Schwarzweißes Portraitfoto von Martin Kohlstedt. Man sieht nur sein Gesicht sowie die rechte Hand, die er sich an die Stirn hält und damit Teile seines Gesichts halb verdeckt.

Musikvorstellung: Martin Kohlstedt – Feld

Foto: J Konrad Schmidt

Dieses Mal bin ich später aus dem Haus gekommen, als ich eigentlich wollte. Als ich, wie schon so manches Mal, mit den Stöpseln in den Ohren aus dem Haus trete, ist es schon beinahe dunkel. Der Grund für meinen heutigen Abendspaziergang durch die hereinbrechende Nacht ist das neue Album des Modularkomponisten Martin Kohlstedt mit dem Namen „Feld“. Erschienen ist es schon vor gut einer Woche, aber Ihr kennt das: immer ist irgendwas zu tun. Arbeit, Alltag, dies das. Heute aber finde ich die Zeit und Muße, loszulaufen. Diese nächtlichen Spaziergänge sind immer auch ein prima Mittel, um die Gedanken treiben zu lassen. Mal geführt von der Musik, mal nicht. Einfach in Ruhe alles durchdenken, was mich in der letzten Zeit so beschäftigt hat, ohne bestimmtes Ziel, Erwartungen an irgendwelche Erkenntnisse oder bestimmte Gefühle. Einfach nur laufen und die Musik genießen. Wenn Du mich schon einmal auf einem dieser Spaziergänge durch die Magdeburger Nacht begleitet hast, die ich hier schon verschiedentlich als Review verkleidet veröffentlicht habe, dann wissen wir beide, Du und ich, dass zumindest der Punkt, nichts zu fühlen nie klappt. Mich überkommt die leise Ahnung, dass es auch dieses Mal nichts werden wird.

Martin Kohlstedt, um den es mir heute geht, kommt aus Weimar und ist … ja, was ist er eigentlich? Er bezeichnet seine Arbeit als modulares Komponieren. Seine Lieder, so heißt es, seien ständig in Bewegung und würden auch bei Konzerten keiner festgelegten Form folgen. Improvisation, Dinge einfach mal geschehen lassen, das sind Merkmale, die seine Arbeit kennzeichnen. Martin Kohlstedt ist Komponist, Pianist und Produzent von instrumentaler und fein gesponnener elektronischer Musik. Und da es hier keine Texte, keine Inhalte gibt, denen man folgen könnte oder müsste, haben die Gedanken freie Bahn und können den Richtungen folgen, die sie bestimmen.

Wenn organische und anorganische Töne aufeinandertreffen

Ich bin auf meiner üblichen Route unterwegs und stelle fest, dass neben diverser anderer Zwänge es also auch Teil meines Wesens ist, den immer gleichen Weg abzulaufen. Allenfalls mit geringen Abweichungen, um Gestalten, die mir entgegenkommen, auszuweichen. Wie ich immer so schön sage: Ich kann gut Mitmenschen umgehen. Die blaue Stunde liegt über Stadt, jene Zeit des Tages also, in der die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen. „LUV“, das erste Stück des Albums, empfängt mich mit zarter, flirrender Klimperei. Es vermittelt Aufbruchsstimmung. Passend für die Einleitung in ein Album, denke ich, und welch ein Kontrastprogramm zu den düsteren Echos der Themen, die mich in dieser Woche so beschäftigt haben. Nicht zuletzt aus beruflichem Interesse habe ich mich in dieser Woche viel mit dem Thema KI beschäftigt, mit all den Tools, die gerade das Internet fluten. Während der Nerd in mir aus technischer Sicht einigermaßen fasziniert ist davon, dass einfache Eingaben in eine Kommandozeile ausreichen, um in wenigen Sekunden ein täuschend echtes Fake-Bild von Barack Obama und George Bush zu zaubern, die kiffend in einem Garten sitzen, wird dem Rest von mir Angst und Bange. Niemand, selbst die klügsten Köpfe haben eine Vorstellung davon, was gerade passiert, glaube ich. Gleichzeitig denke ich auch, dass die menschliche Kreativität immer der künstlichen Intelligenz voraus sein wird. Um beispielsweise Musik zu schaffen, wie sie auf „Feld“ vorliegt, muss man fühlen und empfinden. Denn auch das ist es, was Martin Kohlstedt hier macht, immer schon machte: Musik, die sich hören lässt – und fühlen. Musik zu machen, die man in seinem Innersten fühlen kann – nein, ich glaube nicht, dass eine Maschine das jemals können wird. In diesem Punkt wird die KI, die Maschine, immer der Blechmann aus „Der Zauberer von Oz“ sein, dem das Herz fehlt.

