Brian Molko und Stefan Olsdal von Placebo. Das Foto ist ausschließlich rot und schwarz gehalten.

Musikvorstellung: Placebo – Never Let Me Go

Foto: Mads Perch

„Ich habe ein großes Problem mit Langeweile. Wenn wir den gleichen Prozess wiederholen würden, könnte ich mich schnell langweilen. Also beschloss ich, alles verkehrt herum zu machen, um den Entstehungsprozess des Albums für mich interessant zu halten – alles aus dem umgekehrten Blickwinkel anzugehen, um zu verhindern, dass ich mich langweile oder wiederhole. Ich dachte: ‚Was ist das letzte, was uns künstlerisch einfällt, wenn wir eine Platte machen? Das ist das Albumcover. Okay, lass uns mit dem Albumcover anfangen!‘“ – diese Anekdote gab Brian Molko angesichts des neuen, nunmehr achten Studioalbums von Placebo hinsichtlich des ungewöhnlichen Entstehungsprozesses zum Besten. Und ungewöhnlich ist nur eines der Adjektive, die Hörer*innen womöglich in den Kopf kommen, wenn sie sich dem ersten Langspieler seit mehr als neun Jahren hingeben. Andere Umschreibungen könnten sein: aufregend, abwechslungsreich, den Finger in gesellschaftliche Wunden bohrend, typisch Placebo und irgendwie auch ganz neu. Und vor allem eines ganz gewiss nicht: langweilig.

Ehrlich, Leute – ich verstehe Brian Molko sehr gut. Ich gehöre auch zu denen, die sich schnell langweilen. Vor allem dann, wenn sich beispielsweise Aufgaben zu einer monotonen Reihenfolge immer gleiche Abläufe entwickeln, kriege ich Fluchtreflexe. Ein Blick in meinen persönlichen Lebenslauf spricht da deutliche Bände. Neulich las ich ein Buch zu diesem Thema. Es ging um sogenannte hochsensible Multitalente. Ein möglicherweise zu hoch gestochener Begriff, fürwahr, aber in der Beschreibung des Buches heißt es:

„Du liebst es, Neues anzufangen, verlierst aber gleichzeitig schnell die Lust und langweilst dich, sobald Routine entsteht? Du hast auf der einen Seite 1000 Ideen, endlos viel Energie und möchtest so richtig loslegen? Auf der anderen Seite wird dir schnell alles zu viel und du möchtest nur alleine sein und deine Ruhe haben?“ (Für diejenigen unter Euch, die sich weiter mit dem Buch befassen wollen: Es heißt „Ich kann viel und das ist gut so!“, ist von Jacqueline Knopp geschrieben worden und beispielsweise bei Amazon.de erhältlich.)

Ein hochsensibles Multitalent?

Warum ich das an dieser Stelle erwähne? Nun, dieses Büchlein kam mir wieder in den Sinn, als ich den Pressetext zum neuen Album der britischen Rockstars Placebo, das auf „Never Let Me Go“ getauft wurde, durchlas. Brian Molko scheint mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eines dieser hochsensiblen Multitalente zu sein. Gleichermaßen gesegnet und gestraft mit einem tiefen Interesse an der Welt und den Menschen um sich herum, aber durchaus in der Lage, trotz eventuell aufkommender Langeweile durch Monotonie Dinge zu einem Ende zu bringen. Das neue Album ist einmal mehr eindrucksvolles Zeugnis dessen.

Die Grundsteine wurden noch während der 2016er-Tour zu „A Place For Us To Dream“ gelegt. „Ich fand, dass das alles ein bisschen zu kommerziell wurde, in dieser Zeit – der Zeit der Retrospektive“, wird Brian diesbezüglich zitiert. „Die ganze Sache war eher kommerziell als künstlerisch und wir haben uns dagegen gewehrt. Ich dachte mir: ‚Scheiß drauf, die nächste Platte wird vom Schmerz der Welt handeln!‘ Der stumme Schrei, der überall zu hören ist – das ist es, was mich interessiert. Nicht dieses masturbatorische, selbstbeweihräuchernde Zwei-Jahres-Ding von wegen ‚Sind wir nicht toll?‘“. Stefan Olsdal ergänzend dazu: „Es war eine zermürbende Fünf-Jahres-Tour, die vom letzten Album („Loud Like Love“, 2013) bis zur Greatest Hits-Tour ging. Es ging irgendwie immer weiter und es saugte buchstäblich das Leben aus mir heraus. Ich hatte nicht mehr viel Begeisterung für die Band übrig, ich glaube, ich war einfach ausgelaugt. Der Gedanke, dasselbe wieder zu tun, erfüllte mich mit Grauen.“

