Die Band Valid blU während eines Konzerts, die Bühne ist mit ganz vielen Scheinwerfern ausgeleuchtet.

Musikvorstellung: Valid blU – WFYB.TV

Foto: Kai Kestner

Wisst Ihr, was ich an diesem Job hier wirklich gerne mag? Die Tatsache, dass so ein oller Klugscheißer wie ich sich in schöner Regelmäßigkeit das eigene Weltbild neu justieren muss. Seine Vorurteile soll man ja pflegen, aber schöner ist es doch, wenn man die über Bord werfen kann – unmittelbar, nachdem man von der Erkenntnis geknutscht wurde. Jüngstes Beispiel: Wolfsburg. Jahrelang lebte ich in der selbst ernannten Autostadt und mein beim Wegziehen mitgenommenes Bild von der Stadt und den Leuten darin und darum war, dass es nur zwei Kernthemen gibt: Autos und Fußball.

Das ist natürlich gequirlte Kacke, weiß ich selbst. Wusste ich damals schon.

Schließlich gibt es kulturell einiges zu entdecken dort, auch wenn Außenstehende das vielleicht zunächst anzweifeln mögen. Aber das Kunstmuseum beispielsweise ist eine Hausnummer, der Wissenschaftstempel zum Mitmachen, phæno, sowieso und auch musikalisch geht in good old WOB einiges. Hochkarätige Konzerte wurden dort gegeben, die schönsten für gewöhnlich im Hallenbad, und auch bezüglich Partys und Clubs, die sich nicht dem Mainstream anbiederten, sondern alternative Geschmäcker zu bedienen versuchten, taten sich immer wieder gallische Dörfer auf. In manchen hat der Autor dieser Zeilen in einer anderen Zeit und einem anderen Leben höchstselbst mitgewirkt.

Anni und Suzen von Valid blU währnd eines Konzerts. Die beiden Frauen stehen sich gegenüber, haben jeweils ein Mikrofon in den Händen und ein bisschen wirkt es so, als würden sie sich anschreien.
Foto: Kai Kestner

Warum ich das alles vorwegschicke? Ganz einfach: dieser Eindruck, im Dunstkreis Wolfsburg ginge musikalisch eigentlich nüscht, kann sich schnell verfestigen – und das, obwohl sich dereinst eine Band wie Oomph! aus der Stadt an der Aller emporgehoben hatte. Falls es Euch ähnlich geht und Eure Assoziationen ähnlich gelagert sind – mein Job hier heute ist Erkenntnisgewinn. Ich möchte Euch quasi küssen. Und wenn es nicht so ist – tja, Pech gehabt. Ich knutsche Euch trotzdem.

Die Band, um die es mir hier geht, nennt sich Valid blU. Das konntet Ihr schon dem Titel entnehmen. Lasst mich noch ein paar Worte mehr zu der fünfköpfigen Band verlieren. Die Bandmitglieder*innen kommen alle aus dem Wolfsburger Dunstkreis. Manche direkt aus der Autostadt, andere aus nahegelegenen Dörfern und Städten. Ferner besteht die Band, die ihre Mucke als progressiven Art Rock bezeichnet, zu drei Fünfteln aus Damen – und aus drei verschiedenen Generationen. Die Mitglieder*innen kommen sowohl aus dem Ost- als auch dem Westteil des Landes. Wer heute noch immer einen Beweis benötigt, dass Ost und West ganz wunderbar zusammenpassen – bidde sehr, Valid blU liefern ihn Euch. Namen und Rollenverteilung möchtet Ihr auch noch? Gerne: Suzen (Gesang), Peter (Gitarre(n)), Anni (Hintergrundgesang), Dennis (Schlagzeug) und Lena (Bass). Die Band legt Wert darauf, dass sie mit zwei weiblichen Gesangsstimmen an den Start geht, die einander ergänzen. Das möchte ich mal als Kommentar dazwischenfunken: Die ergänzen sich nicht nur ganz hervorragend, die harmonieren wunderbar. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass die pfiffig komponierten und arrangierten Songs so gut funktionieren würden wie sie es tun, würde eine der beiden Stimmen fehlen.