Auf meiner üblichen Route laufe ich an einem Restaurant vorbei, das mir vorher noch nicht aufgefallen ist. Es scheint neu zu sein und, dem äußeren Anschein nach, eine ziemliche Schickimicki-Bude. Im Vorbeigehen werfe ich einen flüchtigen Blick durch die großen Glasscheiben, die mich von den Leuten drinnen trennen. „ELZ“ läuft und weckt in mir die Meinung, als Hintergrundbeschallung für entspannte Dinnerparties oder dergleichen geeignet zu sein. Und dann bemerke ich es: Die paar Gestalten im Inneren des Restaurants scheinen alle schweigend in ihr Gespräch vertieft zu sein. Gesichter, angestrahlt von dem blauweißen Licht von Smartphone-Displays, aber kaum eines, das durch die Kerzen beleuchtet wird. Und plötzlich kommt mir „ELZ“ ganz schön deprimierend vor. Überhaupt, merke ich im Laufe des Albums, ist die anfängliche Euphorie, die Aufbruchsstimmung, die „LUV“ eingangs noch vermittelte, eher eine Ausnahme auf „Feld“.

Ich laufe an einer größeren Bäckerei vorbei. Die großen, dunklen Fensterscheiben starren mich an. Ich starre zurück und denke beim Blick auf mein Spiegelbild: müde siehst Du aus. Und alt. Und noch bevor ich da weiter drauf einsteigen kann, bemerke ich eine weitere Reflexion von etwas, das die ganze Zeit schon da war, mir vorher aber nicht bewusst gewesen ist: Der Abendstern ist aufgedrungen und steht hell leuchtend in dem immer dunkler werdenden Blau des Himmels. Er strahlt förmlich auf mich herab. War der immer schon so hell, frage ich mich, während sich die Klänge von „NOR“ in meine Gehörgänge schleichen. Das zarte Spiel des Klaviers, die hintergründige, extrem flächige Elektronik, musikalische Farbtupfer dem Funkeln von Sternen gleich, lassen meine Gedanken schon wieder in andere Richtungen abdriften. Was da draußen wohl sein mag? Werden wir das noch herausfinden oder werden wir uns vorher selbst abgeschafft haben, wobei die Wahl des finalen Todesstoßes für unsere Spezies noch offen ist: Krieg, Pandemie, Klima oder KI? Oder vielleicht möchte doch noch ein Supervulkan ausbrechen oder uns ein Asteroid auf die Birne knallen? Die (leider nicht unwahrscheinlichen) Varianten sind sehr mannigfaltig. Zumindest das muss man uns als Spezies lassen: Wenn wir was ausrotten wollen, sind wir gründlich. Und wenn es uns selbst betrifft.

