Bild einer Brücke bei Nacht. In Leuchtschrift ist darauf zu lesen: It was freedom that brought apathy. It was apathy that brought slavery. Zu Deutsch: Es war die Freiheit, die zur Apathie führte. Es war die Apathie, die zur Sklaverei führte.

Die Rückkehr ins Dreamweb und kein Entkommen: Das musikalische Science-Fiction-/Cyberpunk-Feuerwerk der Extraklasse „Black & White“ von mind.in.a.box vorgestellt

Foto: mind.in.a.box

Machen wir uns nichts vor: an der Welt zu verzweifeln ist heute leichter, als dies nicht zu tun. Einmal am Tag Spiegel Online aufrufen reicht eigentlich schon, um die Stimmung in Richtung Keller zu ziehen. Die Schlagzeilen sind voll von Umweltkatastrophen, hervorgerufen durch die Klimakrise, vom Ukrainekrieg und von unzähligen weiteren Dingen, eine Meldung schrecklicher als die andere. Immerhin, und dafür kann man wohl nicht dankbar genug sein, leben wir in diesem Land in einem Teil der Welt, wo den meisten von uns die Flucht aus der Wirklichkeit immer noch möglich ist. Wie sich die gestaltet, das ist wohl sehr individuell. Manche bremsen ihre Gedanken mit Alkohol. Andere mit irgendwelchen anderen Rauschmitteln. Wieder andere flüchten sich in virtuelle Welten, verlieren sich in Büchern oder powern sich bis an den Rand der Besinnungslosigkeit beim Sport aus. Eine weitere Möglichkeit zur Realitätsflucht bietet, nun schon seit gut 20 Jahren, das österreichische Musikprojekt mind.in.a.box. Seit je her verknüpfen sie eine immer komplexer werdende Science-Fiction-/Cyberpunk-Story mit elektronischer Musik düsterer Machart, die, analog zur Handlung, ebenfalls immer komplexer wird. Und immer einzigartiger.

Ich hielt und halte das Werk, das Stefan Poiss mit wechselnden Mitstreiter*innen hier geschaffen hat, seit jeher für eine Ausnahmeerscheinung. Mindestens in der Szene, in der mind.in.a.box verortet wird, aber eigentlich auch weit darüber hinaus. Um ehrlich zu sein: ich kenne nichts, das so ist wie mind.in.a.box. Sicherlich gibt es zahlreiche Konzeptalben, die einem Thema untergeordnet sind. Aber eine ganze Karriere darauf aufzubauen, eine Sci-Fi-Story zu erfinden und sie auf ganz eigentümliche Weise musikalisch umzusetzen? Das ist schon ein Unikat, denke ich. Rund sechs Jahre hat es gedauert, bis mit „Black & White“ der Nachfolger zum fulminanten Album „Broken Legacies“ in den Startlöchern steht. Länger mussten Fans noch nie auf einen neuerlichen Ausflug ins Dreamweb warten. Bevor das Album am 31. August 2023 (hoffentlich) seinen Siegeszug in und durch die Playlisten dieser Welt antritt, würde ich heute schon einmal gerne der Frage nachgehen wollen, ob sich die Warterei gelohnt hat. Ich denke, es ist kein allzu großer Spoiler, wenn ich an dieser Stelle schon einmal verrate: oh, aber ja doch. Es hat sich gelohnt. Und wie!

Foto eines Mannes, der nur schemenhaft zu erkennen ist und eine Pistole in der linken Hand hält.
Foto: mind.in.a.box

Broken Legacies“ war zwar das bis dato letzte Album aus dem Hause mind.in.a.box, dennoch schilderte es aus chronologischer Sicht die Vorgeschichte des Dreamwebs und warum sich Black letztlich dafür entschied, gegen die Agency zu rebellieren. So gesehen knüpft das neue Album „Black & White“ an das 2015er-Album „Memories“ an, das seinerzeit mit einer Patt-Situation endete. Da die allermeisten von Euch „Black & White“ zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels noch rund zwei Wochen warten müssen, um wieder im Dreamweb verschwinden zu können, möchte ich über die Handlung des Albums nichts weiter sagen, um etwaige Spoiler zu vermeiden. Daher zitiere ich an dieser Stelle lediglich die offizielle Synopsis, wie sie mind.in.a.box selbst zur Verfügung stellen:

„Mr. Black, ein ehemaliger Agent der „Agency“ und Mitglied der Rebellen, hat den Auftrag, die Pläne der Maschine zu eliminieren, die Mr. White gebaut hat, um ins Dreamweb zu gelangen.

