Ein Portraitfoto von Sebastian Lee Philipp von Die Wilde Jagd. Er blickt direkt in die Kamera und trägt eine pinkfarbige Jacke.

Im Gespräch: Interview mit Sebastian Lee Philipp von Die Wilde Jagd anlässlich der Veröffentlichung von „ophio“

Foto: Richard Hancock

Wer sich für Musik begeistern kann, die ihre Geheimnisse nicht direkt beim ersten Hören offenbart, sondern erst nach und nach erobert werden möchte, wird vermutlich früher oder später auf Die Wilde Jagd stoßen. Im Februar erschien „ophio“, das jüngste Album des Projekts, und für all diejenigen unter Euch, die sich zu den musikalischen Forscher*innen zählen, die sich an noch so kleinen und feinen Details erfreuen können, sind das rund 53 Minuten purer Genuss. Ich verfolge das Tun von Sebastian Lee Philip, dem kreativen Geist hinter Die Wilde Jagd, schon seit den seligen Zeiten von Noblesse Oblige (dem musikalischen Duo, welchem er zuvor angehörte). Die herausragende Güte von „ophio“ habe ich zum Anlass genommen, um mit Sebastian ein kleines Gespräch anlässlich der Veröffentlichung des Albums zu führen.

Roman Empire: Was ist die Idee hinter „ophio“? Das ist ja nicht unbedingt ein alltäglicher Begriff. Und was hat es mit diesen Schlangenbildern auf sich, die sich wie ein roter Faden durch das Album ziehen? Erzähle mir ein bisschen über die Hintergründe und das Konzept des Albums.

Sebastian Lee Philipp: Ophis ist Griechisch für Schlange, Ophiologie ist die Schlangenkunde. Also Ophio ist das Präfix für alles, das mit Schlangen zu tun hat. Mit dem Thema der Transzendenz aus dem Gerüst unseres Körpers heraus – die Haut bildet ja quasi diese Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren unseres Körpers – hatte ich mich schon auf dem Vorgängeralbum „Haut“ beschäftigt. Dieses Thema liegt mir noch immer nah, und wie kein anderes Lebewesen verkörpert für mich die sich häutende Schlange das Konzept des Abstreifens der Haut, der Erneuerung, der vielen Wiedergeburten und Transformationen innerhalb unseres Lebens. Auch der Ouroboros, das Symbol der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, steht für die Anfänge und Enden, die Kreisläufe, die wir in unserem Sein erleben. Zudem gefällt mir das Wort optisch, diese zwei Kreise vorn und hinten. Und auch phonetisch klingt es für mich wie der Name einer Person oder eines Zustands, der besungen werden kann.

Roman Empire: Das letzte reguläre Album war das 2020er-Werk „Haut“. Es folgte der Beitrag für das niederländische Roadburn Festival „Atem“. Dazwischen aber vor allem: die Pandemie. Hatte es einen Einfluss auf Dich als Künstler und Musiker? Wenn ja, welchen? Ich hörte von Musikschaffenden, die dank der schleppenden Unterstützung von Kunst und Kultur durch den Staat gerade so über die Runden gekommen sind.

Sebastian Lee Philipp: Ich hatte das große Glück, während der Pandemie mit der Auftragsarbeit für das Roadburn Festival in Holland beauftragt worden zu sein. Daraus entstand „Atem“, das am 7. April 2021 als Livestream in Tilburg Premiere feierte. Die Arbeit an dieser Komposition hielt mich während der Corona-Zeit beschäftigt und motiviert. Wie in Vor-Pandemie-Zeiten befand ich mich fast andauernd im Studio, nur die Live-Konzerte fehlten natürlich. Auch wenn ich nicht für alle sprechen kann, denke ich, dass sich Kunstschaffende in Deutschland grundsätzlich nicht über fehlende Unterstützung während der Pandemie beklagen konnten. Aber wie sehr die längerfristigen Nachwirkungen der Pandemie die Musik- und Kunstwelt beeinflussen werden, psychologisch, finanziell und anderweitig, auch mit Blick auf die momentanen Krisen und Unsicherheiten, wird sich wohl noch zeigen.

„Seit 2018 hatte ich einige sehr intensive Bewusstseinserfahrungen, die einen großen Einfluss auf mein Denken und Schaffen hatten und mich seitdem prägen.“

Roman Empire: Um noch einmal das Thema Einflüsse zu vertiefen: Teil des Konzepts von Die Wilde Jagd scheint es zu sein, die in den Titeln von Alben und Songs sowie in den Texten enthaltenen Botschaften den Hörenden nicht auf dem Silbertablett zu servieren, sondern sie hinter Wortschöpfungen bzw. nicht ganz so gebräuchlichen Begriffen wie eben „ophio“ oder auch „Ginsterblut“, „Flederboy“ oder „Perseveranz“ zu verstecken. Deswegen lautet die Frage also: Was inspiriert Dich? Woher nimmst Du die Themen, die Du auf in den Songs bearbeitest? Haben sie Anknüpfungspunkte an aktuelle Themen, sind sie historisch, religiös oder mythologisch inspiriert oder ist das ein Konglomerat aus all diesen Dingen?

