Die Band NOYCE™ steht im Kreis auf der Straße eines verlassenes Dorfes. Das Bild ist von der Mitte aus aufgenommen und simuliert eine Art Fischaugenoptik.

Im Gespräch: Interview mit NOYCE™ anlässlich der Veröffentlichung des „Heimat“-Videos

Foto: Mark Steffen Göwecke

Es ist gute zwei Wochen her, dass wir Euch an dieser Stelle von dem wirklich sehenswerten Video zu „Heimat“, übrigens eines der stärksten Lieder des letzten NOYCE™-Albums „Love Ends“, erzählt haben. Ich muss gestehen, dass mich das Video – in Kombination mit dem Song und dem Epilog, der mehr über die beklemmenden Hintergründe des Videos erzählt – sehr beeindruckt hat. Und zwar so sehr, dass ich noch mehr darüber erfahren wollte. Daher habe ich Florian Schäfer, Sänger und Kopf der Band NOYCE™ sowie Mark-Steffen Göwecke, dem Regisseur und Videokünstler hinter dem “Heimat”-Clip, mal ein paar Fragen gestellt. Über „Heimat“, über das Video, das inzwischen übrigens mehr als 22tausend Mal bei Facebook aufgerufen wurde und über die Hintergründe.

Roman Empire: Kommen wir zunächst mal auf den Song „Heimat“ selbst zu sprechen – welche Bedeutung hat er für Euch? Was soll er ausdrücken? Und wie würdet Ihr ihn im Kontext Eures letzten Albums „Love Ends“ einordnen?

Florian: Auch wenn ich den Text im Kopf vor dem Hintergrund eines Syrien-Szenarios geschrieben habe, geht es am Ende eben (ohne dass man Braunkohle und Syrien vergleichen kann!) um den Verlust der Heimat, das Vertrieben werden von einem einst geliebten Ort. Das, wie auch immer, erzwungene Verlassen eines Ortes, der einst voll mit Freunden, Liebe, Gerüchen und Leben war. Den Ort, den wir alle irgendwo haben: Heimat! Der Song wie auch der Text ist, im Kontext zum Album, eben auch eine Art endender Liebe. Wie eine Beziehung … die einseitig beendet wird.

Florian steht auf der Straße eines verlassenen Dorfes. Das Bild ist von der Mitte aus aufgenommen und simuliert eine Art Fischaugenoptik.
Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Für das Video scheint Ihr ja einigen Aufwand betrieben zu haben. Erzähl mal ein bisschen darüber. Wie kam die Idee dafür zustande, wie die erneute Zusammenarbeit mit Mark-Steffen Göwecke, mit dem Ihr ja schon vor 12 Jahren für das Video zu „Year 03“ gedreht habt?

Florian: Wir hatten seit dem „Year 03“-Video immer mal wieder Kontakt, wo auch ein weiteres gemeinsames Video ein Thema war. Allerdings ist es natürlich so, dass eben auch relevantes musikalisches Material für ein Video vorhanden sein muss. Aber wir sind, wie Du weißt, in Bezug auf Album-Veröffentlichungen nicht wirklich die Fixesten. Somit gab es die Idee, wieder etwas zusammen zu machen, schon sehr lange. Nachdem ich Mark-Steffen„Love Ends“ zugeschickt habe, waren wir uns dann auch schnell einig, dass es „Heimat“ werden sollte. In diesem Zusammenhang habe ich mich wieder an die Geisterstädte rund um den Braunkohle-Tagebau erinnert, wo ich ohnehin schon lange etwas machen wollte.

Mark-Steffen: Im Grunde erfolgte die Kontaktaufnahme beinahe zeitgleich. Ich erforschte gerade die Möglichkeiten von 360-Grad-Aufnahmen, bzw. auch die Option, zwar 360 aufzunehmen, aber dann nur einen Ausschnitt zu verwenden („Reframing“). Ausprobieren/Experimentieren braucht aber zum einen auch ein Thema, ein reales Projekt – und da ist generell „Musikvideo“ eine großartige Spielwiese. Zum anderen sind aber auch Leute nötig, die sich darauf einlassen und über den notwendigen Elan verfügen, so etwas dann auch durchzuziehen… da lag eine Mail an Herrn Schäfer nahe, der auch just an 360-Grad-Video gedacht hatte. Das war mystisch…

Jens steht in einem verlassenen Dorf, hinter ihm ist eine alte Windmühle zu sehen. Das Bild ist von der Mitte aus aufgenommen und simuliert eine Art Fischaugenoptik.
Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Was war bei dieser Zusammenarbeit anders, was ist gleich geblieben?

