, wie viel Zeit wohl in dessen Entstehung geflossen sein mag. Ein wenig fehlt mir die Vorstellungskraft dafür. Gleichwohl bewundere ich diese absolute Hingabe an die Musik, die mich ob ihrer Detailversessenheit diesen Mann auf dem Olymp bester zeitgenössischer Komponisten weit, weit nach oben hieven lässt.

„Mirage“, das dritte Album von Boysen, das unter seinem richtigen Namen erscheint, ist ein Paradebeispiel dafür, wie viel Feinschliff einem Song angedeihen kann. Und das sechsmal in Folge. Richtig gelesen, „Mirage“ beinhaltet lediglich sechs Titel bei einer Spielzeit von rund 43 Minuten. Das sieht geschrieben nicht sonderlich üppig aus. Aber glaubt mal – diese Dreiviertelstunde ist gelungener, verdichteter, intensiver und handwerklich perfekter als so manch anderes Album, das in Titelzahl oder Spielzeit auf eine Stunde oder mehr aufgebläht wurde.

„Viele der Elemente und Instrumente, die man auf dem Album hören kann, sind entweder nicht das, für was man sie hält – oder sie sind genau das, verhalten sich jedoch ganz anders.“ (Ben Lukas Boysen)

Auf dem letzten Album von Boysen, „Spells“, war es sein Bestreben, Musik zu schaffen, die nicht mehr zu unterscheiden sei von handgespielter Musik. „Mirage“ hingegen verfolgt ein komplett gegensätzliches Ziel: „Viele der Elemente und Instrumente, die man auf dem Album hören kann, sind entweder nicht das, für was man sie hält – oder sie sind genau das, verhalten sich jedoch ganz anders. Oder es sind Elemente, die man ganz sicher kennt, doch sie sind versteckt, verändert, verformt in etwas anderes. Bei Spells und Gravity habe ich versucht, die Maschinen zu verstecken. Auf Mirage versuche ich nun, das Menschliche zu verbergen“.

Das klingt gleichzeitig spannend, irgendwie mysteriös und doch auch nichtssagend? Lasst es mich an ein paar Beispielen verdeutlichen: In „Kenotaph“ beispielsweise hören wir ziemlich prominent ein Klavier. Allerdings … glauben wir nur, ein Klavier zu hören. Dabei sind es zwei Instrumente, die sich da den Weg in unseren Gehörgang bahnen. Und damit nicht genug: Diese zwei Instrumente wurden in unterschiedlichen Ländern aufgenommen, eines davon war akustisch und das andere digital!

„Mirage“ ist ein rein instrumentales Album? Aber nicht doch! „Empyrean“ beinhaltet eine Gesangsnote von Lisa Morgenstern, die im Verlauf des Songs in unterschiedliche Akkorde aufgespalten wurde. Und wer in „Medela“ das von Daniel Thorne gespielte Saxofon heraushören kann, bekommt von mir einen Sherlock ins Muttiheft gemalt! Niemals hätte ich vermutet, wie sehr man echte Instrumente verfremden kann, sodass es einerseits noch Sinn ergibt und andererseits daraus etwas völlig anderes bzw. neues entsteht. Man muss schon sehr genau wissen, was man tut. Das Ben Lukas Boysen einen Plan hat, dürfte allerspätestens jetzt deutlich geworden sein. „Ich wollte experimentieren und versuchen, diese Aufnahmen mit 100 % künstlichen Elementen zu verbinden. Dabei ging ich oftmals so weit, dass ein Instrument zu einer Abstraktion seiner selbst wurde, dass sich der Beitrag eines Musikers an einem Song eher wie ein zentraler DNA-Strang des Stücks anfühlt, aber nicht mehr wie eine deutlich erkennbare Spur“, sagt er. Das Ergebnis ist manchmal ein wenig überwältigend!

