Sie kann es auch mit gebrochenem Herzen: Taylor Swifts „The Tortured Poets Department“ ist ein Kunstwerk von besonderer Güte

Foto: Universal Music

Im Jahr 2004 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Joey Goebel ein Buch, das durch den Diogenes Verlag bei uns unter dem Namen „Vincent“ veröffentlicht wurde. Der Originaltitel des Buches, und damit macht es vermutlich gleich das erste Mal „Klick“ bei Euch, ist „Torture the Artist“. Namengebender Vincent ist ein hochbegabtes Kind, dessen Talent von einer zwielichtigen Organisation mit fragwürdigen Methoden gefördert wird, um den in der modernen Unterhaltung vorherrschenden Oberflächlich- und Belanglosigkeit etwas entgegenzusetzen. Vincent bekommt einen Manager an die Seite gestellt, der die These vertritt, dass große Kunst nur dann entsteht, wenn es den Kunstschaffenden nicht gut geht. Dass diese Menschen nur durch Isolation und Leid inspiriert bleiben; dass dadurch, dass sie ihr Innerstes nach außen kehren und ihren Seelenschmerz mit der Welt teilen, Kunstwerke von besonderer Güte entstehen. Vincents Manager, Harlan Eiffler, formuliert es in einem Brief an Vincent wie folgt: „Wir werden Dir geben, was du brauchst, aber versagen, was Du willst. Wir werden dafür sorgen, dass alles, was Du für Dein Glück brauchst, knapp außerhalb Deiner Reichweite bleibt. Solltest Du aus Versehen ein Glücksgefühl verspüren, dann halte es fest, mit aller Macht. Genieße es, so lange Du kannst, denn es bleibt garantiert nur ein kurzes Vergnügen.“

Klick.

Das war, wie gesagt, 2004. Zwei Jahre, bevor Taylor Swift ihr erstes Album veröffentlichte. Dieses Buch, auf das ich hier schon manches Mal verwiesen habe, kam mir wieder in den Sinn angesichts von Taylors neuem Album „The Tortured Poets Department“. Es ist offenkundig: Der Künstlerin ging es während der Erschaffung dieses Doppelalbums nicht gut. Auf eine so bisher noch nicht erlebte Weise kehrt sie ebenfalls ihr Inneres nach außen, durchlebt Wut, Verzweiflung, Resignation, Kampfgeist und auch neuen Mut und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. „The Tortured Poets Department“ ist, ganz im Sinne Vincents, ein Kunstwerk von wahrlich besonderer Güte.

Die ersten beiden Tage seit der Veröffentlichung des Albums sind vergangen, Hardcore-Swifties kennen die Texte aller 31 (!) neuen Songs vermutlich schon auswendig, während die Server der Streaming-Plattformen nach wie vor heißlaufen, um das in Worten nicht mehr zu beschreibende Interesse am neuen Album zu bedienen. Es ist mir unbegreiflich, wie Taylor Swift es schafft, in fünf Jahren fünf Alben aufzunehmen, dazu zwei ältere Alben neu einzuspielen und quasi wie nebenbei eine ausufernde Welttour zu spielen. Raffe ich nicht, bewundere ich aber sehr. Ich hätte gerne auch nur einen Bruchteil ihrer Energie und ihrer Kreativität, gebe ich zu. Wie dem auch sei, inzwischen hat das Rätselraten um die Brotkrumen, die Taylors Marketingmenschen überall verstreut haben, um Hinweise auf das Album und die erste, mit einem Video versehene Single („Fortnight“, entstanden mit Post Malone) zu geben, ein Ende.

Mittlerweile ist die Swiftie-Gemeinde damit beschäftigt, die wie üblich cleveren Texte zu analysieren, zu interpretieren und alle zusammen und doch jeder für sich eine Wahrheit zu finden. Was könnte Taylor mit diesem oder jenem Satz gemeint haben? Ist diese Zeile nicht eindeutig ein Hinweis auf Boyfriend XYZ? Und hier, ist das nicht ganz klar eine Abrechnung mit ihrem früheren Management? Andere wollen hingegen die Themen Ehe, Religion, Sucht, Sex, Tod, Depression und weibliche Wut gegenüber dem Patriarchat (etwa in der Musikindustrie) herausgehört haben. Und wieder andere sehen in dem Album eine Analogie auf die fünf Phasen des Sterbens, wie sie die schweizerische Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross dereinst formulierte: Nicht-wahrhaben-wollen, Zorn, Verhandeln, Depression und Leid und schlussendlich die Annahme. Nun muss man nicht direkt vom Lebensende ausgehen; wer schon einmal ganz schlimm unter einem von Liebeskummer verursachten gebrochenen Herzen gelitten  und sich langsam wieder zurück ins Leben gekämpft hat, wird die besagten fünf Phasen vielleicht auch darauf anwenden können. Zumal: das sogenannte Broken-Heart-Syndrom ist sehr selten, leider aber dennoch nicht weniger real.