„Ich dachte mir: ‚Scheiß drauf, die nächste Platte wird vom Schmerz der Welt handeln!‘ Der stumme Schrei, der überall zu hören ist – das ist es, was mich interessiert.“ (Brian Molko)

Molko weiter: „In den Pausen zwischen den Tourneen trafen wir uns dort [Stefs Heimstudio in East London] regelmäßig und besprachen Dinge wie: ‚Jetzt sind nur noch du und ich im Studio – sollen wir eine Platte machen, die so klingt wie nichts, was wir bisher gemacht haben? Und das Schlagzeug komplett selbst programmieren?“

Wenn Placebo uns Hörenden die Toren zum neuen Album weit aufstoßen, werden sich manche vielleicht ob der knarzigen, beinahe schon fast schon grungigen Atmosphäre des Eröffnungsstücks womöglich an die frühen Tage der Band erinnert fühlen, an die Zeiten vom selbstbetitelten Debüt oder auch „Without You I’m Nothing“. Und wenn Brian dann förmlich Textzeilen ins Mikrofon rotzt wie „and with friends like you, who needs enemies?“ ist man direkt von Anfang an wieder drin im musikalischen Kosmos der Briten, aus dem sie ihre Hörerschaft über die Dauer von 13 Songs auch nicht mehr entlassen. Man möchte auch nicht daraus entlassen werden. Brian Molko und Stefan Olsdal gaben sich die größte Mühe, ein abwechslungsreiches Album zu schaffen, das in keiner Sekunde auch nur den Hauch von Langeweile aufkommen lässt. Einer wie Molko, der sich, wie wir ja nun wissen, schnell langweilt, muss ja schließlich auch wissen, wie das geht. Kann man vermuten, und damit zumindest in Bezug auf den aktuellen Langspieler Recht behalten.

Streicher-Arrangements und die Drum-Machine vom iPad

Ich erwähnte ja schon, dass „ungewöhnlich“ eines der Adjektive ist, die zur Umschreibung von „Never Let Me Go“ angebracht sind. Dazu eine weitere Anekdote. „Forever Chemicals“ war das erste Stück, das fertiggestellt wurde. Brian Molko weiß über die Entstehung folgendes zu berichten: „Ich hatte diese Drum-Machine auf meinem iPad und ich programmierte einen Beat ein, aber dann schaute ich weiter durch das Menü und entdeckte, dass man diese Drum-Machine auf eine ganze Reihe von Orchesterinstrumenten legen konnte. Also legte ich den Drumbeat auf eine Harfe, und dann verzerrte ich ihn und legte etwas Hall drauf – Bäm! Das ist also ein verzerrter Harfen-Loop, der als programmierter Drumbeat begann. Ich schätze, das war ein Wegweiser dafür, wie wir diese Platte machen wollten.“ Aber damit noch nicht genug.

Das gleichermaßen ergreifend schöne wie auch poppige „The Prodigal“ weiß mit neben zart gezupfter Gitarren auch mit Streicher-Arrangements zu gefallen. Logisch, dass auch dazu eine Erklärung vorhanden ist. Stefan Olsdal sagt: „Wir haben das Streicherarrangement von „Eleanor Rigby“ von den Beatles immer geliebt, in dem ein einfaches Quartett so kraftvoll und rhythmisch ist.“

Das vorab ausgekoppelte, dystopische und doch so dem aktuellen Zeitgeist verhaftete „Surrounded By Spies“ wartet mit Sprechgesang auf, „This Is What You Wanted“ hingegen hat einmal mehr dieses schwermütige Klavierspiel im Gepäck, das schon seinerzeit Songs wie „Song To Say Goodbye“ (vom 2006er Album „Meds“) zu unsterblichen Klassikern machte. Wer Placebo vor allem wegen der elektronischen Komponenten schätzen und lieben gelernt hat, kann sich freuen: über allem schweben mal mehr, mal weniger prägnante Synthies. Und das ist kein Zufall, nichts, das sich im Laufe des Entstehungsprozesses des Albums so ergeben hätte, sondern eine durchaus sehr bewusste Entscheidung:

„Die Platte ist sehr synthi“ (Brian Molko)