„Der Beitrag eines Musikers an einem Song sollte sich eher wie ein zentraler DNA-Strang des Stücks anfühlen, aber nicht mehr wie eine deutlich erkennbare Spur.“ (Ben Lukas Boysen)

Ich sagte ja anfangs, für eine Reise jenseits der herrschenden Realität braucht es im Prinzip nicht viel: Ruhe, einen Rückzugsort und „Mirage“. Es überrascht in dem Zusammenhang nicht, dass Boysen zusammen mit seinen Label-Kollegen Högni Egilsson, Michael Price sowie Wissenschaftlern der Londoner Goldsmiths University am „Brainwaves“-Projekt mitwirkte, die eine Verbindung von Klang und Bewusstseinszuständen untersuchte. So wie man mit Düften das Unterbewusstsein beeinflussen kann oder mit sublimen Botschaften in Videos, so bin ich felsenfest davon überzeugt, dass sich auch mit Tönen und Klängen das Bewusstsein manipulieren lässt. Neben dem Umstand, dass „Mirage“ technisch, handwerklich und inhaltlich ein sensationelles Album geworden ist – eines von so hoher Güte, wie wir sie im Corona-Jahr 2020 vermutlich nicht allzu oft erleben werden – ist es auch das Ticket zu einer Gedankenreise. Und das mag durchaus vom Schöpfer so gewollt gewesen sein. Aber wer wollte sich in diesem Fall ernsthaft darüber beschweren? Eben.

Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wenn man sich ganz auf dieses Kunstwerk einlassen kann, dann ist man ziemlich schnell irgendwo anders. Keine Ahnung, wo und was das bei Euch ist – die letzte Urlaubsreise in die Berge, der letzte Roadtrip, Bagpacker-Urlaub mit dem Rucksack in Neuseeland oder was auch immer – bei mir ist es wenig überraschend ein Schiff, dass sich durch die gefühlte Unendlichkeit eines Meeres schiebt. Allein das Stück „Love“ klingt so sehr nach neuen Ufern, nach Entdeckungen, nach Zuversicht, nach Hoffnung, dass es mich an Orte und Zeiten zurückbringt, als die Welt noch in ihren Fugen zu sein schien und nichts außer dem Himmel die Grenze war. Wir werden diese Krise überstehen, wir werden auch wieder reisen. Und bis dahin ist „Mirage“ eine denkbar gute Begleitung durch harte Zeiten. Abschließend sei noch erwähnt: Hinsichtlich der Musik und ihrer Entstehung konnte der Titel des Albums kaum treffender gewählt worden sein.

„Mirage“ ist ein dolles Ding! Es ist so viel mehr, als es auf den ersten Hör zu sein scheint. Jedes der hier versammelten sechs Lieder bietet so viel Möglichkeiten, es in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen, zur Entführung an einen anderen Ort und in eine andere Zeit und darüber hinaus viel Platz für Spekulationen zu bieten wie: Ist das nun echt? Oder erliege ich gerade einer Täuschung und das Klavier, das ich für eines hielt, ist gar keins? Man muss definitiv kein ausgemachter Fan von (vermeintlich) rein instrumentalen Alben sein, um sich von „Mirage“ aus den Latschen kicken zu lassen. Was Ben Lukas Boysen mit diesem Album geschaffen hat, wird in diesem Jahr hinsichtlich technischer Raffinesse, Ideenreichtum und Einzigartigkeit wohl nur schwer zu übertreffen sein. Ein unfassbares Album, das schönste Trugbild des Jahres!

Cover des Albums Mirage von Ben Lukas Boysen.
Erscheinungsdatum
1. Mai 2020
Band / Künstler*in
Ben Lukas Boysen
Album
Mirage
Label
Erased Tapes
Unsere Wertung
3.8
Fazit
„Mirage“ ist ein dolles Ding! Es ist so viel mehr, als es auf den ersten Hör zu sein scheint. Jedes der hier versammelten sechs Lieder bietet so viel Möglichkeiten, es in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen, zur Entführung an einen anderen Ort und in eine andere Zeit und darüber hinaus viel Platz für Spekulationen zu bieten wie: Ist das nun echt? Oder erliege ich gerade einer Täuschung und das Klavier, das ich für eines hielt, ist gar keins? Man muss definitiv kein ausgemachter Fan von (vermeintlich) rein instrumentalen Alben sein, um sich von „Mirage“ aus den Latschen kicken zu lassen.
Pro
Selten passte ein Titel so gut zu einem Album wie in diesem Fall!
Es ist erstaunlich, wie sehr man Instrumente und Stimmen verfremden kann, um daraus etwas Anderes/Neues entstehen zu lassen
Sechs Titel mögen sich nach wenig anhören, reichen aber mehr als aus, um für eine kurze Weile der Realität zu entfliehen
Kontra
3.8
Wertung
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