Man könnte auch über die Figur der Kassandra aus der griechischen Mythologie nachdenken, die für „Cassandra“ Pate stand oder darüber, ob „The Albatross“ nicht eine Fortsetzung zu „no body, no crime“ vom Album „evermore“ ist und hier nicht für beide Songs ein Krimi von Charlotte Armstrong aus den 50er-Jahren die Inspiration geliefert hätte. So oder so – für Interessierte bieten sich zahllose Möglichkeiten zur Interpretation der Texte.

Was auch immer Taylor Swift hier auf den insgesamt 31 Songs aufarbeiten wollte – vermutlich sogar aus bitterer intrinsischer Motivation heraus musste – es bietet in all der ungezügelten Wut, in all der ins Mikrofon gelebten Verzweiflung, in all dem „gute Miene zum bösen Spiel“ so viel Identifikationspotenzial, dass nicht überrascht, warum die Musik der Künstlerin im Leben so vieler Menschen eine so große Rolle spielt. Als ich mich an dieser Stelle mit dem Album „Midnights“ beschäftigte, war einer der letzten Absätze meiner Review folgender: „Ob ich auch zu einem Swiftie werde, das ist noch nicht abschließend geklärt. Aber ich werde mit Interesse die alten Sachen nacharbeiten und mit noch mehr Interesse kommende Veröffentlichungen im Auge behalten. Und mich in jedem Fall an den wirklich großartigen Texten erfreuen. Schlussendlich glaube ich jetzt zu wissen, was es mit dem Phänomen Taylor Swift auf sich hat“. Nun, inzwischen zähle ich mich auch zu den Swifties und sage immer augenzwinkernd, der Weg vom Gruftie zum Swiftie war ein sehr kurzer. Und wer sich darauf einlässt, wird in der Musik eine Freundin finden, die einem die Hand auf die Schulter legt und sagt: Ich verstehe dich. Du bist mit deinen Gedanken und Gefühlen nicht alleine. Mir geht es auch so. Und anderen auch.

Und vermutlich ist das schon das ganze Geheimnis hinter dem unfassbaren Erfolg von Taylor Swift. Ihr Talent, aus ihrem Kummer und ihrem Schmerz Musik zu machen, die andere Menschen in schweren Zeiten tröstet und in guten Zeiten anhebt. Wieder kommt mir Vincent in den Sinn. Ob Taylor Swift Kenntnis von dem Buch hat, weiß ich natürlich nicht. Bei jemandem, dessen Schaffen aber immer wieder gespickt ist mit Anspielungen auf die Popkultur, kann man das aber vermuten. Alleine schon, weil mit Ethan Hawke und Josh Charles zwei Hauptdarsteller aus dem Film „Dead Poets Society“ („Der Club der toten Dichter“, zufälligerweise auch aus dem Jahr 1989) im Video zu „Fortnight“ mitwirken.

Klick.

