Jan DeWulf von Mildreda. Ser sitzt scheinbar neben einem alten, von Spinnenweben behangenen Kellerfenster. Er hat den Kopf gesenkt.

Musikvorstellung: Mildreda – I Was Never Really There

Foto: Gwenyn Cooman

In der Spirituosenabteilung Eures lokalen Lebensmittelnahversorgers wird Euch sicher schon mal aufgefallen sein, dass es beispielsweise bei Rum verschiedene Güte-Klassen gibt, die sich anhand des angegebenen Alters vom Etikett ablesen lassen. So gibt es zum Beispiel von einer bestimmten Sorte einen Dreijährigen. Der gehört allerdings auch zur Kategorie Fusel und geht entsprechend für rund 15 Euro übers Kassenband. Siebenjähriger hingegen ist für gewöhnlich nicht unter 20 Euro zu haben. Und wenn man den fünfzehnjährigen Rum des gleichen Herstellers haben möchte, darf man gleich richtig tief in die Tasche langen und geschmeidige 150 Euro dafür löhnen. Diese Sorte findet man allerdings auch eher selten beim Rewe um die Ecke (und wenn, dann nur in den ganz großen Märkten und gut verschlossen in einer Vitrine), sondern für gewöhnlich beim Spezialitätenvertrieb für ausgemachte Connaisseur*innen. Ich finde, das ist eine ganz hübsche Analogie zu „I Was Never Really There“, dem erstmals auch in größerem Stil physisch erhältlichen Album des belgischen Electro-Industrial-Projekts Mildreda.

Zwar ist Mildreda in der Vergangenheit unter anderem auch schon als Remixer in Erscheinung getreten (siehe beispielsweise „Companion“ des Frank M. Spinath-Projekts Lionhearts), dennoch ist dieses Album aber irgendwie doch als Debüt zu betrachten. Und sei es, weil es das erste Album ist, das via Dependent Records veröffentlicht wird. Spontan kommt mir wieder der Gedanke eines Spezialitätenhändlers für ausgemachte Genießer*innen von Feinkost-Electro in den Sinn.

Foto: Gwenny Cooman

Hinter Mildreda steckt Jan Dewulf, in der Düsterszene längst kein Unbekannter mehr. Man kennt ihn natürlich von Diskonnekted, als John Wolf brachte er das „Post Goth“ Projekt Your Life On Hold an den Start. Mildreda aber war schon immer da. Im Prinzip ist Mildreda das Projekt, das Dewulfs komplettes Leben als Musiker begleitet. Im zarten Alter von 15 Jahren, so besagt es die Legende, gründete er Mildreda, um seine Vision von Musik künstlerisch umzusetzen. Mittels Tellerwäscherei beim Pizzadienst finanzierte er sich erstes Equipment. Es folgten Veröffentlichungen auf Kassette, damals in den 90ern. Es heißt, diese Kassetten seien seinerzeit wie blöde kopiert und in Electro-Kreisen herumgereicht worden. Dann war eine lange Zeit nix, jedenfalls nicht unter dem Mildreda-Banner. Ab 2006 dann aber immer wieder und immer öfter Remixe für andere Projekte, so zum Beispiel für Diskonnekted (nicht so überraschend eigentlich), aber auch für Dive oder Der Klinke. 2016 kam „Coward Philosophy“ via Alfa Matrix als Download auf den Markt, angereichert um die Songs der Tapes aus den 90ern. Da Mildreda aber inzwischen zum Dependent-Kader gehört, wurde „Coward Philosophy“ auf der Label-eigenen Bandcamp-Seite verfügbar gemacht. Dort könnt Ihr das Album für schmales Geld in verschiedenen digitalen Formaten erwerben. Allerdings ohne die Tape-Songs, zumindest derzeit.

Klanglandschaften wie bei Skinny Puppy oder Front Line Assembly

Aber genug von dem Blick in die Vergangenheit, widmen wir uns stattdessen lieber dem aktuellen Werk „I Was Never Really There“. Ich will es mal so sagen: wenn man sich auch nur im Entferntesten dafür begeistern kann, was mit „kanadischer Industrial“ umschrieben wird – also Klanglandschaften, wie sie von Skinny Puppy oder Front Line Assembly skizziert werden -, wer eine Schwäche für Düsterelektro alter Schule hat und gleichzeitig aber modernen Einflüssen offen gegenübersteht, kommt an diesem Album schlicht und ergreifend nicht vorbei. Punkt, Ausrufezeichen, fett, kursiv und unterstrichen.