Die Band gibt den Songs viel, viel Raum zur Entfaltung

Und was meinen sie nun mit Art Rock? Was soll man sich darunter vorstellen? In einer Zeit des schnellen (Medien-)Konsums, in der Künstler*innen immer mehr Musik zu machen scheinen, die der Generation Spotify gefallen soll, gehen die Damen und Herren hier in vielerlei Hinsicht andere Wege. Will sagen: Wer sich zu denen zählt, die durch die Playlisten skippen und nicht innerhalb der ersten paar Sekunden abgeholt werden, wird sich von Valid blU nicht einfangen lassen, schätze ich. Die Band gibt den Songs viel, viel Raum zur Entfaltung. Das heißt, es dauert manchmal einen Moment, bis es richtig losgeht, zwischendrin gerne Instrumentalparts in epischen Breitbildformat und immer wieder auch mit überschwänglichem Ausklang. Wer gerne in Musik abtaucht, in ihr badet und ihr gänzlich hingibt, wird mit Valid blUs Mucke, die so manches Mal an Pink Floyd erinnert – nur mit deutlich mehr Feuer unter dem Hintern – sehr wahrscheinlich sehr glücklich. Wer mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens auf Speed gesegnet ist, eher nicht. Man muss es wollen, man muss bereit sein, Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren. Aber ehrlich, Leute, das Album hat es auch verdient! Das in die Produktion geflossene Herzblut ergießt sich förmlich in die Lautsprecher oder Kopfhörer.

Peter von Valid blU während eines Konzerts. Er wirkt hoch konzentriert beim Spielen seiner Gitarre.
Foto: Kai Kestner

Apropos Pink Floyd: wie dereinst die Großmeister, die mit „The Wall“ ein sozialkritisches Konzeptalbum lieferten, das heute mit Fug und Recht als eines der bedeutendsten und wichtigsten Alben aller Zeiten gefeiert wird, haben sich die Damen und Herren Valid blU für ihr Debüt auch nicht weniger vorgenommen als ein sozialkritisches Konzeptalbum zu klöppeln. Mit Erfolg, möchte ich sagen. Allein schon durch den Umstand, dass das Album „WFYB.TV“ eine durchgängige Geschichte erzählt, bricht es mit Hörgewohnheiten der heutigen Zeit. Sicherlich werden sich Hörende ihre jeweiligen Favoriten herauspicken, die fortan immer wieder gedudelt werden. Ich habe inzwischen auch meine Perlen ausfindig gemacht. Und doch – das Konzept, die Mühe, die Umsetzung und ein wenig auch der Anstand machen es zwingend, sich dem Album ein paar Mal in voller Länge hinzugeben. Cineastisch ist das Wort, das mir jedes Mal in den Sinn kommt. Die Geschichte des Albums lasse ich Euch mal von der Band in eigenen Worten erzählen:

Ein Album mit Konzept

“Das Album erzählt die Geschichte der kleinen Suzen, die in einer mediengesteuerten Welt aufwächst. Mit der Zeit erkennt Suzen, welch große Macht die Medien haben. Sie hat Angst, in dieser Welt voller Kontrolle und Unterdrückung zu leben. Suzen entschließt sich, die Seiten zu wechseln und nimmt eine Stelle beim Multimediakonzern WFYB.TV an. Sie verspricht sich eine angesehene Position in der Gesellschaft sowie Ruhm, Erfolg und Anerkennung. Für ihren ersten Job wird Suzen als Reporterin zu einem Atomkraftwerk nach London geschickt.

Vor Ort kommt es jedoch zu einer atomaren Katastrophe, die Suzen nur knapp überlebt. Ihr wird klar, dass der Konzern sie nur als Kanonenfutter ausgenutzt hat. Sie ist am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen: Einsamkeit, Fake News vs. Tatsachen, falsche Freunde vs. echte Freunde – eine Problematik, die heutzutage bereits Realität ist. Suzen erkennt, dass Macht und Reichtum nicht alles im Leben sind. Sie hat das System durchschaut und will wieder Teil der realen Welt werden. Doch schafft sie es, sich von WFYB.TV loszureißen?

