Enno Bungers neues Album „Der beste Verlierer“: Musikalischer Rettungsanker in stürmischen Zeiten

Foto: Jan Seebeck

Das Jahr 2024 ist noch keinen Monat alt, gibt sich aber schon alle Mühe, seinen Vorgänger im Beschissenheitsfaktor übertrumpfen zu wollen. Da war das Hochwasser, da war dieser Bauernaufstand, da gab es im Zuge dessen diese unsägliche Nötigung eines Politikers im Urlaub, wo es wohl nur der Umsicht des Fährenkapitäns zu verdanken war, dass nicht weiß Gott was passiert ist. Und kurz vor Ablauf der zweiten Woche die schockierenden, wenn auch nicht überraschenden Enthüllungen von Correctiv.org über die Deportationspläne der AfD. Im Getöse all dieser Ereignisse geht gerade ein wenig unter, dass die globalen Meeresoberflächentemperaturen jetzt schon auf einem Niveau sind, die nichts Gutes erahnen lassen. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Manchmal habe ich das Gefühl, wir rasen mit einem Auto (einem Verbrenner noch dazu) mit 180 Sachen auf den Abgrund zu und die Bremsen sind defekt. Worauf ich hinaus möchte: Wer sich sorgt um den Zustand unserer Gesellschaft und der Welt, in der wir Leben, hat schon zum Jahresstart sagenhaft viele Gründe für Sorgenfalten auf der Stirn. Inmitten dieser Krisen erscheint mit „Der beste Verlierer“ das neue Album von Enno Bunger. Lösungen hat der musizierende Flausenleger und Kummerjäger in Personalunion freilich keine. Wie könnte er auch. Aber dafür einmal mehr ganz viel wunderschöne Musik im Gepäck, die dabei helfen kann, den Rettungsanker auszuwerfen, wenn die Flut der Ereignisse einen wegzuspülen droht.

Nach „Was berührt, das bleibt“ hatte Enno den frommen Wunsch geäußert, nie wieder ein Album wie jenes machen zu müssen und sich stattdessen viel lieber wieder fröhlicherer Musik zu widmen. Um Euch noch einmal ins Boot zu holen: „Was berührt, das bleibt“ war ein Album, auf welchem Enno und die Menschen in seinem engsten Umfeld den Tod von Lena, der Frau seines Bandkollegen und Freundes Nils, verarbeiteten. Von der Freude und der trügerischen Euphorie, den Krebs scheinbar besiegt zu haben, über das Hochgefühl einer Freundschaft, die ein Leben lang hält bis hin zur Verarbeitung der Trauer, die bisher nur wenige Male ähnlich intensiv und ergreifend gelungen ist (ich denke beispielsweise an die Vocal Version von VNV Nations „Forsaken“ oder das unbenannte, 22-minütige Stück auf Queens „Made in Heaven“) – „Was berührt, das bleibt“ war schwere Kost und gewiss auch eine Form von therapeutischer Aufarbeitung der Ereignisse. Ein krasser Kontrast jedenfalls zum Vorgänger „Flüssiges Glück“, das viel leichter und verspielter daherkam, auch wenn sich Ennos politische Ambitionen damals schon abzeichneten („Wo bleiben die Beschwerden?“). In meinem Fazit zum letzten Album schrieb ich, dass ich es ihm wünschen und gönnen würde, dass er nie wieder ein Album in jener Gewichtsklasse wie „Was berührt, das bleibt“ machen muss. Tja.

Enno Bunger - Weltuntergang (Alles hört auf)

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Wie Interessierte es sicher schon mitbekommen haben: „Der beste Verlierer“ ist schon wieder kein fröhliches Album geworden. Zu sehr ist Enno, dem Anschein nach, ein sehr empathischer Mensch, der die Ereignisse auf der Welt, die gesellschaftlichen und politischen Spannungen, vermutlich mehr fühlt, als es ihm (ebenfalls vermutlich) recht sein kann. Zumal Enno berichtet: „Ich hatte einfach Lust darauf, eine musikalisch groß angelegte, gesellschaftsbetrachtende Platte zu machen. Es ist so viel los in der Welt, es gibt so viele Ereignisse, die nicht nur mich, sondern wahrscheinlich die meisten von uns bewegen, dass ich nach den Themen für meine Songs nicht lange suchen muss – die sind ja alle schon da. Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt und betrachte Stimmungen und Tendenzen in der Gesellschaft, die mir teilweise Sorgen machen. Diese Sorgen in gewissermaßen „warmer“ Popmusik zu besingen, scheint mir ein guter Weg, um erstmal selbst damit umgehen zu können und natürlich auch, um im Idealfall Menschen zu sensibilisieren. Musik ist ein guter Weg, abstrakte Gefühle greifbarer werden zu lassen. Lieder können Brücken bauen zur empathischen Ebene, können bestärken, Halt und Hoffnung geben, können Verbundenheit zu Fremdem aufbauen.“

