Ein Portrait von System Syns Clint Carney. Er hält etwas in seinen Armen vor der Brust verschränkt, das Gesicht ist komplett in grünes und blaues Licht getaucht.

Musikvorstellung: System Syn – If It Doesn’t Break You

Quelle: System Syn

Dass das Jahr 2020 so grundsätzlich betrachtet ein riesiger Haufen Mist war, darüber brauchen wir uns an dieser Stelle wohl nicht weiterzuunterhalten. Viele von uns haben zu den Päckchen, die sie ohnehin schon zu tragen haben, noch ordentlich Ballast obendrauf bekommen. Ich will da gar nicht weiter im Detail drauf eingehen, Ihr wisst alle zur Genüge was war und was ist. Mir geht es um eine ganz andere Feststellung: Es war ja nicht alles scheiße im vergangenen Jahr. Auch wenn man die Highlights sicherlich mit der Lupe suchen musste – es gab sie doch. Vor allem musikalisch. Eines dieser Glanzlichter war ganz ohne Zweifel das Album „Once Upon A Second Act“ von System Syn, das ich auch heute, Monate nach der Veröffentlichung, immer noch feiern könnte. Clint Carney, der kreative Tausendsassa hinter System Syn, war mit dem Album offensichtlich noch nicht ganz durch. Bereits am 12. März dieses zweiten Corona-Jahres erscheint mit „If It Doesn’t Break You“ eine Art Geschwisteralbum, ziemlich voll mit Remixen und neuen Songs. In unserem Hause läuft das Album schon seit ein paar Tagen – und gibt sich alle Mühe, mit dem Vorgänger gleichzuziehen. Wenn nicht sogar hier und da zu überholen.

Ein Remix-Album oder eine Remix-EP auf den Markt zu bringen, ist jetzt keine so ungewöhnliche Idee. Dieses Vorhaben kann man so und so angehen. Entweder, und das wird wohl in den meisten Fällen so sein, bekommen wir eine Auswahl präsentiert, die eine Handvoll der immer gleichen Titel in diversen Remixen serviert. Fünfmal das gleiche Lied von immer anderen Bands bzw. Künstler*innen zu hören ist dabei allerdings nur leidlich spannend. Vor allem, weil es einen wesentlich interessanteren Ansatz gibt: ein Remix-Album wie ein klassisches Album zu entwerfen. Sprich: wie auf dem zugrunde liegenden Original ist jeder Song immer nur ein einziges Mal vertreten. Für diese zweite Variante hat sich Clint Carney hinsichtlich der Veröffentlichung der gesammelten „Once Upon A Second Act“-Remixe entschieden. Mit dem Ergebnis, dass das neue Album seinen Vorgänger um zwei Songs übertrumpft. Das allerdings ist noch lange nicht alles, wo sich dieser Nachfolger hinter dem sensationellen Original nicht zu verstecken braucht.

„If It Doesn’t Break You“ lässt sich genauso gut hören wie „Once Upon A Second Act“ – und wenn man es nicht wüsste, man käme nicht auf die Idee, dass es sich hierbei „nur“ um ein Remix-Album handelte. Um das schon mal erwähnt zu haben: Die Qualität der Remixe ist durch die Bank weg von allerhöchster Güte; in vielen Fällen wurden die Songs nicht einfach nur geremixt, sondern quasi komplett neu interpretiert. Beinahe schon neu erdacht. Selbst wenn Ihr (wie ich) „Once Upon A Second Act“ inzwischen rückwärts im Schlaf schnarchen könnt, werdet Ihr gewiss staunen, welche neuen Facetten man den inzwischen hinlänglich bekannten Songs noch abgewinnen kann. Ganz sicher!

Den Auftakt macht „We Had Time“, das meines Erachtens eines der schönsten Lieder ist, die auch über das Jahr 2020 hinaus betrachtet jemals ersonnen wurde. Könnte ich in Dauerschleife hören. „If It Doesn’t Break You“ liefert hier die Mercury Lust-Version auf dem Silbertablett. Mercury Lust ist quasi ein Nebenprojekt zu Imperative Reaction. Einer Band, zu der Clint Carney als (ehemaliges) Mitglied eine besondere Beziehung hat. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber aufgrund der wesentlich flächigeren Sounds wirkt diese Variante noch epischer, gleichwohl aber nicht minder ergreifend. Super gut!