„Die Platte ist sehr synthi“, erklärt Molko stolz. „Gegen Ende des Jahres 2019 hatte ich mir selbst die Aufgabe gestellt, in jedem Song der Platte einen Synthesizer einzusetzen. Ich hatte Bock darauf, dann hatte Stef Bock darauf und schließlich hatte auch unser Produzent Adam Noble Bock darauf. Jetzt sind auf jedem Song vier oder fünf Synthies zu hören und es ist fast so, als ob die verzerrten Gitarren und die Vintage-Synthesizer gleichwichtig sind und es gibt dieses Drängen und Ziehen zwischen ihnen. Betrachtet man die Melodie, so unterstützen die Gitarren oft nur die Hauptmelodie, die vom Synthesizer gespielt wird.“

Musikalisch sind, um das mal abzukürzen, Placebo im Jahr 2022 auf einem für sie ganz neuen Level angekommen. Im Prinzip haben sie alles das, was die Band seit 1994 musikalisch auszeichnete, in einen Topf gegossen, ein paar neue Zutaten beigemengt und daraus eine Suppe geköchelt, die jenen, die Songs gerne beim Hören in die Bestandteile zerlegen und sich über die vielen Details freuen, ganz besonders schmecken dürfte. Aber auch alle anderen werden vermutlich rein musikalisch viel Spaß haben mit der Musik.

Inhaltlich ist das mitunter keine so leichte Kost. Das hochsensible Multitalent leidet scheinbar sehr unter dem Lauf der Dinge in unserer Welt. Momentan muss man vermutlich nicht mal besonders empfängliche Sensoren haben. Ein Blick in die Schlagzeilen reichen eigentlich schon, um einen an den Rand der Verzweiflung zu treiben, wenn man nicht inzwischen komplett abgestumpft ist. Da ist der Krieg in der Ukraine mit Potenzial zum dritten Weltkrieg und der schwebenden Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen, Nordkorea möchte auch mitspielen und testet neue Raketen, da ist immer noch die Corona-Pandemie mit immer neuen Rekorden hinsichtlich der Infektionen, die Sache in Afghanistan ist auch lange noch nicht vom Tisch und über allem schwebt die Klimakatastrophe. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, aber ich schätze, you got the point.

„Ich frage mich, wie sich unsere Wegwerfgesellschaft weiterentwickelt, bis schließlich wir die sind, die weggeworfen werden. Gibt es eine andere Spezies auf diesem Planeten, die es mehr verdient hat, auszusterben als der Mensch?“ (Brian Molko)

Wichtig für das Verständnis des Albums ist vielleicht noch zu wissen, dass Placebo das Album zum allergrößten Teil schon im Kasten hatten, als die – verzeiht die Wortwahl – Kacke hinsichtlich Corona zu dampfen anfing. Schon im März 2020 hatten sie dem Vernehmen nach bereits 85 % des Albums fertig. Heißt, im Prinzip war der Drops schon gelutscht, als die Pandemie erstmals so richtig ihre Krallen zeigte. Von dem neuerlichen Ukraine-Krieg waren wir noch weit entfernt, auch wenn man das vielleicht schon hätte absehen können.

Was aber auch schon vor zwei Jahren Themen waren: die ewige Selbstdarstellung in sozialen Medien, das Ende der Privatsphäre („Ich begann über die zahllosen Möglichkeiten nachzudenken, wie unsere Privatsphäre ausgehöhlt und gestohlen wurde seit der Einführung weltweiter Überwachungskameras, die jetzt rassistische Gesichtserkennungstechnologien einsetzen; den Aufstieg des Internets und des Mobiltelefons, der praktisch jeden Nutzer in einen Paparazzo und Zuschauer seines eigenen Lebens verwandelt hat, und wie wir fast alle persönliche Informationen an riesige multinationale Konzerne weitergeben, deren einzige Absicht darin besteht, uns auszubeuten“, so Brian Molko über „Surrounded By Spies“), die Kakophonie aus (Fake-)News, Meldungen und Meinungen („Ich wollte die Verwirrung darüber einfangen, wie es ist, in der heutigen Zeit zu leben, das Gefühl, verloren zu sein, immer in einem Labyrinth zu wandeln, ständig von Informationen und Meinungen überwältigt zu werden“) – und die Sache mit dem Klima natürlich („Ich frage mich, wie sich unsere Wegwerfgesellschaft weiterentwickelt, bis schließlich wir die sind, die weggeworfen werden. Gibt es eine andere Spezies auf diesem Planeten, die es mehr verdient hat, auszusterben als der Mensch? Wenn man sich anschaut, wie wir uns verhalten und was wir mit unserem Klima angestellt haben – sollte Mutter Natur uns nicht einfach auslöschen und unseren Planeten den Tieren zurückgeben?“, sagt er über „Try Better Next Time“ und weiter: „Ich sage zu meinem Sohn: Ich bin ein bisschen neidisch auf dich, weil deine Generation die Apokalypse vielleicht von der ersten Reihe aus beobachten können wird. Ihr könnt vielleicht zusehen, wie alles brennt. Es könnte das Letzte sein, was du je siehst, aber du wirst sicher im Glanz der Herrlichkeit untergehen!“).