Lina Maly & Enno Bunger - Kinder haben (Official Visualizer)

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Diverse Stücke des Albums waren vorab schon veröffentlicht worden und machten die Marschrichtung eigentlich ziemlich klar. Dass sich Enno auf „Der beste Verlierer“ so eindringlich der Klimakrise widmen würde, dürfte niemanden überraschen. Das musikalisch irgendwo im Indie-Pop angesiedelte „Weltuntergang (Alles hört auf)“ war der erste, sehr deutliche Vorbote. Dazu passte das wunderschöne, ebenfalls im Vorfeld veröffentlichte und auf dem vorliegenden Album enthaltene „Kinder“, ein Duett mit Lina Maly. Und während letzteres der Frage nachgeht, ob man heute noch Kinder in die Welt setzen sollte oder möchte, ist ersteres wie so vieles im Schaffen von Enno ein musikalischer Mutmacher. Zwischen Ängsten, Sorgen, Zweifeln und Bangen schafft er es immer wieder, die dunklen Wolken zu durchbrechen und einen Lichtstrahl der Hoffnung scheinen zu lassen. Ich glaube übrigens, dass ihn das mehr Kraft kostet, als es die teilweise musikalisch spielerische Leichtigkeit vermuten lässt. Was meinen Respekt für Mutbürger Enno Bunger nur noch größer macht.

Enno Bunger - Ich sehe was, was Du nicht siehst

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Das andere große Thema dieses Albums ist nämlich eines, das viele Menschen im Laufe ihres Lebens betrifft: eine psychische Erkrankung, hier namentlich Depressionen. Mit „Ich sehe was, was du nicht siehst“ hat er das Thema auf wunderbare, sehr sensible Weise verpackt und in Musik gegossen, die Betroffenen Trost und eine Form von Verständnis schenkt, die sich von Mitmenschen vielleicht manchmal wünschen. Und gleichzeitig denen, die nicht betroffen sind, eine Möglichkeit zum besseren Verständnis bietet. Dazu gehörte „Heute nicht“, die musikalische Kampfansage gegen suizidale Gedanken und Gefühle. Als jemand, der im vergangenen Sommer ebenfalls drei Monate in einer psychosomatischen Tagesklinik verbracht hat und auch ansonsten aus Gründen regelmäßig zum Therapeuten rennt, konnte ich mich sehr in diese Songs hineinversetzen. Und vermutlich werde ich Enno ewig dankbar sein dafür, sich als ebenfalls Betroffener in dieser Form zu outen und jenen eine Stimme zu geben, denen die Kraft, sie entsprechend zu erheben, inzwischen verloren gegangen ist.

Enno Bunger - Kein Mensch startet einen Krieg / Жодна людина не почне війну (live + UA lyrics 🇺🇦)

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Dazwischen sind Songs wie „Kein Mensch startet einen Krieg“, eine leise, zarte Klavierballade, deren Wurzeln im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine liegen und die Ennos Weg waren, mit der Ratlosig- und Hilfslosigkeit fertig zu werden. Es gibt Lieder wie das von fast schon dystopischen Synthieflächen untermauerte „Bunker“, das allen Mut machen kann, die sich – aller Narben auf der Seele zum Trotz – vorsichtig in eine neue Beziehung begeben. Und dann sind da die drei Teile der „Häuserzeilen“, die mich an meine nächtlichen Musikspaziergänge erinnern. Mit Musik auf den Ohren durch die Straßen der Stadt laufen, Lichter, Geräusche und Gerüche auf sich wirken und die Gedanken ihre eigenen Wege finden lassen. Wobei bei dieser „Trilogie“ zu sagen ist, dass nur der erste Teil mit Gesang ist, die anderen beiden Stücke kurze Instrumentalnummern sind, die wie ein sehr langes Outro wirken. Ein wenig fühle ich mich an „Hamburg“ vom Album „Flüssiges Glück“ erinnert. Nur dass es hier keine Liebeserklärung an die Stadt an der Elbe ist, aber vielleicht ein bisschen an Ennos neue Heimat an der Spree. Und auch wenn die Themen, die Enno hier beackert, keine leichte Kost sind – immer wieder ist auch der Wortspieler zu hören, der Worte und Sätze so weit biegt, bis sie sich reimen oder fressen und dabei Fans von sprachlichen Spielereien ein Schmunzeln entlockt. Die Lage ist ernst, aber mit Humor lässt sich vieles besser verpacken. Kabarettisten bauen auf dieser Gewissheit ganze Existenzen auf.