Der Albumname „We Fuck Your Brain.TV“, kurz „WFYB.TV“ steht für einen fiktiven Multimediakonzern, der mit Hilfe eines von einer künstlichen Intelligenz gesteuerten Systems Einfluss auf das Denken der Menschen über TV, Radio, Print sowie Social Media nimmt. Ausgeführt wird diese Aufgabe von Robotern, die die Menschen überwachen und somit gezielt Informationen über und für die Menschen zusammenstellen können. Vielleicht begegnen euch die Roboter ja auch in der Show – haltet die Augen offen! Ein wichtiger Mitarbeiter des WFYB.TV-Konzerns ist Marvin, der immer wieder in verschiedenen Rollen auftaucht: mal als Tour-Manager, PR-Boss oder als Crew-Chef eines Broadcast-Teams von WFYB.TV. Letztendlich ist er ein vom Medienkonzern eingeschleuster Agent, der Suzen im Auge behalten soll, der künstlichen Intelligenz subjektive Einschätzungen von Suzens Entwicklung übermittelt und im Hintergrund immer wieder ein paar Weichen stellt.”

Suzen von Valid blU während eines Konzerts. In der linken Hand hält sie ihr Mikrofon. Von der rechten Hand hält sie sich Zeige- und Mittelfinger an den Kopf und es ist eine Geste, wie als würde sie sich eine Pistole an die Schläfe halten.
Foto: Kai Kestner

Ihr merkt schon, da hat sich die Band wirklich Gedanken gemacht. Es ist leicht, irgendwas als ein Konzeptalbum zu bezeichnen. Wurde oft gemacht, nicht immer aber war das Konzept auch inhaltlich wiederzufinden. Nicht so auf „WFYB.TV“. In den drei Jahren, in denen die Band an dem Album arbeitete, haben offenbar viel Mühe darauf verwendet, den roten Faden der Geschichte auch in die Songtexte einfließen zu lassen. Deshalb geistert mir der Begriff cineastisch durch den Kopp. Kopfhörer rein, Augen zu und schon flimmert ein Film vor Eurem geistigen Auge ab, der die Kamera schonungslos dorthin richtet, wo gerne mal weggeschaut wird.

Inhaltlich ist also alles schick. Auch musikalisch geben sich Valid blU keine Schwäche. Als das Album geköchelt wurde, schüttete man ganz offensichtlich ein paar Extraportionen Pink Floyd in die Soundsuppe (inklusive Samples und üppiger Instrumentalparts) und schmeckte anschließend mit ordentlich Pfeffer ab, der manches Mal schon sehr nach Metal klingt. Will sagen: Wem Pink Floyd zu getragen waren, wird sich hier sicher manches Mal überrascht die Ohren reiben. Ohne die Heroen in irgendeiner Weise herabwürdigen zu wollen, aber wenn Pink Floyd Eintopf ist, dann sind Valib blU feuriges Chili. Und das, meine sehr verehrten Lesenden, muss man erst einmal auf Kette bekommen. Zumal wir es hier mit einem Debüt zu tun haben, was das gelieferte Erlebnis nur noch beeindruckender macht! Sicherlich, ein zweites „The Wall“ ist „WFYB.TV” nicht, erwartet aber auch niemand. Was man erwarten kann, sind Mut und Courage, in diesen Zeiten nicht den einfachsten Weg zu gehen – und das haben Valid blU getan. Ich möchte übrigens an dieser Stelle auch ganz besonders die Spielfreude erwähnen, mit der die Band ans Werk gegangen. Wirklich toll, wirklich beeindruckend!

Hinter die musikalische Finesse können wir also auch einen Haken setzen. Schon das zweite Bienchen, das man der Band ins Muttiheft stempeln kann. Bleibt noch die stimmliche Leistung. Möglicherweise erahnt ihr es ob der vorangegangenen Worte schon, dass Valid blU an diesem Punkt nicht anfangen, zu patzen. Ganz im Gegenteil. Um mal auf das Zurechtrücken von Weltbildern zurückzukommen: bei female fronted Rockmusik der mitunter härteren Gangart habe ich für gewöhnlich zwei Vorstellungen. Entweder es richtiges Metal-Geballer mit allem, was dazu gehört, Growls und was weiß ich nicht noch alles inklusive. Oder diesen hochstimmigen Gesang, wie ihn dereinst Kapellen wie Nightwish oder Within Temptation kultivierten. Bei Valid blU ist weder das eine zu finden, noch das andere. Sondern stattdessen ganz klassischer Gesang, nicht einmal das inzwischen auch schon überstrapazierte Vibrato in den Stimmen ist zu vernehmen. Harmonisch, dynamisch, weich, warum und kraftvoll – das sind so ein paar der Assoziationen, die mir diesbezüglich in den Sinn kommen. Dass Frontfrau Suzen im echten Leben auch noch als Vocal Coach tätig ist, macht sich hier bemerkbar. Sie und Anni verstehen es hervorragend, die ihnen gegebenen Singorgane einzusetzen und sind die Kirschen auf dieser musikalischen Sahnetorte. Dass Suzen darüberhinaus über eine Singstimme verfügt, die mir kleine Herzchen in die Augen zaubert, sag’ ich ihr bei Gelegenheit aber lieber mal persönlich.

