Foto der Band Blutengel. Chris Pohl (links) und Ulrike Goldmann, beide mit Krone auf dem Kopf, stehen vor einem dunklen Hintergrund, neben ihnen stehen große Kerzenleuchter.

Musikvorstellung: Blutengel – Un:Sterblich – Our Souls Will Never Die

Foto: Annie Bertram

Heute schmeiße ich als Einleitung mal eine Binsenweisheit in den Raum: vorbei ist vorbei. Was einmal war, lässt sich nur in seltenen Fällen wieder so zurückbringen oder fortführen, wie man es in (nicht selten nostalgisch verklärter) Erinnerung hat. Ein Beispiel: seit ungefähr 1993 kann ich mich für Computer- und Videospiele begeistern und zocke seitdem immer wieder mal, sofern es Zeit und anderweitige Verpflichtungen zulassen. In der Zeit von damals bis heute hat sich eine lange Liste an Spielen angesammelt, die, als sie neu waren, mir ganz wunderbar gefallen haben. Die aber niemals den gleichen Zauber entfachen konnten, wenn ich sie Jahre später noch einmal gestartet habe. Sei es das Original von anno dunnemals oder in Form eines Remakes oder Remasters. Der Lack war einfach ab. Was das mit Blutengel und dem aktuellen Album „Un:Sterblich – Our Souls Will Never Die“ zu tun hat, fragt Ihr?

Nun, Blutengel höre ich seit ungefähr immer. Und auch wenn ich mir manchmal wünsche, es würde noch einmal der (im Vergleich zu heute) harte Düstersound aus den Boxen tönen oder Chris Pohl wenigstens für Geschrabbel jenseits von Dunkelpop seine Projekte Tumor oder Terminal Choice reaktivieren und da weitermachen, wo er damals aufhörte, so fürchte ich, dass der Effekt ein ähnlicher wäre. Ernüchterung. Blutengel war und ist das erfolgreichste Projekt des Berliners und nicht zuletzt die über die Jahre zu beobachtende, teilweise erstaunliche Wandlung dürften daran wesentlichen Anteil gehabt haben. Und doch ist da immer wieder dieser Wunsch und dieser Gedanke.

Man nehme: Eine Prise Blutengel von früher und eine Portion Terminal Choice

25 Jahre Blutengel war für Chris Pohl scheinbar ein guter Grund, ebenfalls ähnlichen Gedanken nachzugehen und ein bisschen in der eigenen musikalischen Vergangenheit zu wühlen. Denn eines fällt bei diesem Jubiläums-Doppelalbum, über das wir uns hier unterhalten, direkt auf: Es wirkt stellenweise härter und düsterer als es in der Vergangenheit mitunter der Fall war. Ein Beispiel: „No Suicide Song“, das nur bedingt als Lied durchgeht und sich durch eine unheimlich düstere und triste Grundstimmung auszeichnet, das völlig frei von Gesang, dafür aber angereichert mit Satzfetzen (oder besser: Gedankenfragmenten) ist, hätte in dieser Form auch ganz wunderbar auf einem der ersten beiden Alben („Child of Glass“ (1999) oder „Seelenschmerz“ (2001)) stattfinden können. Ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, so etwas noch einmal zu hören zu bekommen – und zwar nicht ausgelagert auf irgendeiner B-Seite, einer Bonus Disc oder als Hidden Track, sondern mittendrin in der Tracklist des Hauptalbums.

Oder nehmen wir das von schweren Gitarrenriffs durchzogene „Nobody“ als anderes Beispiel. Wer, bitte schön, fühlt sich denn hier nicht an die Mitte der 2000er Jahre erinnert, als Terminal Choice noch aktiv waren, den rein synthetischen Sound aber zugunsten einer Rockstar-Attitüde nebst entsprechendem Gitarrengewitter getauscht hatten? Auch hier: Ich hätte nicht gedacht, dass in dieser Form noch einmal so serviert zu bekommen. Und jetzt die Frage, ob das funktioniert? Schließlich ist die Situation prinzipiell eine ähnliche, wie bei den Computerspielen. Die Antwort: überraschenderweise ja. Vielleicht, weil es hier wie da nicht komplett eine Terminal Choice- bzw. Frühe-Blutengel-Nummer geworden ist, sondern nur die jeweilige Quintessenz in die Songs Einzug gehalten haben. Und das geht klar. Reiner Spekulatius und weites aus dem Fenster lehnen, aber ich behaupte mal: Wer mit ähnlicher Nostalgie-Brille unterwegs ist, fühlt sich angesprochen und abgeholt. Künftig gerne mehr davon bitte und nicht nur, weil das anlässlich des Jubiläums gerade gut passt, zum Rundumschlag auszuholen.