Sebastian Lee Philipp: Die Inspiration für meine Musik und Texte stammt aus vielen unterschiedlichen Quellen. Die Idee zu „Ginsterblut“ entstand zum Beispiel, als ich in Portugal durch ein Tal voller Ginster lief. Ein lokaler Freund erzählte mir, dass die Pflanze für gewisse Tiere, darunter wohl Hunde, giftig sei. Dies entwickelte sich dann zu der Idee einer Person, die sich aus Herzschmerz mit dieser Pflanze vergiftet. In „Perseveranz“ habe ich Audio-Aufnahmen des Mars-Rovers „Perseverance“ benutzt, die die NASA der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat. Der Titel war aber auch als kleines Augenzwinkern gemeint, da mir Leute oft sagen, dass sie beim Hören meiner Musik eine gewisse Geduld oder Durchhaltevermögen aufbringen müssen.
Seit 2018 hatte ich einige sehr intensive Bewusstseinserfahrungen, die einen großen Einfluss auf mein Denken und Schaffen hatten und mich seitdem prägen. Auf „Haut“, „Atem“ und auch „ophio“ habe ich versucht, diese Erfahrungen, die Gefühle, die sie erzeugt und vermittelt haben, in musikalische und textliche Formen zu bringen.

Roman Empire: Neben der Liebe zum Detail und der Akribie, mit der jeder Ton punktgenau platziert wirkt, und zwar in einem Maße, als könne er nur hier und nirgendwo anders existieren, fällt auch die herausragende Produktion immer wieder positiv auf. Und das wiederum so sehr, dass ich mich frage: wie perfektionistisch sind die da bei Die Wilde Jagd eigentlich? Wie lange dauert das ungefähr, bis ein Song im Kasten ist? Und wie und wann merkt Ihr: ok, jetzt ist es gut so, wie es ist?

„Mein Sofa ist mein wichtigstes Studio-Tool.“

Sebastian Lee Philipp: Tatsächlich verbringe ich viel Zeit mit jedem einzelnen Stück, auch wenn der eigentliche Arbeitsprozess für mich sehr impulsiv und intuitiv ist. Die Grundidee, also das Gefühl, das ich mit den jeweiligen Songs und einem Album vermitteln möchte, ist mir immer sehr schnell klar. Ein Großteil der Arbeit besteht für mich darin, nach endlosen Aufnahmen die Produktion wieder auf das Wesentliche zu reduzieren. Die meiste Zeit verbringe ich damit, in meine Aufnahmen reinzuhören und herauszufinden, wie das jeweilige Stück werden kann, was es werden muss. Oft mache ich das, indem ich mich im Studio schlafen lege, und die Musik leise im Hintergrund laufen lasse. Hier formieren sich die folgenden Entscheidungen quasi von selbst. Mein Sofa ist mein wichtigstes Studio-Tool.

Foto von Sebastian Lee Philipp, er scheint zu liegen und sich auf den linken Ellenbogen aufzustützen. Er trägt einen orangefarbenen Pullover und blickt direkt in die Kamera.
Foto: Richard Hancock

Roman Empire: Inzwischen assoziiert man wohl vor allem Dich mit dem Projekt, ganz zu Beginn wurde es noch als eine Art Gemeinschaftsprojekt von Dir und Ralf Beck verkauft. Davon ist in den Pressetexten heute nicht mehr die Rede. Dennoch gibt es immer wieder Musiker*innen, mit denen Du zusammenarbeitest. So zum Beispiel Ran Levari, Lih Qun Wong oder Nina Siegler. Kannst Du mir ein wenig darüber erzählen, wie die Songs entstehen, wie die Arbeitsteilung aussieht und so weiter? Also quasi einen kleinen Einblick in den Workflow Marke Die Wilde Jagd gewähren?

