Anja Adam von Adam is a Girl.

Musikvorstellung: Adam is a Girl – Now Or Never

Foto: Rafał Drosik

Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Viel ist passiert seit 2013. Allein was sich bei mir im privaten Bereich abspielte, würde ausreichen, ganze Bände zu füllen. Ich bin mir sicher, bei Euch sieht das nicht anders aus. Von globalen Ereignissen ganz zu schweigen. Das Rad der Zeit dreht sich immer schneller und momentan kommt es mir so vor, als würden sich die Ereignisse sehr darum bemühen, sich zu überschlagen. Während wir also fast zur Mitte des Jahres 2020 immer noch mit Corona und dessen Folgen zu tun haben und man wegen der Entwicklungen drüben in den Vereinigten Staaten inzwischen nationale und internationale bewaffnete Konflikte mehr als fürchten muss, ist sicher nicht nur mir jedwede Flucht aus dieser schwierigen Wirklichkeit mehr als willkommen. Eine Flucht, wie sie das neue Album „Now Or Never“ von Adam is a Girl ermöglicht.

Ich möchte kurz mal das besagte Rad der Zeit zurückdrehen. 2013 war das Jahr, in dem wir immer noch mit der Eurokrise zu tun hatten. Whistleblower Edward Snowden hatte mit der Enthüllung des Überwachungsprogramms PRISM bekannt gemacht, was wir vermutlich ohnehin alle schon wussten (und was trotzdem nichts daran änderte), Xi Jinping wurde Staatspräsident von China, in Oberursel wurde die AfD gegründet und Papst Benedikt XVI. verzichtete auf sein Amt im Vatikan. Also auch damals konnte man schon sagen: Oh weh, wo soll denn das alles nur hinführen?!

2013 war aber auch das Jahr, in dem Avalost an den Start ging. Der Startschuss für diesen Blog hier erfolgte während eines Konzert von Projekt Pitchfork in der einstigen Meier Music Hall in Braunschweig. Und, um endlich mal zum Punkt zu kommen: 2013 war auch das Jahr, in dem ich Adam is a Girl kennenlernte. Es war quasi die Wirklichkeitswerdung eines Ausspruchs von Steve Jobs, der dereinst sinngemäß sagte, dass wir Punkte nicht vorausschauend verbinden können, sondern immer nur zurückblickend. Connecting the dots. Vielleicht würde ich die Adams heute nicht kennen – oder zumindest mich so mit ihrem Tun verbunden fühlen – wenn ich in jenem Jahr nicht über das damals aktuelle Album von Silly geschrieben hätte und damit den Musiker und Produzenten Bodo Kommnick auf den Plan rief. Er hatte jenen Text gelesen und machte mich auf ein (damals noch als Duo agierendes) Gespann aufmerksam, von dem er glaubte, dass mir dessen Tun gefallen könnte. Oh, und das tat es! In der Review zum Debütalbum „Of Daydreams And Nightmares“ war ich voller Begeisterung und Lob; im Januar des darauffolgenden Jahres besuchte ich das allererste Konzert von Adam is a Girl im Berliner Privatclub. Und seitdem verfolge ich das Geschehen von Adam is a Girl ziemlich genau.

Einerseits, weil mir Anja und Alex privat im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen sind, andererseits weil ich ihre Musik als echte Bereicherung ansehe. Und nun, beinahe genau sieben Jahre, nachdem wir uns hier über „Of Daydreams And Nightmares“ unterhalten haben, werfen wir einen Blick auf das Nachfolgewerk „Now Or Never“.