„Ich bin durch die letzten Jahre psychisch genauso mitgenommen wie jeder, der ein Herz hat und sich sorgt. Ich schlafe dann maximal zwei oder drei Stunden pro Nacht.“ (Brian Molko)

All die Dinge gingen an Brian Molko schon damals nicht vorbei, heute noch viel weniger: „Ich bin durch die letzten Jahre psychisch genauso mitgenommen wie jeder, der ein Herz hat und sich sorgt“, sagt er und erklärt: „ich schlafe dann maximal zwei oder drei Stunden pro Nacht“. Diese überschaubare Menge Schlaf soll ihn eigener Aussage nach empfänglicher machen für die Dinge um ihn herum, kreativer auch. Die Hookline für „Beautiful James“ soll ihn wie ein Blitz in den frühen Morgenstunden getroffen haben, mit dem Ergebnis, dass er in seiner Londoner Wohnung direkt zum Klavier gelaufen sein soll, um diese Erkenntnis mit einem Smartphone als erste musikalische Skizze festzuhalten.

Für alle, die ebenso an und mit der Welt leiden wie Placebos Brian Molko ist „Never Let Me Go“ ein Glücksfall. Es übermittelt das tröstende Gefühl, mit seinen Gedanken und Ängsten nicht allein zu sein. Es verschafft für eine kleine Weile eine musikalische Flucht. Und für alle anderen ist es nur das beste Album, das Placebo jemals gemacht haben – wieder einmal.

Nach den vorab ausgekoppelten Singles war ich einerseits zuversichtlich, was das neue Album der Briten anbelangt, hatte aber auch eine erstaunlich hohe Erwartungshaltung. Das mag daran liegen, dass wir neun, beinahe zehn Jahre auf einen neuen Langspieler der Band warten mussten. Es freut mich wirklich außerordentlich, Euch an dieser Stelle berichten zu können: wie auch immer Eure Erwartungshaltungen an „Never Let Me Go“ aussehen – Placebo werden sie höchstwahrscheinlich erfüllen. Und sei es nur, weil wir seit neun, beinahe zehn Jahren kein neues Album der Briten mehr zu hören bekommen haben. Um noch einmal zum Anfang zurückzukehren: Es ist aufregend, es fühlt sich neu an, beinahe als würde man die Band zum ersten Mal entdecken, es macht trotz der ernsten Themen viel Spaß, es ist sehr abwechslungsreich und, zum Glück für uns und Brian Molko, definitiv nicht langweilig. Wenn ich jetzt Volltreffer buchstabieren müsste, würde ich sagen: „Never Let Me Go“.

Cover des Albums "Never Let Me Go" von Placebo.
Erscheinungsdatum
25. März 2022
Band / Künstler*in
Placebo
Album
Never Let Me Go
Label
SO Recordings
Unsere Wertung
4.3
Fazit
Für alle, die ebenso an und mit der Welt leiden wie Placebos Brian Molko ist „Never Let Me Go“ ein Glücksfall. Es übermittelt das tröstende Gefühl, mit seinen Gedanken und Ängsten nicht allein zu sein. Es verschafft für eine kleine Weile eine musikalische Flucht. Und für alle anderen ist es nur das beste Album, das Placebo jemals gemacht haben - wieder einmal.
Pro
Inhaltlich, textlich dem Zeitgeist verhaftet - und dadurch willkommener Begleiter für alle, die gerade auch sehr an der Welt leiden
Musikalisch Weltklasse, herausragend produziert
Abwechslungsreich, ungewöhnlich - und nicht eine Sekunde langweilig
Wie ein Destillat aus allem, was Placebo jemals gemacht haben - mit neuen Zutaten
Kontra
4.3
Wertung
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