Beinahe einer akustischen Naturgewalt gleich kommt das Album aus den Boxen geschossen und föhnt mir ob der satten, druckvollen und dabei wunderbar differenzierten Produktion einen neuen Scheitel in die Frisur. Es knarzt und knackst an allen Enden, Samples sind keine Mangelware, über allen Dingen schweben Synthieflächen wie Blitze, die den ansonsten sehr dunklen musikalischen Nachthimmel immer wieder aufreißen und aufhellen – hach, es ist einfach Wonne und Genuss gleichermaßen, in diesem Album abzutauchen und sich an den vielen Details zu erfreuen! Dass Leæther Strips Claus Larsen für das Mastering verantwortlich war, dürfte an diesem überaus positiven Eindruck sicher einen gewichtigen Anteil haben.

Musikalisch von 0 auf 250 in 35 Sekunden

Man kann natürlich die Annahme in den Raum stellen, dass sich Jan Dewulf erst vor gar nicht so langer Zeit mit der Produktion des Albums beschäftigt hat. Die Idee, dass „I Was Never Really There“ aber über einen ähnlich langen Zeitraum gereift und gediehen ist, wie eingangs erwähnter hochpreisiger Rum, gefällt mir allerdings deutlich besser. Entspricht auch mehr der offenkundigen Mühe, die in jeden einzelnen Song dieses Albums geflossen ist. Dass sich ein Album über einen längeren Zeitraum komplett, am Stück und in der Reihenfolge wie von den Schaffenden vorgesehen, hören lässt, ohne dass man irgendeinen Song skippen müsste oder sich nur noch vereinzelte Tracks in irgendwelchen Playlists wiederfinden, das passiert nicht mehr allzu häufig. Hier aber haben wir diesen Fall, dass sich das Album hervorragend in einem Rutsch durchhören lässt. Schon mit dem sehr schmissigen Eröffnungsstück „Backfire“, das einen ausgezeichneten Ausblick auf die kommenden 50 Minuten liefert, wird ein enorm hohes Spannungslevel aufgebaut, das über die gesamte Spieldauer gehalten wird. Von 0 auf 250 in knapp 35 Sekunden. Und dann permanent volle Pulle!

Foto: Gwenny Cooman

Ein paar Highlights: Natürlich das schon erwähnte „Backfire“, das genau all die zuvor erwähnten Zutaten zu einer höchst spannenden Mischung vereint. Besonderes Schmankerl sind die druckvollen Drums, von denen ich vermute, dass sie im Gegensatz zu den meisten anderen Klängen dieses Albums einen analogen, einen echten Ursprung haben. Hier wird einem direkt zum Start ein solches Industrial-Brett vor den Latz geballert, dass zunächst die Öhrchen klingeln, sich aber unmittelbar danach große Freude über die Reminiszenzen zu den schon erwähnten Acts wie Skinny Puppy einstellt. Und das, ohne eine schlichte Kopie ohne eigene Ideen zu sein. Das lässt mich ein bisschen an Fïx8:Sëd8 denken, dem hessischen Düsterelektro-Projekt, das ebenfalls bei Dependent zu Hause ist und sich ebenfalls mitunter an den kanadischen Heroen orientiert, ohne sich abzukupfern. Mildreda passt da also ganz hervorragend ins Portfolio.

Man kann wohl nicht von belgischem Industrial erzählen, ohne auch den Namen Dive bzw. Dirk Ivens ins Spiel zu bringen. Ivens gilt zu Recht als jemand, der dem belgischen musikalischen Untergrund (s)einen Stempel aufgedrückt hat. Da ist es nur konsequent und folgerichtig, dass er als Gast beim Stück „Echoes“ fungiert. Von den ohnehin nicht sonderlich fröhlichen Songs dieses Albums dürfte „Echoes“ zu den apokalyptischsten zählen. Was für ein düsteres, unbequemes Monster, das sich da aus den Boxen schält! Es glänzt vor abgründiger Virtuosität und macht sehr deutlich, dass sich hier zwei Meister ihres Fachs gefunden haben, die sich hervorragend ergänzen. Randnotiz: Ivens soll es übrigens auch gewesen sein, der auf einer Party Dewulf davon überzeugte, Mildreda wiederzubeleben. Ein Glück für uns, dass sich die beiden Männer dereinst über den Weg gelaufen sind!