Der Titel ist sicher kein zufälliger und bei Weitem nicht so beliebig gewählt, wie er vielleicht bei flüchtiger Betrachtung erscheinen mag. Schaut man zurück auf die letzten sieben Jahre der Adams, dann ist auch bei ihnen vieles passiert. Ich erinnere mich an ein wunderbares Kleinstkonzert in Hamburg, noch ziemlich zu Anfang ihrer Karriere. Es folgten ziemlich schnell wesentlich größere Veranstaltungen, unter anderem im Kesselhaus in der Berliner Kulturbrauerei im Rahmen von Synthpop goes Berlin, wo auch Mesh, De/Vision, Forced To Mode, Beborn Beton oder auch Empathy Test spielten. Und wäre Corona nicht dazwischengekommen, würden Adam is a Girl dieses Jahr beim M’era Luna Festival auftreten. So tun sie es eben nächstes Jahr. Der Berliner Radiosender radioeins spielte Adam is a Girl in der regulären Show Elektro Beats. Vor allem in der Düsterszene namhafte Künstler fertigten Remixe an. Zuletzt Sven Friedrich von Solar Fake. Was ich damit sagen will: Die mit Shakya Sunil zum Trio gewachsene Band hat ihren Weg gemacht. Mit Fleiß, mit Hartnäckigkeit, mit Sympathie und vor allem auch mit guter Musik. Man denke nur an den Überflieger „Soldier“ (2016), der vermutlich die meisten Türen aufgestoßen hat.

Und doch kam es nie zu einem Plattenvertrag bei einem Label, nie zu Airplay bei irgendwelchen Radiosendern, Webradios vielleicht mal ausgenommen. Die Adams aber ließen sich davon nicht unterkriegen, schließlich war in den Jahren eine Fanbase geschaffen worden. Sie beschlossen, das nächste Album in Eigenregie zu produzieren und von den Fans finanzieren zu lassen. Crowdfunding, nicht nur für Adam is a Girl ein probates Mittel, um die künstlerischen Visionen ohne Kompromisse umsetzen zu können. Spontan fällt mir Alexander Kaschte ein, der seit Jahren auf diesem Wege Veröffentlichungen von Samsas Traum ermöglicht. Oder besser: Ermöglichen lässt.

Kickstarter statt Plattenvertrag

Nun, die Kickstarter-Kampagne von Adam is a Girl war erfolgreich und jetzt endlich, nach sieben Jahren, mit der ein oder anderen Single, EP oder einem Video, dessen zugehöriger Song sonst nirgendwo veröffentlicht wurde (das Cover von Roxettes „Spending My Time“ aus den sogenannten Attic Sessions sei hier als Beispiel genannt) ist die Zeit gekommen für Album Nummer 2. „Now Or Never“. Oder anders gesagt: jetzt aber!

Adam is a Girl leiten das Album mit dem nahezu instrumentalen Intro „Before We Drown“ ein und verbreiten direkt zum Auftakt schon mächtig Atmosphäre! Es fällt nicht schwer, sich Konzerte vorzustellen, bei denen diese Nummer ebenfalls als Intro dient, in dessen Verlauf sich die drei Protagonisten auf der Bühne versammeln und die anwesenden Fans erstmals in Gejubel ausbrechen. Gleichzeitig stemmen sie damit die Tür auf zu einer musikalischen Reise, die 2020 ihresgleichen sucht.

Das nachfolgende „Mercy Of The Waves“ ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits ist es flotter Uptempo-Pop, das bei dem eben erwähnten Konzert in der gleichen Reihenfolge wie auf dem Album gespielt werden könnte, schließlich ist es wie geschaffen dafür, Konzertgänger*innen einzuheizen. Andererseits macht sich hier bemerkbar, dass die Adams zumindest hinsichtlich der Songtitel eine ausgeprägte Affinität zu maritimen Dingen entwickelt zu haben scheinen. Und: Sie leben ihren latenten Hang zur (Synth-)Pop-Mucke der 1980er. Als wäre das noch nicht genug, sind da auch noch die Lyrics, die man gerne so verstehen kann wie einen freundlichen Tritt in den Hintern, den Kopf nicht hängenzulassen, sondern Verantwortung zu übernehmen und seinen Mann zu stehen. Als Papa, der in der Coronakrise seinen Job verloren hat und vor dem Nichts stand, kann ich gut nachvollziehen, wenn Anja singt: „This is it / you don‘t even fight / you seek relief so you close your eyes / your inner voice knows that I‘m right / you don‘t wanna hear me teachin’ and preachin’ / your critics they should hear you roar / you owe me that and even more / you need to stop giving up / you need to fight for us“. Aufstehen und kämpfen ist eben manchmal nicht so leicht. Die Motivationshymne dazu kommt von Adam is a Girl.