Töne und ihre Wirkung

Über die Wirkung von Tönen und welche Auswirkungen sie auf die Gefühlswelt und Stimmungen von Menschen haben, ließe sich an dieser Stelle lang und breit diskutieren. Auch Martin Kohlstedt dürfte sich darüber sehr genau im Klaren sein, welcher Ton, welche Reihenfolge an Tönen die von ihm gewünschte Wirkung erzielt. Und dennoch ist es natürlich immer auch Spekulation, ob dieses oder jenes die tatsächlich gewünschte Wirkung war. „LIN“ ist ein Lied, das sehr unbequem ist, sehr düster – und das mir wieder bewusst macht, dass Angst- und Panikstörungen zu den Dingen gehören, die auf meinem Diagnosezettel standen. Diese nächtlichen Spaziergänge sind immer auch ein wenig der Versuch, sich diesen Dingen zu stellen. Als „LIN“ läuft, merke ich, wie sich mir die Brust zuschnürt und sich mein Atem beschleunigt. Es geht wieder los. Die Gegend ist mir vertraut, ich weiß also, wann ich wieder im ach so rettenden Licht der Straßenlaternen unterwegs bin. Ich stelle fest, dass ich mir vielleicht doch nicht so sicher bin, was ich mit dieser vermeintlichen Mutprobe beweisen möchte: dass mir nichts passiert – oder dass ich so lange durch die Nacht spaziere, bis irgendwann mal doch etwas passiert?

Beim finalen „MYN“ nähere ich mich langsam wieder der Straße, in der ich wohne. Das Geräusch von Wellen und Meeresrauschen, das in diese von schwerem Klavier gezeichneten Nummer eingewoben wurde, malt mir das Bild eines Strandspaziergangs in den Kopf. Vertreibt die Panik, tut aber nichts gegen die Melancholie, die durch dieses Lied angespült wird. Die Nacht hat den Tag endgültig vertrieben, als ich meine Haustür erreiche. Und während „MYN“ mich ganz sachte aus dem Album entlässt, drehe ich mich noch einmal nach dem Abendstern um, während ich die Haustür aufschließe. Nur um sicherzugehen.

Es ist schwer, zu einem abschließenden Fazit zu kommen. Natürlich ließe sich an dieser Stelle die hochwertige Komposition loben, die auf ganz gelungene Weise organisches und anorganisches miteinander vereint. Oder der Umstand, dass dieses Album auch dann noch funktioniert, wenn man nicht der vom Künstler vorgegebenen Reihenfolge der Songs folgt, sondern die Zufallswiedergabe bemüht. Vielleicht könnte man auch noch ins „Feld“führen (sorry, der musste sein), dass die Produktion eine ist, die ganz und gar das Ohr umschmeicheln möchte. Aber ich kann nicht sagen, dass es aus diesem oder jenem Grunde ein unterhaltsames Album geworden ist – oder eben genau das nicht. Es ist ein bisschen so, wie damals, als Morpheus zu Neo sagte, dass man die Matrix selbst erleben müsse, um sie zu verstehen. Martin Kohlstedts „Feld“ ist eine Einladung zu einer Reise, die so weit gefächert sein kann, wie es der Begriff Feld impliziert – und meine abschließende, dringende und sehr gern gegebene Empfehlung ist, wenigstens einmal die rund 45 Minuten in dieses Album zu investieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es eine Erfahrung ist, von der Ihr hinterher sagen werdet, dass es sich gelohnt hat.

Cover des Albums Feld von Martin Kohlstedt.
Erscheinungsdatum
31. März 2023
Band / Künstler*in
Martin Kohlstedt
Album
Feld
Label
Edition Kohlstedt
Unsere Wertung
4.2
Fazit
Es ist ein bisschen so, wie damals, als Morpheus zu Neo sagte, dass man die Matrix selbst erleben müsse, um sie zu verstehen. Martin Kohlstedts „Feld“ ist eine Einladung zu einer Reise, die so weit gefächert sein kann, wie es der Begriff Feld impliziert - und meine abschließende, dringende und sehr gern gegebene Empfehlung ist, wenigstens einmal die rund 45 Minuten in dieses Album zu investieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es eine Erfahrung ist, von der Ihr hinterher sagen werdet, dass es sich gelohnt hat.
Pro
Großartig komponierte Songs, die gekonnt die Grenzen zwischen organisch und elektronisch verwischen
Sehr stimmungsvolle Lieder, welche zu vielfältigen Gedankenreisen und Tagträumereien einladen
Kontra
4.2
Wertung
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