Foto von Kirlian Camera. Angelo Bergamini trägt Hut und Sonnenbrille und spielt eine Geige, Elena Fossi streckt sich lasziv der Kamera entgegen.

Kirlian Camera – Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)

Foto: Terri Harrison

Kürzlich erst habe ich mich mit Stefan Herwig (A&R bei Dependent Records, der aktuellen Labelheimat von Kirlian Camera) in einem Facebook-Chat über eben dieses italienische Elektronikduo unterhalten. Ich gelangte dabei zu der Feststellung, dass ich das musikalische Tun von Kirlian Camera zwar seit vielen Jahren verfolge, mir viele Songs auch echt gut gefallen – mich Alben aber selten komplett wirklich überzeugt haben. Aktuellstes Beispiel ist immer noch „Hologram Moon“, das neben dem interessanten Konzept und dem alles überstrahlenden Duett „Sky Collapse“ mit Covenants Eskil Simonsson nicht viel zu bieten hatte, um mich dauerhaft bei Laune zu halten. Insgesamt ist meine Beziehung zu Kirlian Camera mit „Rosinenpickerei“ also ganz gut umschrieben. Als es hieß, dass Elena Alice Fossi und Angelo Bergamini rund zwei Jahre nach „Hologram Moon“ ein neues Album veröffentlichen würden, war ich daher zugegebenermaßen nur wenig aufgeregt deswegen. Zumal mich die vorab veröffentlichte EP „The 8th President“ auch so überhaupt nicht abgeholt hat. Zu schwer, zu sperrig erschien sie mir, zu gewollt experimentell. Aber! Abgerechnet wird bekanntlich zum Schluss und nur wenig ist in Sachen Musik befriedigender als wenn vorgefertigte Meinungen in die Tonne getreten werden. So wie meine, nachdem mich „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ ziemlich überrumpelt hatte.

Über die anfänglich eher niedrige Erwartungshaltung habe ich mich nun zur Genüge ausgelassen, denke ich. Anfügen möchte ich allenfalls noch, dass unverhofft oft kommt, wie ich mit den ersten, sehr abwegig-düsteren Tönen des Eröffnungsstücks „The Illusory Guest“ wieder einmal lernen durfte. Wenn man dem Wort Dystopie eine Tonfolge zuordnen möchte, dann dürften die ersten rund zwei Minuten dieses Stücks fortan gerne als Paradebeispiel genau dafür dienen. Ungewohnte Töne zu finden war immer schon eine Spezialität in der inzwischen 40-jährigen Karriere von Kirlian Camera und schon direkt zum Auftakt machen sie deutlich, dass sie das nach wie vor ganz exzellent beherrschen. Gleichzeitig mischen sie diesem fulminanten Start den Pop-Anstrich bei, der viele Klassiker des Duos auszeichnet und garnieren das mit Elenas nach wie vor eindringlich-markanter Stimme. Wie man einen Spannungsbogen aufbaut in einem Song, dass sich Tonfolge um Tonfolge zum Höhepunkt vorarbeitet, auch dafür kann allein dieser Opener als Beispiel dienen. Weite Synthieflächen geben sich hier genauso ein Stelldichein wie etliche Samples im Hintergrund, die den Klang mit wunderbaren Details texturieren. Wenn man sich „The Ilusionary Guest“ über Kopfhörer gibt, wird man direkt zum Start auf eine akustische Entdeckungsreise geschickt, die mit Begriffen wie „eindrucksvoll“, „überraschend“, „mächtig“ und „unverhofft“ ganz gut umschrieben ist. Adjektive übrigens, die ich auch dem restlichen Album zugestehen möchte. Da hatte ich im Vorfeld wenig Bock auf ein Doppelalbum von Kirlian Camera und dann zeigen mir die Italiener den Mittelfinger und belehren mich eines Besseren.

„Cold Pills“, das direkt danach folgt, fegt auch die letzten Zweifel, dass es sich bei „The Illusionary Guest“ um einen Glückstreffer gehandelt haben könnte, direkt vom Tisch. Es gibt Alben, da merkt man es ziemlich schnell, wenn gerade etwas wirklich Besonderes in die Gehörgänge schleicht. So wie eben in diesem Fall. „Cold Pills“ bedient sich diverser Elemente, die das Gefühl vermitteln, als hätte man sie in anderem Kontext schon einmal irgendwo gehört. Eine nicht greifbare Vertrautheit quasi, die sich aber schnell dem Reiz ergeben muss, hier etwas wunderbar Neues zu hören, auch wenn das auf dem Papier widersprüchlich erscheint. Diese herrlich vertrackte Down-Tempo-Nummer mit ihrer ebenfalls sehr dystopischen Atmosphäre würde gut zur Vertonung von Endzeitfilmen passen. Macht sich aber auch gut als Begleiter bei Spaziergängen durch von Pandemie, Lockdown und Ausgangssperren gezeichneten Innenstädten. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie auch im Entstehungsprozess dieses Albums ihre Spuren hinterlassen hat. Jedenfalls: Wer Kirlian Camera der experimentell-eingängigen Songs mit reduziertem Tempo wegen schätzt, wird sie für „Cold Pills“ gewiss lieben.