„All my mornings are Monday stuck in an endless February / I took the miracle move on drug, the effects were temporary“, heißt es in „Fortnight“. Wer mit Depressionen zu kämpfen hat, wird sich hier möglicherweise direkt wiederfinden. Wie eine Frau, die inzwischen Milliardärin ist, von Erfolg zu Erfolg zu jettet und der es doch an nichts mangeln sollte, sich erlauben kann, solche Themen anzuschneiden, kommt manchmal als hämische Frage auf, speziell aus dem Lager der Swift-Antis. Da möchte ich erwidern: Robin Williams („Dead Poets Society”. Klick?), Anthony Bourdain, Chester Bennington und viele weitere – hatten die nicht auch alles? Geld, Kinder, Fans rund um die Welt, die Möglichkeit sich diese anzuschauen und so weiter? Oder, um Taylor selbst aus einem ihrer Songs zu zitieren: „’Cause I’m a real tough kid / I can handle my shit / They said, “Babe, you gotta fake it ’til you make it” and I did / Lights, camera, bitch, smile / Even when you wanna die“. Klick. Depressionen sind nicht bestechlich. Depressionen, ganz gleich, was sie hervorgerufen haben, ist wie Krebs ein Arschloch und wer nicht betroffen ist, möge bitte das Maul halten und sich jeglichen Kommentar oder, schlimmer noch, Beurteilung und Bewertung ersparen. Ich käme nicht auf die Idee, Taylor Swift an dieser Stelle depressive Phasen zu attestieren. Als Mensch, der das selbst auf dem Zettel stehen hat, in Behandlung ist und Zeit in einer Klinik verbrachte, maße ich mir aber an, sagen zu können: Die Musik von Taylor Swift hilft. Ihr selbst, weil sie sich ihren Kummer, ihren Ballast, quasi allen Scheiß, der ihr schwer auf die Seele drücken mag, loswerden kann. Es hat eine reinigende, heilende Wirkung, andere daran teilhaben zu lassen; ich selbst praktiziere das in den Texten dieses Blogs auch regelmäßig. Und es kann denen helfen, die ihre Musik hören. Die schlimmste Sache ist nämlich, mit seinen Gedanken und Gefühlen nicht verstanden zu werden, auf Ablehnung zu stoßen. Wenn Musik aber hilft, dass man sich eben doch nicht mehr ganz so klein und alleine fühlt – wer wollte da ernsthaft etwas dagegen sagen? Alleine schon deshalb ist „The Tortured Poets Department“ mehr als nur ein wahnsinnig gutes Pop-Album mit intelligenten Texten.

Taylor Swift - Fortnight (feat. Post Malone) (Official Music Video)

Beim Klick auf das Video wird eine Verbindung zu Youtube hergestellt und damit Daten an Youtube übertragen. Mehr Informationen in unserer Datenschutzerklärung.

Musikalisch scheint es Taylor Swift hier nicht darauf abgelegt zu haben, die nächsten Chartstürmer produzieren zu wollen. Ihre folkloristischen Wurzeln sind in den meist eher spärlich produzierten und instrumentierten Songs deutlich zu hören. Ruhig, das ist das Wort, das mir in den Sinn kommt, wollte ich „The Tortured Poets Department“ in nur einem Wort beschreiben. Wer sich beispielsweise auf „Midnights“ eher mit Songs wie „Snow On The Beach“ oder „Maroon“ anfreunden konnte, mit „marjorie“ von „evermore“ oder auch mit „exile“ von „folklore“, wird sich hier direkt wohlfühlen. Wer hingegen Taylor Swift für die Uptempo-Nummer abfeiert, also quasi für ihre klassischen Popsongs wie „Shake It Off“, „Cruel Summer“ oder „Bejeweled“ wird sich hier umgewöhnen müssen. Die erneut zusammen mit Jack Antonoff (Bleachers, vor allem aber neben seiner Tätigkeit für und mit Taylor Swift, Produzent von Lana Del Rey, St. Vincent oder Lorde) und Aaron Dessner (The National) produzierten Songs halten sich musikalisch weitgehend sehr vornehm im Hintergrund. Über allem schwebt Taylors Stimme und die Worte, die sie singt. Diese Worte, sie sollen wirken. Sie sollen über das Gehör das Herz der Hörenden erreichend. Da wäre eine überkandidelte Pop-Produktion nur kontraproduktiv. Ein bisschen zarte Electronica hier, ein wenig Getüdel eines Fender-Rhodes-Pianos da und vielleicht hier, eine Prise perkussiver Instrumente, … – aber nie so sehr, dass es sich in den Vordergrund drängen und die Aufmerksamkeit weglenken würde.