Schwer bewaffnet macht sich Mr. Black auf den Weg, um seinen alten Freund im Entwicklungslabor zu besuchen, wo es zum finalen Showdown kommt.“

Illustration einer Hand, die eine Pistole hält.
Foto: mind.in.a.box

Das lasse ich mal so stehen. Die Handlung des Albums stammt aus der Feder von Joshua Kreger, der neben Gastgesängen vor allem auch die Texte der Songs beisteuerte. Das hat zur Folge, dass die Handlung der Geschichte, wie sie in überraschender Ausführlichkeit im Booklet des Albums erzählt wird, sich auch in bisher nicht gekannter Weise in den Texten der Songs wiederfindet. Ich würde behaupten wollen, dass die Verschmelzung des Konzepts der Band, der Sci-Fi-Story, der Musik und den Texten hier auf ein ganz neues Level gehoben wurde. Mehr Einheit aus all den einzelnen Bestandteilen war bisher nie. Daher ist „Black & White“ eine Art Musik gewordener Film, der vor dem eigenen Auge abläuft. Kein Netflix—Abo dafür nötig. Nur die Möglichkeit, sich dem ganzen für die Dauer von 74 Minuten hinzugeben.

„It’s So Good To See You Again“, so heißt der erste Track des Albums und schon nach den ersten Sekunden breitet sich bei mir ein wohliges Gefühl der Vertrautheit aus. Stefans verzerrte Vocals, die faszinierenden, synthetischen Klanglandschaften – alles vertraute Bestandteile, die gleichzeitig auch so neu wirken. Es ist ein bisschen, wie einen alten Freund nach Jahren wiederzusehen. Man hat sich verändert, natürlich, aber das Fundament, die Basis, die jene Freundschaft dereinst untermauerte, sie ist immer noch da. Es tut gut, dich wiederzuhören, geht mir dabei spontan durch den Kopf und kurz denke ich darüber nach, dass das ein ganz schön raffinierter Schachzug war.

Vertraute Zutaten und so viel Neues zu entdecken

Vieles auf „Black & White“ wirkt musikalisch vertraut. Wer schon mal eine Reise ins Dreamweb unternommen hat, braucht also nicht zu fürchten, dass sich mind.in.box musikalisch neu erfunden hätten. Viel mehr ist es so, dass sie die vertrauten Komponenten gegen noch hochwertigere ausgetauscht hätten. Denkt dabei beispielsweise an ein Gericht, das Ihr kochen wollt und bei dem Ihr die Wahl habt, die Zutaten beim Discounter zu kaufen oder ganz frisch vom Markt zu holen. Und dabei vielleicht auf Dinge zu stoßen, die auch passen, die Ihr aber vielleicht noch gar nicht auf dem Schirm hattet. Und die Ihr dann folgerichtig auch mitnehmt. So verhält es sich auch bei „Black & White“.

Die Musik besteht natürlich immer noch oft aus verzerrten Vocals, die Hörende staunen lässt, wie sehr sich Stimmen verzerren lassen, aus elektronischer Synthie-Mucke mit oft flotten Beats und einer dunklen Grundstimmung. Dazu gesellen sich aber auch neue Elemente, wie beispielsweise im Stück „Sometimes Never“, das sich gegen Ende so aufgepeitscht hat und mit etwas aufwartet, das wie kreischende Gitarrensoli aus dem Metal-Bereich wirkt. Ob da wirklich jemand die Klampfe malträtiert hat oder das, wie vieles andere auch, nicht echt ist, vermag ich nicht zu sagen. Das Booklet schweigt sich dazu auch aus. Vielleicht würde es auch die Magie zerstören, wenn ich es wüsste. Bei Filmen schaue ich auch nie Making-Of-Material. Ich will einfach nicht wissen, wie Tricktechniker arbeiten. Anderes Beispiel: Die Drums in „Vertigo“ sind so wuchtig, so druckvoll, dass ich schon wieder glaube, dass sie live eingespielt wurden. Kann sein, kann auch nicht sein, spielt für das Erleben aber eine untergeordnete Rolle. Der langgezogene, dröhnende Ton am Ende des Songs lenkt die Gedanken ohnehin schnell wieder in andere Richtungen. Und dann ist da ja auch noch von melancholischem Klavierspiel durchzogene Ballade „One and the Same“, wo analoge und digitale Welten definitiv miteinander verschmelzen und eins werden.