Foto von Kirlian Camera. Angelo Bergamini trägt Hut und Sonnenbrille und spielt eine Geige, Elena Fossi streckt sich lasziv der Kamera entgegen.
Foto: Terri Harrison

(Alb-)Träumerisch, sphärisch, von ruhigem Tempo gezeichnet sind aber mitnichten alle Songs dieses Albums. Schon „I Became Alice“ jubelt uns eine röhrende Gitarre unter, die wie die scheinbaren Drum-Computer auch ganz gut in die Mucke der 80er-Jahre gepasst hätte und die sich um eine Melodie schlängelt, die man nicht anders bezeichnen kann als „unverkennbar Kirlian Camera“. Hier wird einmal kurz eine ganz große Brücke geschlagen. Vielleicht nicht die komplette Karriere, wohl aber wenigstens die letzten 10 – 15 Jahre überspannend. Ähnlich verhält es sich mit der leichtfüßigen Italo-Pop-Nummer „Crystal Morn“, die so sehr auf die Tanzfläche möchte, wie sie auch zum fiesen Ohrwurm geraten ist. Wenn es nach rund 40 Jahren Kirlian Camera noch eines finalen Beweises bedurfte, dass Frau Fossi und Herr Bergamini ganz große Popsongs schreiben können – bitteschön, hier ist er.

Bruch mit Erwartungen und Gewohnheiten

„Lobotomine“ hingegen bockt durch einen fetzigen Beat und dezent an EBM angelehnte Rhythmen und viel spacigen Effekten. Gerade noch so viel, dass es nicht in einem Audio-Overkill endet. Und dann, völlig unvermittelt, dieser Break ungefähr zur Hälfte des Songs, nur um dann im restlichen Drittel quasi mit einem anderen Song weiterzumachen. Wer Kirlian Camera eher der experimentellen Songs wegen schätzt, wird sie vermutlich nach diesem düster-brachialen Biest lieben. Hach und es gäbe noch so viel mehr Highlights auf diesem Album, die eine Erwähnung verdient hätten! Das dezent trip-hoppige „Dreamlex“ beispielsweise weckt mit seiner verträumt-melancholischen Stimmung Erinnerungen an das Album „Ninetynine“ von Haujobb – und hätte dort sicher auch gut reingepasst. Oder das fast schon gruselig düstere, in jedem Fall aber nicht zuletzt durch die eingestreuten Orgeln sehr schwer zu ertragende und bedrückende „Dusk Religion“, das den Hörenden ab ungefähr der Hälfte der ziemlich üppigen Dauer von neun Minuten keinen Moment des Friedens verschafft. Wohl auch nicht verschaffen möchte. Diese nervösen Drums, diese kreischende Gitarre – Prog-Rocker hätten gewiss ihre Freude mit diesem Mammutsong! Ähnlich bei dem kaum noch als Lied zu bezeichnenden „Blue Drug“, das die Hörer*innen ziemlich herausfordert. Jau, nicht nur Italo-Pop zum Einlullen können Kirlian Camera, sondern auch mit Hörgewohnheiten und Erwartungen brechen. Und mit „Twin Pills“ beenden sie ein in höchstem Maße beeindruckendes Album mit einer Liedform, die sie immer schon verdammt gut konnten: träumerischen Balladen, die nicht von dieser Welt zu kommen scheinen.