Zusätzlich zwei neue Balladen im Gepäck

„Once Upon A Second Act“, Titelstück und Namensgeber des letzten Albums, kommt hier in einer Bearbeitung von Aesthetic Perfection daher – die letzte Arbeit, die sich Daniel Graves gegen Ende des letzten Jahres noch gegönnt hat. Ihr kennt Aesthetic Perfection? Seine Vorstellung von Industrial Pop? Dann habt Ihr in etwa eine Vorstellung davon, wie diese Nummer klingt. Würde auf einem Aesthetic Perfection-Album ebenfalls gut passen. „Collapsing“ aus dem Hause God Module begeistert durch einen sehr starken Synth-Pop-Touch, gepaart mit ein paar Anleihen aus dem Industrial. Es klingt so unschuldig und fröhlich, was da aus den Boxen tönt, bis eine verfremdete und verzerrte Stimme irgendwas von „Collapsing“ faucht. Geht jedenfalls gut ab, die Nummer. „I Don’t Belong Here“ ist neu, eine Ballade, die durchaus auch auf dem Originalalbum hätte stattfinden können. Balladen kann er ziemlich gut, der Clint. Das beweist er mit „Someday“, dem zweiten neuen Stück übrigens dann später auf diesem Album noch einmal sehr eindrucksvoll. Dritter neuer Song im Bunde ist „Common People“, im Original von Pulp. Bereits mit „Losing My Religion“ hatte Clint Carney verdeutlicht, dass ihm Coverversionen auch liegen. Sich an Jarvis Cocker bzw. Pulp zu probieren ist … nun ja, zumindest mutig. Das kann sehr schnell sehr schiefgehen. Lasst Euch sagen: tut es in diesem Fall nicht! Klar ist es jetzt eine tüdelige Electro-Nummer anstelle des gewohnten Brit-Pops von anno dazumal, dennoch nicht weniger launig vorgetragen, als Jarvis Cocker es dereinst tat. Spontan könnte ich mich nicht entscheiden, welches Cover aus dem Hause System Syn mir besser gefällt. Das reinste Kopf-an-Kopf-Rennen!

Imperative Reaction selbst steuern übrigens auch einen Remix bei. „Knives“ war das Stück ihrer Wahl und ähnlich wie God Module kehren sie die synth-poppige Seite des Tracks hervor. Oder anders gesagt: so ein geschmeidiges und gelungenes Stück FuturePop hätten andere Szene-Vertreter sicher auch gerne produziert. Tja. (The German answer for everything, btw.)

Tom Shear aka Assemblage 23, der im letzten Jahr übrigens mit „Mourn“ auch ein schickes Album an den Start gebracht hat, steuert ebenfalls einen Remix bei. Die Songs von System Syn würden also auch funktionieren, wenn sie für Assemblage 23 geschrieben werden würden. Viel Fläche, viel Eingängigkeit, viel das, was man von Tom Shear erwartet und an ihm schätzt. Abschließender Höhepunkt dieses Remix-Albums, dem man den Präfix „Remix“ durchaus wegstreichen kann, ist der Saucerdrum-Remix von „Weightless“. Viel Geschnarre, viele Effekte, die gleiche bedrückende Schwermut wie im Original. Ein gelungener Ausstieg aus einem Langspieler, der aufzeigt, dass ein Remix-Album so viel mehr sein kann als die bloße Ansammlung von ein paar Neubearbeitungen bekannter Songs.

System Syns „Once Upon A Second Act“ war in den vergangenen Monaten in dieser Pandemie ein ständiger Begleiter. Wenn Ihr Euch an den Artikel erinnert – ich habe das Album seinerzeit sehr gefeiert und tue es immer noch. Und jetzt, nicht einmal ein Jahr später haben wir immer noch Pandemie, immer noch Lockdown – und zum Glück auch wieder ein neues System Syn-Album! Gibt eben doch immer wieder Gründe, die Laune irgendwie aufrechtzuerhalten. „If It Doesn’t Break You“ steht seinem Vorgänger in nichts nach, übertrumpft es in Sachen Spielzeit und legt die Messlatte dafür, was ein Remix-Album sein kann, verdammt weit hoch! Tatsächlich möchte ich im Falle von „If It Doesn’t Break You“ nicht von einem Remix-Album sprechen. Es ist ein in jeder Hinsicht vollwertiges und rundherum gelungenes System Syn-Album geworden, das durch die Bearbeitung der Songs durch andere Künstler quasi die jeweils andere Seite der Medaille präsentiert. Mit Erscheinen von „If It Doesn’t Break You“ werden beide Albem also fortan als eine Einheit betrachtet werden müssen – und sollten immer auch jeweils zusammen gehört werden. Ich ziehe Hut vor den beteiligten Künstler*innen und natürlich auch vor Clints neuen Songs.

Cover des Albums If It Doesn't Break You von System Syn.
Erscheinungsdatum
12. März 2021
Band / Künstler*in
System Syn
Album
If It Doesn't Break You
Unsere Wertung
4.4
Fazit
If It Doesn’t Break You“ steht seinem Vorgänger in nichts nach, übertrumpft es in Sachen Spielzeit und legt die Messlatte dafür, was ein Remix-Album sein kann, verdammt weit hoch! Tatsächlich möchte ich im Falle von „If It Doesn’t Break You“ nicht von einem Remix-Album sprechen. Es ist ein in jeder Hinsicht vollwertiges und rundherum gelungenes System Syn-Album geworden, das durch die Bearbeitung der Songs durch andere Künstler quasi die jeweils andere Seite der Medaille präsentiert. Mit Erscheinen von „If It Doesn’t Break You“ werden beide Albem also fortan als eine Einheit betrachtet werden müssen - und sollten immer auch jeweils zusammen gehört werden.
Pro
Das Spiegelbild zu "Once Upon A Second Act": von jedem Song nur ein Remix, daher wird quasi die gleiche Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt
Drei neue Songs, darunter eine tolle Coverversion von Pulps "Common People"
Kontra
4.4
Wertung
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