Ich verstehe, wenn einem der aktuelle Hype um Taylor Swift und das neue Album tierisch auf den Keks geht. Nicht nur, dass sie schon wieder von Rekordmeldung zu Rekordmeldung eilt, nö, auch Firmen aller Geschmacksrichtungen haben ihre Werbung (zumindest auf Social Media) der Sepia-Optik des Artworks angepasst. Spontan fällt mir FedEx ein, die den aktuellen Trubel für Werbebotschaften nutzten. Und auch diverse deutsche Firmen haben bei Threads & Co. mindestens einen Beitrag abgesetzt, der irgendwie irgendwas mit „The Tortured Poets Department“ zu tun hatte. Kann einem wirklich schwer auf den Saque gehen, keine Frage. Aber ganz gleich, wie man zum Tun von Taylor Swift steht, eine Sache ist wirklich bemerkenswert: Als am 19. April 2024, gegen 6 Uhr unserer Zeit, das Album für alle auf allen Plattformen freigeschaltet wurde, waren für die Dauer von 1 bis 2 Stunden unfassbar viele Menschen durch die Musik von Taylor Swift miteinander vereint. Diese These stütze ich auf aufmerksame Beobachtungen aller relevanten Social-Media-Plattformen. Eigentlich habe ich seit Release nicht viel mehr getan, als Reaktionen auf das Album zu konsumieren. Für die kleine Weile, die „The Tortured Poets Department“ lief, waren so viele Menschen nicht mehr als das: Swifties, ganz ungeachtet von Alter, Herkunft, gesellschaftlichem Status, geschlechtlicher und/oder sexueller Identifikation und Ausrichtung, religiösen Ansichten oder was auch immer uns Menschen sonst unnötigerweise trennt. Wir alle waren und sind Swifties, die Trost und Zuflucht in einer Musik gefunden haben, die Menschen rund um den Globus eine Heimat bietet, die es in der echten Welt vielleicht nicht (mehr) gibt. Und denen es, durch das Gefühl, von einer wenn auch fremden Person verstanden zu werden, wenigstens temporär besser geht. Die Welt wäre vielleicht eine andere, vielleicht eine bessere, hätten wir mehr Kunstschaffende im Format einer Taylor Swift.

Das erste Mal, dass ich „The Tortured Poets Department“ gehört habe, war am Morgen des 19. April 2024, zusammen mit dem Rest der Welt. Ein kalter, grauer, verregneter Tag in Magdeburg, die Stadt in der ich nun diese Zeilen schreibe, und ein ganz gefährlicher Männerschnupfen hatte mich umgehauen. Perfekte Rahmenbedingungen also, um ein Album wie dieses zu hören. Vieles war und ist bei mir privat seit einiger Zeit im Umbruch, vieles noch unklar oder unsicher, und der Zustand der Welt lässt mich meistens auch nicht unbedingt positiv in die Zukunft blicken. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ich künftig auf dieses Album zurückgreife, wenn es wieder irgendwo schmerzt und dieser Schmerz nicht in erster Linie körperlich bedingt ist. Oder weil ich Bock darauf habe, darüber zu sinnieren, was genau der Kern der Botschaft von diesem oder jenem Song sein könnte und wie gut der jeweilige Schuh mir passt. Ich bin dankbar für dieses Album, würde es Taylor Swift aber gönnen, dass sie damit die Harlan Eifflers in ihrem Leben bzw. ihrem Department, seien dies nun Exfreunde oder was auch immer, final vor die Tür gesetzt hat. Auch wenn das bedeutet, dass wir Taylor hier auf der Spitze ihres Schaffens erlebt haben. Ein Kunstwerk von besonderer Güte, fürwahr.

Erscheinungsdatum
19. April 2024
Band / Künstler*in
Taylor Swift
Album
The Tortured Poets Department
Label
Taylor Swift (Universal Music)
Unsere Wertung
4.9
Fazit
Wenn Musik aber hilft, dass man sich eben doch nicht mehr ganz so klein und alleine fühlt – wer wollte da ernsthaft etwas dagegen sagen? Alleine schon deshalb ist „The Tortured Poets Department“ mehr als nur ein wahnsinnig gutes Pop-Album mit intelligenten Texten.
Pro
Zunächst mal: Wahnsinniger Umfang von 31 neuen Songs - und das nur 2 Jahre nach dem letzten Album "Midnights"
Wütender, intimer, authentischer hat man Taylor Swifts Musik noch nicht zu hören bekommen
Wie üblich: clevere Texte, die sich auf mannigfaltige Weise deuten lassen
Eher auf das Wesentliche reduzierte Musik, die vor allem der Stimme und den Worten, die sie singt, Raum zur Entfaltung bietet
Kontra
Wer Gute-Launte-Pop im Stil von "Shake It Off" & Co. erwartet, wird möglicherweise enttäuscht
4.9
Wertung
Vorheriger Artikel

Jetzt zur Vorbestellung bei EXO-6 verfügbar: Captain Liam Shaw (Todd Stashwick) aus „Star Trek: Picard“ Staffel 3

Nächster Artikel

Hot Toys feiert die dunkle Seite der Macht und kündigt Lord Starkiller und Darth Revan im Maßstab 1:6 an

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lies als nächstes