Mildreda - Liaisons Dangereuses [Official Music Video]

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Nicht weniger unbequem und eindrucksvoll ist „Liaisons dangereuses“, das kürzlich als Single nebst Video ausgekoppelt wurde und die Vorfreude auf das Album noch einmal anheizen soll. Die rohe, kraftvolle Energie, die viele der restlichen Songs auszeichnen, weicht hier einer bedrohlichen Stimmung. Wäre dieses Lied der Abstieg in einen düsteren Keller (denn so fühlt es sich an), in dem fahles, flackerndes Licht keine Chance hat, die Schatten zu vertreiben – nun, ich würde auf dem Absatz kehrt machen, die Kellertüre hinter mir verrammeln und hoffen, dass nicht doch noch irgendwas da unten lauert und auf eine nächste Gelegenheit wartet. Puh. Gute-Nacht-Musik ist jedenfalls etwas anderes. Obwohl in gemäßigtem Tempo dargereicht, so ist es doch ein Pulsbeschleuniger.

Mit klinischer Präzension geschaffene Töne, eindringliche Texte

Neben den mit schon beinahe mit klinischer Präzision konstruierten Tönen sind es auch die Texte, die Eindruck schinden und die, nicht ganz untypisch in dieser Szene, vielfältige Interpretationsmöglichkeiten bieten. Trotz der Effekte auf der Stimme lässt sich gut erhören, was Jan Dewulf mitteilen möchte. Spoiler: Die frohe Kunde ist es jedenfalls nicht.

Abschließend bleibt mir nichts anderes übrig, als festzuhalten: Im Gebiet elektronisch-industrieller Musik ist Mildredas „I Was Never Really There“ der definitiv biggest bang des Jahres und schon jetzt ein Klassiker, der gekommen ist, um zu bleiben.

2021 war zumindest in musikalischer Hinsicht bisher wirklich ergiebig. Viele sensationelle Alben sind bereits veröffentlicht worden, so mancher Höhepunkt zeichnet sich auch noch am Horizont ab. Allerdings sind selbst bei den Top-Titeln diverse darunter, bei denen ich mir gelegentlich die Frage nach der Halbwertszeit stelle. Manches ist doch sehr dem aktuellen Zeitgeist verhaftet und es wird sich zeigen, wie sehr die Euphorie über dieses oder jenes über den Jahreswechsel hinaus erhalten bleiben wird. Mildredas „I Was Never Really There“ ist da anders. Ohnehin durch seine Orientierung an dem „Vancouver Sound“ erfrischend anachronistisch, hat Jan Dewulf hier ein Meisterwerk geschaffen, das alle Zutaten mitbringt, als zeitloser Klassiker in die Geschichte elektronischer Düstermusik einzugehen. Innere wie äußere Werte (sprich: Musik, Artwork usw.) überzeugen auf ganzer Linie. Ich gratuliere – und möchte zum Schluss noch anmerken, dass ich gerne bereit bin, auf das nächste Mildreda-Album wieder einige Jahre zu warten. Wie sich hier einmal mehr zeigt: gute Dinge benötigen einfach Zeit zur Reife.

Cover des Albums I Was Never Really There von Mildreda.
Erscheinungsdatum
20. August 2021
Band / Künstler*in
Mildreda
Album
I Was Never Really There
Label
Dependent Records
Unsere Wertung
4.6
Fazit
Im Gebiet elektronisch-industrieller Musik ist Mildredas „I Was Never Really There“ der definitiv biggest bang des Jahres und schon jetzt ein Klassiker, der gekommen ist, um zu bleiben.
Pro
Für Genre-Freund:innen ist "I Was Never Really There" höchst wahrscheinlich eine Sensation
Großartige, sehr druckvolle und gleichzeitig differenzierte Produktion
Orientierung am "Vancouver Sound" à la Skinny Puppy und dabei so viel mehr als nur eine Kopie
Jeder Ton, jedes klangliche Element wurde mit beinahe klinischer Präzision im Album festgehalten
Auch hinsichtlich Umfang und Spieldauer der einzelnen Tracks gibt es nichts zu beanstanden
Wie üblich bei Dependent-Veröffentlichungen auch einmal mehr ein sehr schickes Artwork
Kontra
4.6
Wertung
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