Mark-Steffen: Es war für mich so, als ob „Year03“ gerade erst gemacht worden war. 12 Jahre … das wurde ein paar Mal ungläubig bestaunt. Im Grunde war alles „wie früher“. Jeder steuert was bei. Man spinnt rum … beide Videos sind ja dennoch grundverschieden. „Year03“ wurde in einem Keller fast nur fotografiert. Das Rahmenmaterial war durch meinen Kurzfilm vorgegeben … „Heimat“ wurde gedreht – wenn auch unkonventionell. Bei dem Dreh bin ich als One-Man-Show sehr mit der Technik beschäftigt und Florian hat so einen gewissen Überblick, was es inhaltlich braucht. In dem Tempo ist das sonst nicht zu machen. Im Schnitt kommt dann von beiden Seiten was – Florian hat da sehr konkrete Vorschläge, die ich dann auch sehr oft eins zu eins realisiert habe. Nicht zuletzt muss es dem „Kunden“ munden. Ich würde aber nichts umsetzen, zu dem ich nicht auch stehe und bestehe natürlich auch auf das eine oder andere …

Florian: … und das ist auch gut so. Zum Beispiel haben wir die Eröffnungsszenerie auf der A4 nur auf Dein Drängen nachgedreht. Vorher war es eine recht kurze Szene, in der die Kamera mal eben über mich drüber fliegt. Bisschen Autobahn. Bisschen Rumliegen. Die hätte man mit schwarzen Bildern und Texteinblendungen strecken können, aber dann hätte diese Szene bei Weitem nicht die Größe bekommen, wie dies nun der Fall ist. Es ist wie beim Musizieren mit Oliver. Die Ideen kommen in einen Topf, daraus entstehen weitere Ideen … und weitere und am Ende ist das Ergebnis dann so, wie wir es brillant finden. Dass wir uns 12 Jahre nicht gesehen haben, fiel gar nicht ins Gewicht, da wir beide genügend gute Ideen für den Topf hatten und wie damals perfekt harmoniert haben.

Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Die Region, in der Ihr Euch dort im Video bewegt, deren Geschichte und Zukunft scheint Euch sehr zu bewegen. Welchen Hintergrund hat das?

Florian: Ich kann mich erinnern, dass wir vor einigen Jahren mal zu Olaf Wollschläger auf dem Landweg ins Studio nach Kerpen-Buir gefahren sind, weil wir von dem „Geisterdorf“ Otzenrath gehört hatten. Wir stiegen aus und die Leere sowie die Tatsache, dass dieser Ort bald weg sein und nur noch ein Loch bleiben wird, fand ich damals schon unfassbar beklemmend. Das muss Mitte der 2000er gewesen sein. Seit dieser Zeit hatte ich immer die Idee, dieses beklemmende Gefühl in einem Video festzuhalten. Es fehlte aber entweder der Song oder die Idee. Einfach nur in einem leeren Dorf ein Video zu drehen, entsprach aber nicht unserm Anspruch. Zu „Heimat“ hatte es sich dann angeboten. Und in einem Telefonat mit Mark-Steffen machte ich den Vorschlag und dann reifte die Idee in einem dieser todgeweihten Dörfer etwas zu machen. Bei der gemeinsamen Locationsuche kamen dann, neben Manheim, auch noch weitere Orte, wie unter anderem Immerath oder die alte A4 hinzu.

Mark-Steffen: Eindeutig Florians Vorschlag. Wohl auch Zufall, glaube ich. Ich hatte schon viel davon gehört und bin seit jeher an solchen Themen (Zeit, Vergänglichkeit und deren Dokumentation) interessiert und war sofort sehr angetan. Ich für mich muss allerdings auch sagen, dass ich mich nicht für sehr politisch halte. Ich bin in erster Linie Dokumentarist und zeichne das auf, was ich sehe, ohne es bewerten zu wollen. Das fragte man mich schon beim Kurzfilm „L’Hôtel“, ob der politisch sei … Ich bin eher ein Tourist, der anderen zeigen will: so sieht das da aus.

Mark von NOYCE™ befindet sich in einem Waldstück nahe eines verlassenen Dorfes. Das Bild simuliert eine Art Fischaugenoptik.
Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Im Video erzählt Ihr im Epilog, dass die Drehorte wie die alte A4, Manheim usw. für immer verschwinden werden. Was passiert dort? Und: wie sieht es aktuell dort aus? Sind es wirklich schon solche Geisterstädte, wie es das Video erahnen lässt?

