Daniel Myer alias Architect während eines Konzerts.

Musikvorstellung: Architect – Mine

Foto: Roman Empire / Avalost

Ach, was ist die Welt doch hektisch heutzutage. Alles wird immer lauter, wuseliger, abgefahrener und die Zeit, sie rast mit immer zunehmender Geschwindigkeit an einem vorbei. Es überrascht nicht, wenn sich bei so manchen das Gefühl breit macht, nur noch mit Mühe Schritt halten zu können. Ich meine, werft doch mal einen Blick auf den Kalender. In drei Monaten ist schon wieder Weihnachten angesetzt. Haben wir aber gefühlt nicht eben erst die ganze Weihnachtsdeko verstaut? Wo ist das Jahr schon wieder hin? Und so hetzen wir durch den Alltag. Wann aber schaltet man mal bewusst einen Gang zurück? Falls es dafür eines bestimmten Mittelchens bedurfte, gibt es ab sofort keine Ausreden mehr. Das neue Album von Architect, „Mine“, ist schließlich seit dem 20. September erhältlich.

Daniel Myer, so scheint es mir, gehört auch zu den Leuten, die niemals rasten. Egal ob nun bei DSTR (ehemals Destroid), Haujobb, einst bei Covenant, als Produzent oder Remixer – es vergeht wohl kein Monat, ohne dass eine Produktion das Licht der Welt erblickt, bei welcher der Klangkünstler seine Finger nicht im Spiel hatte. Und dann ist da auch noch sein Projekt Architect, dass inzwischen auch schon locker 15 Jahre existiert und das sich im Laufe der Jahre sogar die Aufmerksamkeit von Alan Wilder (Recoil, anno dunnemals auch Depeche Mode) sicherte. Vermutlich rast die Zeit bei Herrn Myer noch mehr als für uns Normalsterbliche, solange es uns aber wenigstens für eine Stunde die Flucht vor Realität und Alltag ermöglicht, ist es ja zumindest nicht vergebens.

Zurück zu Architect und dem neuen Album „Mine“. Myer bezeichnet die Mucke, die er unter dem Namen Architect zaubert, als eine einzigartige Mischung aus IDM (Intelligent Dance Music, ein hübscher Oberbegriff für „wir schmeißen alles in einen Topf, was irgendwie fetzt und abgefahren klingt“), Electro und sanften Klanglandschaften. Sanft ist hier übrigens auch das Wort der Stunde. Das letzte Album, „Consume Adapt Create“ war noch sehr darauf ausgelegt, irgendwelche körpereigene Extremitäten in Bewegung zu versetzen. „Mine“ beschreitet offenkundig den Pfad in die entgegengesetzte Richtung.

Verschiedene Gäste und atmosphärische Downtempo-Nummern

Noch bevor ich einen Blick auf den Pressetext oder ins Booklet geworfen hatte, fühlte ich mich nach dem ersten Hördurchgang sehr an das aktuelle Album von Ben Lukas Boysen (auch unterwegs als Hecq, der nicht zuletzt durch die Remixarbeiten für In Strict Confidence bekannt sein dürfte), „Gravity“, erinnert. Ein Werk, das vom Myer in einem uns wohlbekannten sozialen Netzwerk einst als Album des Jahres gefeiert wurde. Und siehe da: so einige Songs dieses Albums sind in Zusammenarbeit mit Boysen entstanden. Da haben sich die richtigen Leute zusammengetan. Doch damit ist das Thema künstlerischer Zusammenarbeit bei „Mine“ noch nicht erschöpft. Haujobb-Buddy Dejan Samardzic ist hier genauso mit an Bord wie Paul Kendall, Felix Gerlach und die ungarische Sängerin Emese Arvai-Illes von Black Nail Cabaret, die den Texten ihre wunderbare, beinahe soulige Stimme leiht. Richtig gelesen, der Myer trällert hier dieses Mal gar nicht selbst.