„Ich mag es, gerade bei schwereren Themen auch ein wenig mit Humor oder Zynismus zu arbeiten, um sehr traurige Dinge so zu brechen, dass man kurz schmunzeln muss, bevor man merkt, wie bitter die Tragik dahinter eigentlich ist“, erzählt Enno über seine Herangehensweise beim Schreiben. „Mir ist es wichtig, dass man, wenn man schon derart herausfordernde Themen besingt wie Klimakrise, Depressionen, Suizidgedanken, Krieg oder auch die Frage, ob man heute noch Kinder in die Welt setzen kann und möchte, nicht einfach sagt, dass alles einseitig, monoton, schlecht und ausweglos ist. Dann bräuchte ich gar nicht darüber singen, dann könnte ich es gleich bleiben lassen. Mir geht es vielmehr darum, einen gedanklichen und emotionalen Raum zu öffnen, in dem man sagen kann: Hey, es gibt immer Hoffnung, es gibt immer eine Chance, etwas zu verbessern. Doch dazu muss man zunächst einmal die Missstände auch deutlich benennen, denn nur dann kann man auch lösungsorientiert an ein Problem herangehen.“

„Die Zeit drängt. Sie drängt bei allen Themen gleichermaßen, die ich auf der Platte verhandele. Mein Eindruck ist, dass manche Menschen die Tragweite ausblenden, aus der Angst heraus, darin eine Wahrheit zu erkennen, mit der man am liebsten gar nicht erst konfrontiert werden möchte.“

Und die Musik? Die ist, seinen Worten nach, „auf diesem Album wieder ein bisschen anders. Also so, wie auf jedem neuen Album von mir“. Ich würde „Der beste Verlierer“ irgendwo zwischen „Flüssiges Glück“ und „Was berührt, das bleibt“ verorten wollen. Will sagen: musikalisch oft leichtfüßiger Indie-Pop, bei dem mal mehr eine Gitarre oder mal mehr Synthieflächen im Vordergrund steht. Eingängig, definitiv konzerttauglich, aber nicht mehr so experimentell wie noch beim Vorgänger. So, als sollte die musikalische Verpackung nicht vom Inhalt, also der Botschaft, ablenken. Dass alles unterm Strich wieder noch ein bisschen austarierter, geschliffener und gediegener wirkt als noch zuvor, ist erfreulich, angesichts der konsequenten Weiterentwicklung über die Jahre aber nicht sonderlich überraschend.

„Der beste Verlierer“ ist an diesen grauen und dunklen Tagen und Stunden des Januars so ein wenig wie diese Handtaschenwärmer, die man erst knicken muss, ehe sie ihre Hitze abgeben. Wenn es wirklich scheiß kalt draußen ist, freut man sich, wenn man sich daran erwärmen kann. In einer immer kälter werdenden Welt kann man sich an diesem Album ebenfalls wärmen. Die fein arrangierten Pop-Songs, die gediegene Produktion, Ennos warmer Gesang – all das macht, dass Dinge etwas weniger schlimm sind. Und sei es nur für die Dauer des Albums. Man kann Kraft sammeln und Energie, sich das Krönchen richten und dann wieder etwas optimistischer in die Zukunft blicken – um dann, im besten Falle, irgendwie aktiv zu werden und mit noch so kleinen Beiträgen vielleicht das eingangs erwähnte Auto doch noch abzubremsen. „Die Zeit drängt. Sie drängt bei allen Themen gleichermaßen, die ich auf der Platte verhandele. Mein Eindruck ist, dass manche Menschen die Tragweite ausblenden, aus der Angst heraus, darin eine Wahrheit zu erkennen, mit der man am liebsten gar nicht erst konfrontiert werden möchte. Ich möchte versuchen, diese Themen ins Emotionale zu übersetzen, um die Hörer meiner Songs auf diese Weise hoffentlich besser zu erreichen und dazu zu bewegen, selber in Aktion zu kommen“. Und um das abschließend in einem Satz auf den Punkt zu bringen: Entgegen dem Titel ist dieses Album ein Gewinner.

Erscheinungsdatum
19. Januar 2024
Band / Künstler*in
Enno Bunger
Album
Der beste Verlierer
Label
Ennorm Records (PIAS)
Unsere Wertung
4.4
Fazit
„Der beste Verlierer“ ist an diesen grauen und dunklen Tagen und Stunden des Januars so ein wenig wie diese Handtaschenwärmer, die man erst knicken muss, ehe sie ihre Hitze abgeben. Wenn es wirklich scheiß kalt draußen ist, freut man sich, wenn man sich daran erwärmen kann. In einer immer kälter werdenden Welt kann man sich an diesem Album ebenfalls wärmen. Die fein arrangierten Pop-Songs, die gediegene Produktion, Ennos warmer Gesang – all das macht, dass Dinge etwas weniger schlimm sind.
Pro
Wie so oft: musikalisches Licht für dunkle Stunden
Musikalisch irgendwo zwischen der zarten Kammermusik wie zu TV Noir-Zeiten und großen Gesten einer Indie Rockband
Trotz aller Ernsthaftigkeit kommen auch Fans des Wortspielers Enno hier auf ihre Kosten
Kontra
"Häuserzeilen" 1 - 3 hätten auch gut ein einzelnes Lied sein können
4.4
Wertung
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