„Up And Down“ ist eine der schönsten Midtempo-Nummern, welche die Band jemals gemacht hat. Sag’ ich mal so. Zumal es mir außerordentlich gut gefällt, wie Anja hier mit ihrer tollen Stimme arbeitet. Sie singt: „So breathe in, my darling, breathe out / forget all your troubles in this car / I will drive you around“ und vermutlich wird sie andere Dinge im Sinn gehabt haben, aber mich lässt es – Corona sei Dank – an Situationen denken, an denen ich meine Familie innerhalb des erlaubten Bewegungsradius durch die Gegend in Richtung unseres Gartens kutschiert und ihnen gut zugeredet habe. Quasi der Gegenentwurf zum Szenario vom Song zuvor.

Anderes Beispiel: das bereits vorab ausgekoppelte (und von Sven Friedrich geremixte) „Insomnia“. So eine wunderbare, luftige Pop-Nummer mit bittersüßem, melancholischem Anstrich habe ich schon lange nicht mehr hören dürfen. Von der großartigen musikalischen Ausgestaltung abgesehen ist es auch der Inhalt, der mich über die Maßen begeistert. „I cannot change it / the love we get, I can’t embrace it / insomnia takes a toll on me“, singt Anja hier und weiter: „I don‘t feel right / no, I don‘t feel fine“. Selten wurde wohl innere Zerrissenheit und tieferliegende psychologische Probleme wie Depressionen auf so wunderbare Weise umgesetzt wie hier.

Bittersüßer Wehmut und auf Wiedersehen, Berlin

Und dann ist da noch „Goodbye Berlin“. Ein Abgesang auf die Heimat der Adams. Ihr müsst wissen (sofern Ihr es nicht ohnehin schon wisst): Berlin ist meine Geburtsstadt, inzwischen habe ich in vielen Städten in Deutschland gelebt und gearbeitet. „Goodbye Berlin / goodbye my childhood / farewell my friend / we are out of sight again / goodbye Berlin / goodbye my childhood / farewell my friend / we might fall in love again“, heißt es hier. Als ehemaliger Berliner kann ich das alles nur zu gut nachvollziehen, wenn man dieser trubeligen Großstadt den Rücken kehrt. Weil man sich nicht mehr heimisch fühlt, weil man sich in ihr verloren vorkommt. Ironischerweise erreicht mich dieses Lied in einer Zeit, in der ich vorsichtig versuche, wieder einen Fuß in Richtung der alten Heimat auszustrecken.

Sehen wir mal von den gelungenen Inhalten ab, so ist „Now Or Never“ auch musikalisch ein echtes Schmankerl geworden. Produziert haben die neue Platte Carsten Schedler, Sascha Beator und Alex von den Adams, Mix und Mastering hat Nico Wieditz übernommen. Und alle Beteiligten haben sich unheimlich Mühe damit gegeben, ein Album zu liefern, das über einen enorm luftigen, sehr dynamischen Sound verfügt und hinsichtlich der musikalischen, verspielten und detailverliebten Ausgestaltung und der dezent wehmütigen Stimmung wie gemacht zu sein scheint für einen Sommer, den wir uns anders vorgestellt haben. Der vielleicht nicht stattfindet.

Zunächst haben Adam is a Girl sich sehr darum bemüht, in der Düsterszene Fuß zu fassen. „Now Or Never“ hat allerdings das Zeug dazu, auch Hörer*innen darüber hinaus abzuholen und zu begeistern. Ich möchte mich kurz mal aus dem Fenster lehnen: Dieses Album gehört zu den schönsten Pop-Alben des Jahres 2020 und darf sich an diesem an Negativ-Highlights nicht armen Jahr als positives Highlight feiern lassen!