Blutengel - The prophecy (Official Music Video)

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Aber nun verweilt „Un:Sterblich“ nicht nur in der Vergangenheit. Mit „The Prophecy“, eine der wenigen Solo-Nummern von Ulrike Goldmann auf diesem Album, bei dem sie angesichts der Gesamtsituation in der Welt reichlich düsteren Gedanken nachhängt, tönt frisch, modern und verweigert sich ebenfalls dem, was man vielleicht mit Blutengel assoziieren mag. Überhaupt hat Ulrike daneben mit „She’s Missing…“ und dem mit einem Video bedachten „We Belong To The Night“, die beide latent 80er-Jahre-mäßig angehaucht sind, wieder ein paar sehr starke Momente auf diesem Album.

Blutengel - Fliegen (Official Music Video)

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Darüber hinaus gibt es den von Blutengel ebenfalls gewohnten und bekannten Kitsch und Bombast. Das ist sicher auch ein Teilgrund für den Erfolg der Band und warum sie 25 Jahre Bandbestehen feiern können. Wenn Chris Pohl beispielsweise in „Fliegen“ singt, dass die Zeit seine Wunden niemals geheilt hätte und so weiter, dann wird es gewiss zahlreiche Hörer*innen geben, die sich damit identifizieren können. Die sich dadurch verstanden fühlen. Und ich finde das durchaus legitim. Umgekehrt wird es auch genügend Menschen geben, die deswegen die Augen verleiern werden. Das kann man sehen, wie man möchte; dass Blutengel lyrisch nie an der Spitze war und sein wird, wissen die Berliner sicher selbst. Wenn es ihnen aber gelingt, mit ihrem Tun ihre Fans zu unterhalten, ihnen eine gute Zeit zu ermöglichen, dann haben sie in meinen Augen ihren Job erfüllt. Und bei einem Umfang von 25 Songs, verteilt auf fast zwei Stunden – was alleine schon Anerkennung verdient! – ist sicher genug Material an Bord, womit sich Blutengel-Fans bis zum nächsten Album eine gute Zeit bescheren lässt. Bei dem ewig umtriebigen Chris Pohl muss zum Glück nie so wirklich lange warten, wer sich von seiner Arbeit begeistern lassen kann. Gut so. Das Rad indes wird auf diesem Album einmal mehr nicht neu erfunden, andererseits erwartet das wohl auch nicht ernsthaft jemand.

Um noch einmal den Gedanken vom Anfang aufzugreifen: was vorbei ist, ist vorbei und lässt sich in vielen Bereichen auch nicht wiederholen, zurückbringen oder was weiß ich. So ist es auch hier. Dass wir noch einmal ein Album von Terminal Choice zu hören bekommen, ist reichlich unwahrscheinlich. Genauso wenig wird Chris Pohl über die Dauer eines ganzen Albums die sehr viel härtere, düsterere Seite von Blutengel, so wie sie auf den ersten beiden Alben zu hören war, zurückholen. Und doch: wer, vielleicht auch aus nostalgischer Verklärung heraus, jenen Zeiten nachtrauert, wird von Chris Pohl anlässlich dieses Jubiläumsalbums gut bedient. Immer wieder blitzen Elemente vergangener Tage auf, die, zusammen mit dem moderneren, poppigeren Sound der Band, eine ziemlich runde Sache ergeben. Somit ist „Un:Sterblich – Our Souls Will Never Die“ ein nicht nur aufgrund des üppigen Umfangs und der massiven Begleitung durch zahlreiche Musikvideos ein dem Anlass ein zum Anlass adäquates Album geworden, sondern auch eines, das viele Fans glücklich machen kann. Die von gestern, die von heute. Und, wer weiß, vielleicht fangen sich die Berliner damit auch noch ein paar weiter Fans ein.

Cover des Albums Unsterblich von Blutengel.
Erscheinungsdatum
12. Mai 2023
Band/Künstler*in
Blutengel
Album
Un:Sterblich - Our Souls Will Never Die
Label
Out of Line
Unsere Wertung
4
Fazit
Immer wieder blitzen Elemente vergangener Tage auf, die, zusammen mit dem moderneren, poppigeren Sound der Band, eine ziemlich runde Sache ergeben. Somit ist „Un:Sterblich - Our Souls Will Never Die“ ein nicht nur aufgrund des üppigen Umfangs und der massiven Begleitung durch zahlreiche Musikvideos ein dem Anlass ein zum Anlass adäquates Album geworden, sondern auch eines, das viele Fans glücklich machen kann.
Pro
Wie üblich sehr stattlicher Umfang
Wirkt düsterer und härter als manch früheres Album
Erinnert manchmal an ganz frühe Alben von Blutengel und auch an Terminal Choice
Kontra
Wie üblich zu wenig Solos für Ulrike
4
Wertung
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