Nichts zu viel, nichts zu wenig

Im Gegensatz zum Vorgängeralbum „Hologram Moon“ scheint „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ eine übergeordnete Erzählung zu fehlen. Das macht aber nichts, in den Songs selbst finden sich wie so oft genügend Anknüpfungspunkte zu ergründen, welchen Spiegel Kirlian Camera der Gesellschaft dieses Mal vorhalten oder wie und wo sie mit ihrer Kunst womöglich eine Provokation platzieren, um eine Debatte über dieses und jenes zu entfachen. Und wenn Dependent Records das Album als das bisher düsterste der Band bewirbt, dann bin ich durchaus geneigt, der Einschätzung zu folgen. Das spiegelt sich in der Musik wider, das lässt sich in das Artwork hineininterpretieren. Tatsächlich sind die Zeiten ja auch nicht gerade dazu geeignet, besonders lebensbejahende Musik zu schaffen. Und doch zeigt „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ auch, dass Kirlian Camera nach all den Jahren das Spiel mit Gegensätzen und Kontrasten inzwischen perfektioniert haben. Durch die Anordnung der Songs wirken die düsteren Songs im Kontext des Albums noch dunkler, die (vermeintlich) fröhlicheren hingegen strahlen noch mehr. Dass Kirlian Camera wirklich tolle Songs schreiben können, es war meine anfängliche Feststellung – dass bei diesem Doppelalbum aber kein einziger Song redundant ist, sondern alles – und ich meine wirklich alles, von jedem punktgenau gesetzten Ton bis hin zur Gestaltung der Tracklist – schlüssig und in exakt dosierter Form dargereicht wird, hat mich massiv überrascht. Das gebe ich gerne zu und neige mein Haupt dementsprechend in Demut. 16 Songs umfasst dieses Doppelalbum und nicht einer davon ist zu viel, nicht einmal schleicht sich das Gefühl ein, irgendwas würde fehlen. Und selbst dann, wenn mich das Duo wirklich herausfordert (wie etwa mit „Blue Drug“) fühle ich mich nicht dazu animiert, auch nur einmal die Skip-Taste zu verwenden. Einfach weil jeder Song an exakt der gegebenen Position für das Gesamtkunstwerk, das „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ nun einmal geworden ist, notwendig, ja unabdingbar ist! Bei einer Gesamtspielzeit von (großzügig aufgerundet) anderthalb Stunden braucht es ein bisschen Geduld und Ausdauer, um komplett in dieses düstere Meisterwerk abzutauchen. Nachdem ich das inzwischen diverse Male gemacht habe, attestiere ich diesem Album abschließend gerne: eine mehr als lohnenswerte, den Horizont erweiternde Erfahrung. Es entfaltet ohnehin eine Sogwirkung, der man sich nur schwerlich widersetzen kann.

Ich liebe es. Das Album, natürlich, aber auch den Umstand, dass ich oller Schnösel schon wieder einmal von meinem vermeintlich hohen Ross getreten wurde und mich eine Band, anfänglicher Vorurteile zum Trotz, von ihrem Tun derart überzeugen konnte, dass ich a) Lobgesänge auf das vorliegende Album singen möchte und b) mit Sicherheit nicht mehr mit der Nase rümpfen werde, wenn Kirlian Camera ein (Doppel-)Album ankündigen. Mag sein, dass das, was auch immer nach „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ kommt, wieder von durchwachsener Qualität sein wird – in jedem Fall aber werde ich neugierig an die Sache herangehen. Dieses Doppelalbum hier ist von so hoher Güte, dass es mich ehrfürchtig staunend zurücklässt und bewirbt sich ein in einem Musikjahr, das schon so manches Highlight vorzuweisen hatte, um einen Platz auf dem Treppchen der Top-Alben des Jahres 2021. Die Chancen dafür stehen außerordentlich gut, das kann man bereits im Mai schon so sagen.

Erscheinungsdatum
14. Mai 2021
Band / Künstler*in
Kirlian Camera
Album
Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak
Label
Dependent Records
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Ich liebe es. Das Album, natürlich, aber auch den Umstand, dass ich oller Schnösel schon wieder einmal von meinem vermeintlich hohen Ross getreten wurde und mich eine Band, anfänglicher Vorurteile zum Trotz, von ihrem Tun derart überzeugen konnte, dass ich a) Lobgesänge auf das vorliegende Album singen möchte und b) mit Sicherheit nicht mehr mit der Nase rümpfen werde, wenn Kirlian Camera ein (Doppel-)Album ankündigen. Mag sein, dass das, was auch immer nach „Cold Pills (Scarlet Gate of Toxic Daybreak)“ kommt, wieder von durchwachsener Qualität sein wird - in jedem Fall aber werde ich neugierig an die Sache herangehen. Dieses Doppelalbum hier ist von so hoher Güte, dass es mich ehrfürchtig staunend zurücklässt und bewirbt sich ein in einem Musikjahr, das schon so manches Highlight vorzuweisen hatte, um einen Platz auf dem Treppchen der Top-Alben des Jahres 2021.
Pro
Gleichermaßen eingängig wie auch düster, verschroben und experimentell
Durchgängig hoher Spannungsbogen, Langeweile kennt dieses Album nicht
Satter Umfang, der durchaus auch sinnvoll ist
Kontra
4.4
Wertung
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