Das Eröffnungsstück „Altitude“ gibt gleich die Marschrichtung des restlichen Albums vor: atmosphärische, träumerische Downtempo-Nummern, angereichert mit der bemerkenswerten Stimme Emeses – und ganz vielen Klangspielereien, die allen, die sich für so etwas begeistern können, die Freude warm am Bein herunterlaufen lassen dürfte! Dass Myer sein Interesse für Dubstep gleich beim Auftakt bekundet, ist wenig überraschend und verkraftbar. Wer, ähnlich wie ich, so langsam Höcker auf dem Rücken bekommt, ob dieses gnadenlos überreizten Sounds, sei an dieser Stelle entwarnt. Das Gewobbel hält sich insgesamt sehr in Grenzen auf diesem Album. Ungleich spannender ist der Einsatz eines Klaviers beim nachfolgenden „Closer“, das ganz viel Wärme über das kühle Electrogerüst streut und einen faszinierenden Kontrast zu den teilweise bedrohlich geflüsterten Texten bildet. Extrem cool (in jeder Wortbedeutung) ist auch „Freaks“, das mich mit seinem Geflirre und den Melodiespitzen an den Soundtrack des Computerspiels „Deus Ex: Human Revolution“ denken lässt. Oder irgendeinen anderen Sci-Fi-Soundtrack. „Immaterial“ glänzt durch die Veredelung mittels Akustikgitarre. Überhaupt sind es die „echten“ Instrumente, die dem Sound diese besondere Note verleihen. Bei „The Sun“ schimmert sogar ein bisschen Trance durch. Und in „Hummingbird“ kommt nicht nur ein bisschen die Covenant-Vergangenheit von Herrn Myer durch, überdies schreit dieser Song auch danach, bei einer Live-Darbietung von ihm getrommelt zu werden. Es gibt auf diesem Album so unheimlich viel zu entdecken bzw. erhören, dass es schlicht unmöglich ist, auf alle Feinheiten einzugehen. Um das entsprechend abzukürzen: Daniel Myer untermauert hiermit einmal mehr seinen Ruf, zu den fähigsten und kreativsten Klangarchitekten zu gehören, die genreübergreifend momentan aktiv sind.

Abhängig davon, wann und wie man das Album hört, führt es womöglich zu Traurigkeit oder Träumerei

Auf der Webseite von Architect heißt es, in Abhängigkeit davon, wann und wie man dieses Album hört, führt es womöglich zu Traurigkeit oder Träumerei. Ich glaube, es ist tatsächlich sogar ein Allzweckmittel für jede denkbare Stimmungslage. In jedem Fall schaffen die hier beteiligten Architekt*innen etwas, zu dem nur sehr wenige Musikschaffende in der Lage sind: für eine gute Stunde halten sie die Welt an. „Mine“ ist Eure Fahrkarte raus aus dem stressigen Alltag. Ein Kurzurlaub für die Sinne, das Transportmittel sind Eure Ohren. Danach ist auch alles gleich etwas weniger schlimm, glaubt mir.

Bei Architect kann man sich darauf verlassen, dass man im Vorfeld niemals sicher sein kann, womit Klangtüftler Daniel Myer seine Zuhörer*innen bei einer Neuveröffentlichung überraschen wird. Dem eher rhythmusorientierten, ziemlich unterkühlten „Consume Adapt Create“ steht mit „Mine“ ein sehr viel ruhigeres, wärmeres und auch deutlich spannenderes Album gegenüber. Myer hat im Sinne der Klangvielfalt gut daran getan, sich für diese Produktion so viele befreundete Musiker*innen ins Boot zu holen. Die Mischung aus so unterschiedlichen Elementen, die mächtige Produktion, die ohrschmeichelnden, träumerischen Melodien – all das macht „Mine“ nicht nur zu einem grandiosen Electro-Album, sondern auch zum perfekten Begleiter für die Abendstunden oder all die Momente im Leben, in denen man mal eine Spur zurückschalten möchte. Ganz groß!

Cover des Albums Mine von Architect.
Erscheinungsdatum
20. September 2013
Band / Künstler*in
Architect
Album
Mine
Label
Hymen Records
Unsere Wertung
4.1
Fazit
Dem eher rhythmusorientierten, ziemlich unterkühlten „Consume Adapt Create“ steht mit „Mine“ ein sehr viel ruhigeres, wärmeres und auch deutlich spannenderes Album gegenüber. Myer hat im Sinne der Klangvielfalt gut daran getan, sich für diese Produktion so viele befreundete Musiker*innen ins Boot zu holen. Die Mischung aus so unterschiedlichen Elementen, die mächtige Produktion, die ohrschmeichelnden, träumerischen Melodien - all das macht „Mine“ nicht nur zu einem grandiosen Electro-Album, sondern auch zum perfekten Begleiter für die Abendstunden oder all die Momente im Leben, in denen man mal eine Spur zurückschalten möchte.
Pro
Entschleunigte, aber sehr detailliert ausgearbeitete Electro-Kost
Zahlreiche Mitwirkende, die das Erlebnis nur noch runder machen
Kontra
4.1
Wertung
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