Sieben Jahre in der Zukunft werden wir uns vielleicht darüber unterhalten, was in diesem Jahr alles für die Tonne war. Dieser Orange im weißen Haus, der die Welt scheinbar am liebsten brennen sehen möchte. Corona. Und weiß ich nicht noch alles. Aber auch das wird man 2027 hoffentlich sagen: Es war ja nicht alles kacke im Jahr 2020. Es gab auch Dinge, die gut waren. Dinge wie „Now Or Never“. Ich wünsche den Adams und ihrem zweiten Album größtmöglichen Erfolg und größtmögliche Aufmerksamkeit. Hinsichtlich des Titels, der ein wenig wie ein Schicksalsspruch über die weitere Zukunft der Band zu schweben scheint, sei gesagt: Now! Not never. In jeder Hinsicht.

Es ist eine ganze Weile her, dass ich mich über ein Album so gefreut habe, wie über „Now Or Never“. Und ich kann gar nicht mal genau sagen, über was ich mich mehr freue: über die maritimen Anspielungen in den Titeln? Kommt mir als olle Wasserratte sehr entgegen. Über die Texte, die mit wenigen Worten so viel ausdrücken können? Über die wahnsinnig tolle Produktion, die selbst bei hochwertigen Anlagen überzeugende Erlebnisse liefert? Sind es vielleicht die Melodien? Die dezenten, aber nicht zu überhörenden Anleihen an den Sound der 80er-Jahre? Anjas Gesang? Oder ist es am Ende ganz profan die Summe aus alledem? Völlig bums! Am Ende steht mit „Now Or Never“ ein Album für alle Musikhörenden bereit, die sich gerne für eine gute halbe Stunde in andere Welten entführen lassen. Das Jahr 2020 hat hiermit wohl das Pop-Album des Jahres bekommen. Vielen Dank an Anja, Alex und Shakya, ich ziehe meinen Hut!

Cover des Albums Nor Or Never von Adam is a Girl.
Erscheinungsdatum
5. Juni 2020
Band / Künstler*in
Adam is a Girl
Album
Now Or Never
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Es ist eine ganze Weile her, dass ich mich über ein Album so gefreut habe, wie über „Now Or Never“. Und ich kann gar nicht mal genau sagen, über was ich mich mehr freue: über die maritimen Anspielungen in den Titeln? Kommt mir als olle Wasserratte sehr entgegen. Über die Texte, die mit wenigen Worten so viel ausdrücken können? Über die wahnsinnig tolle Produktion, die selbst bei hochwertigen Anlagen überzeugende Erlebnisse liefert? Sind es vielleicht die Melodien? Die dezenten, aber nicht zu überhörenden Anleihen an den Sound der 80er-Jahre? Anjas Gesang? Oder ist es am Ende ganz profan die Summe aus alledem? Völlig bums! Am Ende steht mit „Now Or Never“ ein Album für alle Musikhörenden bereit, die sich gerne für eine gute halbe Stunde in andere Welten entführen lassen.
Pro
Toller, luftiger und dynamischer Sound! Großartige Produktion!
Die diversen Anleihen an die 1980er-Jahre stehen den Adams gut
Tolle Texte,von Anja mit nochmals gesteigter Intensität vorgetragen
Kontra
Mit einer knappen halben Stunde und drei Songs, die nicht einmal die 3-Minuten-Marke knacken, im Umfang etwas dünn - das schreit nach Extended Versions
4.4
Wertung
Vorheriger Artikel

Betreff: Facebook Challenge „10 Alben, die deinen Musikgeschmack beeinflussten“ – meine Geschichten hinter diesen zehn Alben

Nächster Artikel

Angespielt: Command & Conquer Remastered Collection

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lies als nächstes