Anni und Peter von Valid blU. Sie steht im Vordergrund und singt ins Mikrofon, er ist im Hintergrund mit einer Gitarre in der Hand zu sehen.
Foto: Kai Kestner

Was unterm Strich bleibt ist die Erkenntnis, dass “WFYB.TV” ein sensationelles Debütalbum geworden ist, dass mit Songs wie “DNA”, “Sometimes”, “Jetlag Hotel” oder “Sad Songs” ein paar wirkliche Hochkaräter an den Start bringt, die gekommen sind, um zu bleiben. Wenn man also künftig von erstklassigem (Progressive -/) Art Rock spricht, braucht man nicht mehr verstohlen in Richtung UK (Pink Floyd, Steven Wilson / Porcupine Tree) zu schielen. Das Potential, in gleichem Atemzug genannt zu werden, findet sich schon im Großraum Wolfsburg. Hättste das gedacht? Nee? Ich auch nicht. Und nun habe ich fertig mit Knutschen.

Weil wir ja hier gerade bei Geständnissen sind: „WFYB.TV” ist bereits im April erschienen. Und fairerweise muss auch gesagt werden, dass mein Kollege Patrick mich seit ungefähr immer auf diese Band aufmerksam zu machen versuchte. Asche über mein Haupt, dass ich erst jetzt dazu komme, Euch von dieser Großtat zu erzählen. Man könnte meinen, dass man in Zeiten einer globalen Pandemie eher mal Zeit hat, um Musik zu genießen. Denkste, nüscht ist! Tatsächlich scheint das zur Verfügung stehende Zeitpensum mit jedem Tag schneller zu verstreichen. Na, wie auch immer: ich bin froh, Valid blU doch noch für mich entdeckt zu haben. Valid blU haben ein bärenstarkes Debütalbum abgeliefert, welches das Potenzial zum modernen Klassiker hat und das eigentlich überall dort in den Suchergebnissen auftauchen müsste, wo nach „großer Wurf” gegoogelt wird. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir von dieser Band noch sehr, sehr viel Großartiges erwarten dürfen und bin gespannt, wo die Reise hingeht. Wenn Valid blU ein Schiff ist, dann bin ich hiermit an Bord gegangen und lege Euch wärmstens ans Herz, es mir gleichzutun, wenn Ihr Euch auch nur entfernt für Rockmusik + weiblicher Gesang interessiert.

Cover des Albums WFYB.TV von Valid blU.
Erscheinungsdatum
9. April 2021
Band / Künstler*in
Valid blU
Album
WFYB.TV
Label
Calygram
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Denkste, nüscht ist! Tatsächlich scheint das zur Verfügung stehende Zeitpensum mit jedem Tag schneller zu verstreichen. Na, wie auch immer: ich bin froh, Valid blU doch noch für mich entdeckt zu haben. Valid blU haben ein bärenstarkes Debütalbum abgeliefert, welches das Potenzial zum modernen Klassiker hat und das eigentlich überall dort in den Suchergebnissen auftauchen müsste, wo nach „großer Wurf” gegoogelt wird. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir von dieser Band noch sehr, sehr viel Großartiges erwarten dürfen und bin gespannt, wo die Reise hingeht.
Pro
Spannendes Konzept bzw. spannender Inhalt, der sich auch tatsächlich recht deutlich in den Texten wiederfindet
Toller Gesang, ganz unüblich dem gewohnten female fronted Rock-/Metal-Einerlei
Toll produziert mit viel Platz für die Musik, sich zu entfalten
In Summe: Beeindrucker Einstand
Kontra
4.4
Wertung
Vorheriger Artikel

CHVRCHES covern “The Lost Boys”-Klassiker “Cry Little Sister”

Nächster Artikel

50 sehr gute Lieder des Jahres 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lies als nächstes