Mark-Steffen: Jup. Es sieht dort genauso aus. Für das Video – die Stimmung, die es benötigt – ein riesiges Set, beinahe ohne Einschränkungen. Wir waren ja nach dem Dreh noch einmal dort, noch alles frisch im Kopf, gerade erlebt – und da waren schon ganze Häuserreihen verschwunden. Aber nicht als Trümmerfeld, sondern alles war beinahe nett geharkter Acker – das war schon sehr seltsam. Wie muss das erst für jemanden sein, der da einen Großteil seines Lebens verbracht hat?

Florian: Das war bei dem Nachdreh, für den Anfang, in der Tat sehr gruselig, als wir noch einmal nach Manheim reingefahren sind … weil der Abriss so unfassbar schnell ging. Wie Mark-Steffen schon gesagt hat. Die Erinnerungen, wo wir gestanden haben oder gelaufen sind, waren noch ganz frisch, da es gerade einmal zwei Monate her war. Besonders: Als wir damals im März morgens angefangen haben zu drehen, stand plötzlich ein älterer Herr neben uns und hat sich erkundigt, was wir hier machen. Nachdem wir ihn aufgeklärt hatten, haben wir ihn gefragt, warum er denn noch „hier“ ist. „Ach, ich hab mich nicht mit RWE einigen können, aber das ist auch nicht mehr schlimm. Ich habe Krebs im Endstadium. Bald bin ich weg, dann mein Haus, meine Straße – dann ist hier nichts mehr außer einem großen Loch“. Wir waren alle sprachlos und hatten Gänsehaut. Beim Nachdreh, zwei Monate später, stand sein Haus nicht mehr und man stellt sich die Frage, was wohl aus ihm geworden ist.

Roman Empire: Wie liefen die Dreharbeiten? Wie lange habt Ihr insgesamt gebraucht, um diesen … ja, man muss schon sagen: dokumentarischen Musikkurzfilm fertigzustellen? Also von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung?

Mark-Steffen: Weihnachten 2017 war „Kontaktaufnahme“, Anfang März ein Ausflug zu den Dörfern. Wir wussten ja auch nicht, wie es da aussieht, ob da womöglich alles abgesperrt ist … Dabei machte ich ein paar Testaufnahmen, um die geplante Aufnahmeweise zu proben und auch deren Grenzen auszuloten. Dann war es aber nur ein einziger Drehtag Ende März (bestes Wetter!) mit der Band. Für die erste Aufnahme – die Fahrt auf der A4 – sind wir nochmal zu zweit hingefahren. Alles an einem Tag grenzte schon an ein Wunder. Das ging auch nur, weil mehr als die Hälfte des Videos mit 360-Grad aufgenommen wurde – eine kleine GoPro Fusion, meist an einer sehr langen Stange, mit der sich – sehr schnell – Aufnahmen generieren lassen, die aussehen, als seien sie mit Kran oder gar Drohne aufgenommen worden. Die eigentlich Arbeit – Wahl des Bildausschnittts, Schwenk etc. – passiert dann erst am Rechner. Das Finale war dann auch das Finale mit den letzten Sonnenstrahlen. Hammer! Das Material ruhte dann ein wenig. Ich brauche da so einen Ruf von innen, und dann wuchs es recht schnell, immer mal unterbrochen von Jobs, Urlaub etc.

Jessi von NOYCE™ befindet sich inmitten eines verlassenen Dorfes. Sie spielt ein Streichinstrument. Das Bild simuliert eine Art Fischaugenoptik.
Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Die Ästhetik des Videos, mit seiner Fokussierung auf Sepia-Töne und dem Durchbruch der farblichen Monotonie in Form der gelben Blume, der Violinistin im gelben Kleid oder der (vermutlich) von Kinderhand gezeichneten Sonne erinnern mich sehr an den Film „Schindlers Liste“. An das Mädchen im roten Mantel, dem Spielberg in dem Film besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt. Eine zufällige Begebenheit oder steckt in diesen Bildern noch eine tiefere Botschaft?

Mark Steffen: An „Schindlers Liste“ habe ich bis dato nicht gedacht, obgleich sich der Vergleich tatsächlich anbietet und die Funktion des Einsatzes von Farbe auch sehr ähnlich ist. Es war nur klar, dass es nicht rot sein sollte – das ist wirklich zu häufig DIE Signalfarbe im Film und für mich auch viel zu energiegeladen. Jessi kommt ja anfangs als geisterhafte Erscheinung daher – brauchte also ein Unterscheidungsmerkmal. Da lag Farbigkeit nahe. Gelb ist sehr vital, ohne aggressiv zu sein. Blume und Sonne kamen zufällig dazu, rundeten das aber sehr schön ab. Insgesamt kann ich das auch nicht alles lückenlos rational begründen, aber solche „aus-dem-Bauch“-Sachen machen das alles etwas rätselhaft und damit auch interessanter.