Ein futuristisch anmutendes Treppenhaus bei Nacht, von Neonlicht beschienen.
Foto: mind.in.a.box

Songs wie „Drowning in the Fire“ oder „New Wave Propaganda“ sind aufgrund ihrer Struktur und ihrer flotten Beats durchaus dazu geeignet, in Clubs eine gute Figur zu machen. Das finale „Activate“, was mich denken lässt, die KI habe endgültig ein Bewusstsein erlangt, erinnert sogar in bisschen ein die 8-Bit-Abenteuer der Band gleichen namens. Es stellt sich freilich wie Frage, ob die Musik von mind.in.a.box nicht zu schade wäre, sie in Clubs zu spielen. Ich denke beinahe, die Story verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr in einem Club zuteilwerden würde. Dennoch: wer zu „Black & White“ nicht einen Film vor dem eigenen inneren Auge ablaufen lassen, sondern stattdessen dazu das Tanzbein schwingen möchte, kann das tun. Möglichkeiten dafür bietet „Black & White“ zur Genüge. Ich würde an dieser Stelle noch einen Hinweis mit auf den Weg geben wollen: Wer sich auf die Reise ins Dreamweb macht, sollte sich darauf gefasst machen, nicht allzu bald wieder daraus herauszukommen. So war es immer, so ist es dieses Mal und so wird es wohl auch immer bleiben.

„Black & White“ ist auf so vielen Ebenen Gesamtkunstwerk, auf so vielen Ebenen mehr als gelungen, auf so vielen Eben überragend, dass es im besten Sinne manchmal ein bisschen überfordernd ist. Es gibt so viel zu erfassen, zu entdecken, zu verstehen, so interpretieren, Gedanken zu formulieren und dann wieder zu verwerfen, dass es eine Weile braucht, um dieses Album in seiner Gänze greifen zu können. Ob es die Sci-Fi-Cyberpunk-Story ist, die nie zuvor so sehr auch in die Lyrics Einzug gehalten hat, ob es die vielen, vielen Klangspielereien sind – alles an „Black & White“ ist next level. Im Vergleich zum eigenen Werk, natürlich, aber auch im Vergleich zur Konkurrenz, die um die Aufmerksamkeit von Hörenden buhlt. Und wie ich diese Zeilen tippe, wird mir gerade eines klar: mind.in.a.box haben eigentlich keine Konkurrenz mehr. Schon lange ist mind.in.a.box im Prinzip ein Synonym für eine ganz eigene Gattung dunkelelektronischer Musik, die buchstäblich was zu erzählen hat. „Black & White“ ist eines DER Alben dieses Jahres, definitiv eines der besten von mind.in.box und nicht weniger als ein Meisterwerk! Und während ich mich gerade über meinen Job hier freue und einmal mehr dankbar bin, dass mir Musik die Flucht aus der Wirklichkeit ermöglicht, frage ich mich im Geheimen, wie Stefan Poiss und seine Helferlein das eigentlich jemals noch toppen wollen. Aber ich glaube, diese Frage stelle ich mir bei mind.in.a.box jedes Mal. Daher beende ich diesen Beitrag mit einem Zitat aus „Digital Miasma“: „Feel youthful and free! Lowered-stress guarantee! Leave your depression behind! Unlock the potential of your mind! Custom treatments from the laboratory! Don’t forget that medication is mandatory! Order now!

Cover des Albums Black & White von mind.in.a.box.
Erscheinungsdatum
31. August 2023
Band / Künstler*in
mind.in.a.box
Album
Black & White
Unsere Wertung
4.9
Fazit
„Black & White“ ist auf so vielen Ebenen Gesamtkunstwerk, auf so vielen Ebenen mehr als gelungen, auf so vielen Eben überragend, dass es im besten Sinne manchmal ein bisschen überfordernd ist. Es gibt so viel zu erfassen, zu entdecken, zu verstehen, so interpretieren, Gedanken zu formulieren und dann wieder zu verwerfen, dass es eine Weile braucht, um dieses Album in seiner Gänze greifen zu können. Ob es die Sci-Fi-Cyberpunk-Story ist, die nie zuvor so sehr auch in die Lyrics Einzug gehalten hat, ob es die vielen, vielen Klangspielereien sind - alles an „Black & White“ ist next level.
Pro
Gelungene Fortsetzung der Story rund um Black, White, die Agency und das Dreamweb
Mehr als hier war die Story bisher noch nicht in die Texte mit eingebunden
Musikalisch wirkt der Sound viel druckvoller als noch zuvor und ist (scheinbar) von vielen echten Klangerzeugern durchzogen
16 Titel bei 74 Minuten Spielzeit - es ist dies wieder eine richtig dicke Packung mind.in.a.box.-Mucke!
Kontra
4.9
Wertung
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Kommentare 2
  1. Eine mehr als gelungene Rezension, die seines Gleichen sucht. Man spürt deutlich die Tiefe und Liebe für die Kunst. Ein empathisch-lyrisches Meisterwerk, was Stefan Poiss sicher zu schätzen weiß. Dankeschön.

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