Wir alle mögen Geschichten. Schon in frühem Kindesalter beginnen wir damit, sie zu konsumieren. Wenn auch da natürlich noch sehr passiv. Später dann aber aktiver und bewusster. Fröhliche und traurige, lustige und gruselige, schockierende und rührende Geschichten sind es. Darreichungsformen gibt es beinahe genauso viele, wie es Geschichten gibt: mal ist es ein Foto, das uns eine Geschichte erzählt, mal ein Brief von anno dunnemals. Mal ist es ein Buch, mal ein Film und mal vielleicht auch eine persönliche Erzählung. Manchmal ist es aber auch Musik, die etwas erzählen will. Das neue Goldfrapp-Album „Tales Of Us“ ist ein Paradebeispiel dafür, denn auf 10 Songs verteilt tut es genau das: uns Geschichten erzählen, fröhliche wie traurige, herzerwärmende wie grausame …
13 Jahre und mit dem vorliegenden Album inzwischen fünf Veröffentlichungen nach dem Debüt „Felt Mountain“ müsste nunmehr hinlänglich bekannt sein, dass man Alison Goldfrapp und Will Gregory nicht nur in keine Schublade stecken kann, sondern im Vorfeld auch niemals wissen, was das kreative Duo für das nächste Album austüfteln wird. Wer hätte denn beispielsweise auch nur vermutet, dass nach dem teilweisige recht folkloristisch anmutenden „Seventh Tree“ ein Ausflug in die Synthie-Pop-Klangwelt der 80er („Head First“) folgen würde? Von der Party-Attitüde des Vorgängers ist auf „Tales Of Us“ nichts übrig geblieben. Auch nicht vom überschwänglichen Einsatz irgendwelcher Elektronik. Die ist zwar noch da, aber so dezent im Hintergrund gehalten, dass sie nur noch als abrundendes Element wahrgenommen wird – wenn überhaupt. Stattdessen dominieren zarter Einsatz von Saiten- und Streichinstrumenten, verwoben in ein höchst fragiles Arrangement das Klangbild Goldfrapps im Jahr 2013. Das und natürlich Alisons bemerkenswerte Stimme, die losgelöst über allem schwebt. Eine Wandlung, die im Hause Goldfrapp nicht einfach so passierte. Alison sagt: „Ich fühle mich mehr und mehr zur Intimität und Einfachheit von Stimme und Gitarre hingezogen“.
„Ich fühle mich mehr und mehr zur Intimität und Einfachheit von Stimme und Gitarre hingezogen.“ (Alison Goldfrapp)
Es ist keine Übertreibung, wenn man im Falle von „Tales Of Us“ vom ruhigsten, sinnlichsten und bildhaftesten Goldfrapp-Album spricht. Ich sagte ja, dass der Albumtitel einen deutlichen Hinweis darauf gibt, was auf diesem Album passieren wird. Geschichten werden erzählt. Hintergrund ist die wiedererwachte Leidenschaft von Frau Goldfrapp für Kino und Literatur, quasi DIE Leitmedien, wenn es ums Geschichtenerzählen geht. Vor allem das Tun von Patricia Highsmith hat es ihr angetan: „Sie hat ein paar wirklich böse kleine Geschichten“, sagt sie. „Ich bin interessiert am Grauen, aus psychologischer Sicht. Nicht an Blut und Eingeweiden, das ist zu wörtlich. Ich mag den Schrecken im Kopf“. Das erklärt auch, warum „Tales Of Us“ mitunter ganz schön düstere Ereignisse erzählt. Goldfrapp machen uns zu Ohrenzeugen, wenn in „Thea“ (übrigens das einzige Stück dieser Platte, bei dem es etwas schneller und elektronischer zur Sache geht) ein Ehemann nebst Geliebter den Mord am nun überdrüssigen Eheweib planen. Oder in „Laurel“ der Freund der erfolglosen Jungschauspielerein ebenfalls mörderischen Gelüsten nachgeht. Selbstverständlich wird es in den Texten nirgendwo deutlich erwähnt. Das ist vielleicht der Stil anderer Bands, der von Goldfrapp ist es nicht. Sie verpacken das in verschnörkelte Texte voller morbider Faszination: Your red hair your almond eyes / fear is a fog rolling in and around / Laurel whispers from inside / Laurel running out of time.
„Ich bin interessiert am Grauen, aus psychologischer Sicht.“ (Alison Goldfrapp)
Nun geht es aber mitnichten immer nur um Mord und Totschlag hier. Es gibt sie auch auf „Tales Of Us“, die Erzählungen, die das Herz erwärmen. Wie etwa in „Clay“ die zweier Männer, die sich in Kriegszeiten ineinander verliebten. Eine Liaison mit einem ebenfalls tragischen Ende. Es waren nicht die einzigen im Gleichklang schlagenden Herzen, die durch die Grausamkeit des Krieges auf ewig voneinander getrennt wurden. Viel, viel zu oft musste ein Partner den anderen überleben. So auch hier. Auch hierzu hat Alison etwas zu sagen: „Es ist eine wahre Geschichte. Sie verliebten sich und wollten sich nach dem Krieg unbedingt wiedersehen. Tragischerweise ist einer von ihnen im Kampf gefallen. Ich las einen Brief des anderen Mannes, den er am Todestag seines Geliebten geschrieben hatte, als hätte er ihm geschrieben. Dieser Brief dieser beiden Männer rührte mich zu Tränen. Es war so bildhaft und so süß und rührend und absolut tragisch.“
Es sind also durchaus auch sehr persönliche, sehr intime Dinge, die Goldfrapp hier erzählen. Verpackt in diese tollen Klanggebilde, die förmlich nach einem Konsum zu fortgeschrittener Tageszeit schreien. Die Texte bieten dabei genügend Spielraum für viel freie Interpretationen. Wem läuft bei „Drew“ bei den Zeilen I smelt the sweat I felt the sun again / dreams on your skin on my tongue nicht ein wohliger Schauer den Rücken hinab? „Tales Of Us“ sind die Geschichten der Figuren, die die Band für dieses Album über einen Zeitraum von zwei Jahren erschaffen hat. Oder es sind Eure.
Die neuerliche Wandlung im Klang Goldfrapps steht der Band gut zu Gesicht. Die perfekte Ummantelung für das inhaltliche Anliegen. Viel zu kurz waren die Freuden des Sommers. Der Herbst naht und mit ihm die Zeit melancholischer Momente. Vielleicht hat der kurze Sommer aber dennoch ausgereicht, um ein paar Erinnerungen zu schaffen, derer man bei einem Glas Wein und Kerzenschein gedenkt. Ein Soundtrack für diese besonderen Momente könnte das „Tales Of Us“ sein. Es erzählt selbst ein paar Geschichten – oder vertont die Euren. Sensationell gut – aber nichts für nebenbei. Seine volle Wirkung kann es nur entfalten, wenn Ihr Euch dem Album mit der gebotenen Aufmerksamkeit hingebt. Ich kann Euch sagen – es lohnt sich!