Florian: In erster Linie ging es uns einfach darum, Jessi in die angedachte Story zu integrieren und damit die Geschichte zu erzählen. Am Anfang soll der Zuschauer denken, dass Jessi unwirklich wirkt. Bis sich, nach einigen kleinen Hinweisen, am Ende herausstellt, dass es eben nur noch Jessi ist, die wirklich noch da ist. Um dies bildlich umzusetzen, war es elementar, Jessi farblich in gelb abzusetzen. Diese Blume war aber für uns in der Tat ein „unwirkliches“ Zeichen, da diese gelbe Blume genau so in diesem Schutthaufen gewachsen ist. Wir waren uns von Anfang an einig, dass wir s/w drehen wollen mit diesem gelben Akzent. Die feine Idee mit dem Touch „Sepia“ kam dann von Mark-Steffen. Wie erwähnt … alles ein Zusammenspiel vieler Ideen.

Roman Empire: Ihr seid jetzt an sechs Terminen auf Eurer sogenannten Heimat[reise]. Welche Bedeutung haben die gewählten Locations für Euch?

Florian: Die Idee bei diesen Konzerten war einfach, dass wir nicht in den typischen Szene-Locations spielen, weil „das Auge hört mit“. Ein feines Beispiel dafür war der Abend im Cinema Paradiso & Arte in Ludwigshafen. Eine unfassbar schöne Location. Auch wenn leider nicht wirklich viele Menschen vor Ort waren, war es eine sehr schöne emphatische Atmosphäre zwischen dem Publikum, den Bands und eben diesem alten Kino. Wir alle hatten das Gefühl, dass unsere Musik in so einer Umgebung noch an Wert gewinnt … Schwer zu erklären, aber ich denke, du verstehst, was ich meine. Auch am Tag drauf, in Olten in der Schweiz, gab es diese besondere Atmo. Wahrscheinlich spricht unsere Musik eben einfach verstärkt emphatische Menschen an was natürlich sehr schön ist.

Roman Empire: Eine Möglichkeit, in räumlicher Nähe zu den im Video gezeigten Ortschaften zu spielen gab es nicht? Oder hätte das keinen Sinn gemacht?

Florian: Diese Idee hatte Mark-Steffen auch. Eine Video-Premiere vor Ort oder eben auch ein Konzert. Das Problem ist aber, dass so etwas lange geplant werden muss, um auch einige Menschen dazu zu bewegen, dort hinzufahren. Ganz abgesehen davon, kann ich mir leider nicht vorstellen, dass RWE als Landbesitzer uns, für was auch immer, eine Genehmigung erteilt hätte. Das wäre ja wie wenn RWE die Proteste, wie aktuell im Hambacher Forst, organisieren würde. Die Idee selber hatte aber ohne Zweifel einen großen Charme.

Florian von NOYCE™ sitzt auf der Straße eines verlassenen Dorfes. Das Bild ist von der Mitte aus aufgenommen und simuliert eine Art Fischaugenoptik.
Foto: Mark Steffen Göwecke

Roman Empire: Habt Ihr Pläne, eventuell noch einem anderen Song Eures tollen Albums ein Video zu spendieren? An Songs, zu denen sich ähnlich gehaltvolle Videos drehen ließen, mangelt es ja schließlich nicht.

Florian: Aktuell haben wir diesbezüglich keine weiteren Pläne. Ich arbeite zwar schon seit Monaten an einem „Mensch[en]“-Video, aber wann das fertig wird, steht in den Sternen. Es gibt einfach aktuell zu viele Projekte. Aber wir hoffen zumindest, dass nicht wieder 12 Jahre ins Land ziehen, bis es wieder zu einer brillanten Zusammenarbeit mit Mark-Steffen kommt.

Roman Empire: Das hoffen wir auch! Vielen Dank für Eure Zeit, weiterhin viel Erfolg und vor allem viele Zuschauer für Euer tolles Video!


Beim Klick auf das Video wird eine Verbindung zu Youtube hergestellt und damit Daten an Youtube übertragen. Mehr Informationen in unserer Datenschutzerklärung.
Vorheriger Artikel

Musikvorstellung: Peter Heppner – Confessions & Doubts / TanzZwang

Nächster Artikel

Musikvorstellung: VNV Nation – Noire

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lies als nächstes