Sebastian Lee Philipp: Die Band hat sich nach der ursprünglichen Zusammenarbeit mit Ralf durch veränderte Lebensumstände auf eine sehr organische Weise von Album zu Album mehr und mehr zu meinem Solo-Projekt entwickelt. Von Ralf habe ich während unserer gemeinsamen Anfangszeit und der Arbeit in seinem Studio „Uhrwald Orange“ – nach dem ich ja auch das zweite Album benannt habe – viel gelernt, und ich weiß ihn weiterhin als sehr guten Freund und Berater zu schätzen. Oft wende ich mich während einer Produktion an ihn, um sein Feedback einzuholen. Die finalen Mix-Versionen von „ophio“ habe ich zum Beispiel auch mit ihm im Uhrwald Orange Studio abgeschlossen. Mir ist bewusst, dass das Bandformat – vor allem für Leute, die das Projekt seit Beginn an kennen – etwas verwirrend sein kann. Auch die Tatsache, dass ich im Studio grundsätzlich alleine arbeite, dann aber auf der Bühne mit Schlagzeuger, und seit 2021 auch mit einer Cellistin auftrete. Ran Levari spielt seit 2018 Drums bei den Konzerten, und seit 2020 auch auf den Alben. Mit Lih Qun Wong arbeite ich seit der Aufführung vom „Atem“ zusammen. Zwischen uns hat sich schnell eine enge Freundschaft entwickelt, die sich auf „ophio“ sehr bemerkbar gemacht hat. Ihr Cello und ihre Stimme sind omnipräsent, und auf „The Hearth“ spricht sie unter ihrem Pseudonym Lihla einen von ihr geschriebenen Text. Auch mit Nina Siegler verbindet mich eine enge Freundschaft. Ihre Stimme in „Himmelfahrten“ gehört für mich nach wie vor zu den schönsten Aufnahmen, die ich machen durfte. Sofern es unsere räumliche Nähe zueinander erlaubt, versuche ich, sie immer in Aufnahmen für Die Wilde Jagd mit einzubinden.

Um aber auf Deine Frage des Workflows zurückzukehren, ist es so, dass ich die Stücke recht weit entwickle, bevor ich die oben genannten Personen mit einbeziehe, in dem Sinne bin ich also ein Control Freak, allerdings wende ich mich nun langsam von dieser Haltung ab. Auf dem neuen Album fanden ja neben der Zusammenarbeit mit Lihla (auf „The Hearth“) auch noch weitere Kollaborationen statt, zum Beispiel mit Vactrol Park („In Wonnenhieben“) und Philipp Otterbach („Kelch“).

Roman Empire: Wenn ich mir noch einmal das Debüt anhöre – ich halte das auch heute noch für ganz, ganz große Kunst übrigens! – und es mit „ophio“ vergleiche, dann fällt auf, dass es früher bei Die Wilde Jagd sehr viel rhythmischer, teils auch melodischer zuging und sich die Musik von Veröffentlichung zu Veröffentlichung immer mehr in Richtung atmosphärischer, manchmal möchte ich fast sagen: ernsthafter, Musik entwickelt. Sind das bewusste Entscheidungen, entwickelte sich das aus Stimmungen heraus oder ist Die Wilde Jagd eine Art Experimentierkasten, um mal zu gucken, was möglich ist?

„Im Laufe der Zeit interessierte ich mich aber mehr und mehr für das Reduzieren der wahrzunehmenden Impulse in der Musik.“

Sebastian Lee Philipp: Ich glaube, dass mein Grundkonzept, also die dynamische Entwicklung von Loops und Sequenzen, und in gewisser Weise auch die Strukturen von den eher Lied-orientierten Stücken, gleich geblieben ist. Im Laufe der Zeit interessierte ich mich aber mehr und mehr für das Reduzieren der wahrzunehmenden Impulse in der Musik. Überhaupt interessiere ich mich zunehmend für das Wesentliche in den einzelnen Klängen, auch in den Aufnahmen meiner Texte, frei von Effekten und Beschönigungen. Auf „ophio“ wollte ich mehr denn je eine gewisse Fragilität, das Menschliche, erscheinen lassen.

Roman Empire: Was ist eigentlich aus Noblesse Oblige geworden? Das letzte Album, „Affair of the Heart“, feiert in diesem Jahr zehntes Jubiläum. Wäre es da nicht mal an der Zeit, mit neuer Musik um die Ecke zu kommen? Oder ist das Thema endgültig abgehakt?

Sebastian Lee Philipp: Auch wenn das Thema nie endgültig abgehakt wurde, haben meine Noblesse Oblige Bandpartnerin Valerie Renay und ich verschiedene, eigene Wege in unserem künstlerischen Schaffen eingeschlagen, in denen wir uns auch sehr wohlfühlen. Wir sind nach wie vor sehr gut befreundet und uns sehr verbunden. Auf dem jüngsten „ophio“ Release Konzert in Berlin eröffnete Valerie mit ihrem Solo-Projekt den Abend – es war eine große Freude, auf diese Art wieder eine Bühne zu teilen.

Roman Empire: Jetzt, wo „ophio“ veröffentlicht ist und seine Reise in die Ohren und Herzen der Hörenden antritt, bleibt die Frage: Was kommt als Nächstes? Hast Du schon Ideen oder Pläne? Vielleicht eine Live-Darbietung des Albums?

Sebastian Lee Philipp: Das Album wird nun auf einer Reihe von Live-Konzerten in Europa aufgeführt. Grad waren wir in Oslo, nächste Woche geht es in die Schweiz, dann in die Niederlande. Gleichzeitig arbeite ich auch immer an neuen Ideen und Projekten, die zu gegebener Zeit angekündigt werden.

Cover des Albums ophio von Die Wilde Jagd.
Erscheinungsdatum
24. Februar 2023
Band / Künstler*in
Die Wilde Jagd
Album
ophio
Label
Bureau B
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