Silberfischchen

Foto: Christiane / Avalost

24. Juni, 27 Grad, Luftfeuchtigkeit 70 Prozent, leichte Wolkenschleier, windstill

Er wachte gegen 3 Uhr früh auf. Die Klimaanlage lief nicht mehr. Sie musste sich von selbst abgeschaltet haben. Philipp hielt es für Zeitverschwendung, dem Versagen der Technik nachzugehen. In den letzten Wochen hatte er gelernt, bestimmte Dinge einfach hinzunehmen. Er war in Spanien. Jetzt kroch die Hitze durch die Belüftungsritzen neben den Fenstern, sie schien sogar aus dem Mauerwerk zu kommen. Langsam wälzte sie sich über den Boden, stieg von der Decke herunter. Philipps Haut war mit einem feuchten Film überzogen. Es war nicht nur Schweiß, es war die Feuchtigkeit Barcelonetas. Das streng geometrisch angelegte Stadtviertel, im 18. Jahrhundert für die Fischer der spanischen Metropole erbaut, lag auf einer Landzunge zwischen Strand und Hafen, war also auf zwei Seiten von Wasser umgeben. In Philipps Wohnung war es so feucht, dass sogar das angeblich rostfreie Besteck in der Küchenschublade oxidierte. Und doch war er froh, hier eine Wohnung gefunden zu haben. Nur fünfzig Meter vom Haus entfernt konnte er bis tief in die Nacht in einer der Chiringitos am Strand einen Milchkaffee trinken. Einhundert Schritte zur anderen Seite und schon hatte er einen traumhaften Blick über den Jachthafen bis hoch zum Tibidabo, der sich am anderen Ende von Barcelona erhob. In der Millionenmetropole gab es kaum frei vermietete Wohnungen. Und wenn doch, lagen die Preise weit über Münchner Niveau. Aber Philipp hatte es geschafft. 30 mit IKEA möblierte Quadratmeter für 480 Euro. Kalt. Als er vor 3 Wochen seine Wohnung bezog, fühlte er sich großartig. Ja, er war cool, er kam überall zurecht, ein Kosmopolit. Mit seinen 37 Jahren sah er immer noch aus wie Ende 20, dunkelhaarig, sportlich, durchtrainiert, hip, die Welt stand ihm offen. Schon nach sieben Tagen hatte er wieder Zugang zur Außenwelt mit Telefon und Internetanschluss.

Trotz der Schlange im Telefonica-Laden, trotz eines spanischen Kontos, das er zunächst eröffnen musste, trotz der Schlange in der Citibank, trotz des erneuten Anstehens im Telefonica-Laden und trotz der Tatsache, dass sie ihn kaum verstanden. Er machte die Erfahrung, dass spanische Schlangen nicht mit deutschen Schlangen gleichzusetzen sind. Sie bewegten sich ungleich langsamer, ein spanischer Schalterangestellter war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. In der Schlange lernte er das erste Mal, dass seine nordeuropäische Unrast ihn nicht weiterbrachte. Warten störte hier niemanden, stattdessen zündete sich der Spanier eine Zigarette an und führte ein
Handy-Gespräch. Irgendwie hatte es Philipp dann doch geschafft. Als Erstes aktualisierte er seine Website, schrieb: derzeit erreichbar in Barcelona, Carrer del Mar 127 und seine spanische Telefonnummer. Damit ihn seine Freunde und Kollegen von der Werbeagentur anrufen konnten.

Vor einer Woche hatte in Barcelona der Sommer begonnen. Und seitdem wälzte sich Philipp Nacht für Nacht schlaflos in seinem Bett herum. Jede Nacht testete er eine neue Methode, um Schlaf zu finden. Fenster tagsüber geschlossen, vorm Einschlafen Klimaanlage, nachts Fenster wieder auf, nur geöffnete Fenster, nur Klimaanlage, Klimaanlage Schlafeinstellung, tagsüber Klimaanlage … doch bisher hatte sich seine Lage nicht gebessert. Lediglich an seiner Stromrechnung würde er die Konsequenzen spüren. Inzwischen hatte er sogar den Verdacht, dass die Klimaanlage gar nicht funktionierte. Sie blies zwar Luft in den Raum, aber diese war alles andere als kalt. Selbst nach drei Stunden Dauerbetrieb hatte sich die Raumtemperatur höchstens um 1 Grad herunterbewegt. Und im Moment ging sie
also gar nicht mehr. Philipp stand auf, öffnete eines der Fenster und steckte seinen Kopf hinaus.
Auf der Carrer del Mar war alles ruhig. Nicht der kleinste Lufthauch regte sich. Vor dem Hinterausgang des „Rey de la Gamba“ saß einer der philippinischen Köche auf einer Gemüsekiste und zog an einer Zigarette. Erschöpft vom allabendlichen Ansturm. Die letzten Gäste waren wahrscheinlich erst vor Kurzem gegangen. Philipp warf gleich noch einen prüfenden Blick auf sein Auto. Der alte Alfa Spider, auf
den er so stolz war – ein echtes Kultauto – stand auf der anderen
Straßenseite. Parkplätze waren hier ebenso rar wie Mietwohnungen. Also bewegte Philipp sein Auto nur noch weg, wenn es nicht anders ging. Zwei Wochen stand es jetzt schon an derselben Stelle. Es war mit einer Schicht aus Taubenkot, Staub und einer Salzkruste von der Meeresluft überzogen. Seit gestern zierten seine
Motorhaube mehrere orangefarbenen Panzer von in Knoblauch gerösteten Krustentieren, die der König der Gambas auf dem Weg zur Mülltonne verloren hatte. Drei graue, räudige Katzen, die sich von den Resten der Restaurants ernährten, schlichen um den
Spider und fauchten sich an. Vor ihm war ein Parkplatz frei. Und während Philipp noch überlegte, ob er sein Auto ein Stück aus der Reichweite des rostigen VW-Transporters bringen sollte, der sehr nah hinter ihm stand, bog ein BMW in die Straße. Er fuhr in Zeitlupentempo, auf der Suche nach einer Parkmöglichkeit. Wenn etwas eindeutig war, dann, dass der Platz vor Philipps Auto höchstens
für einen Seat Ibiza reichen würde. Doch den BMW-Fahrer schien das nicht abzuschrecken. Philipp hörte ein schleifendes Geräusch, ein metallisches Kratzen, sein alter Alfa Spider vibrierte heftig und wurde trotz angezogener Handbremse an den VW-Transporter gepresst. Dann stand der BMW tatsächlich in der engen Lücke. Zwischen die Stoßstangen hätte nicht mal mehr ein Stück Papier gepasst. Philipp,
der den Atem angehalten hatte, stieß laut die Luft aus, griff seine
Schlüssel und rannte, noch im Schlafanzug, aus der Wohnung. Doch als er unten ankam, war vom BMW-Fahrer nichts mehr zu sehen. Die Stoßstange seines Alpha-Spiders sah von der Seite etwas mitgenommen aus. Ratlos stand Philipp auf
der Straße. Der Koch vom „Rey de la Gamba“ warf ihm einen verwunderten Blick zu und verschwand in der Restaurantküche. Polizei? Sinnlos, ein zerschrammtes Auto interessierte hier niemanden. Selbstjustiz? Ein fetter Kratzer mit dem Schlüssel im BMW? Wahrscheinlich würde es der Besitzer nicht mal registrieren. Er zuckte resigniert die Schultern und ging zurück ins Haus. Auf dem Weg in die Wohnung zertrat er wütend ein paar
Silberfischchen, die auf den Stufen herumkrochen. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen sie aus ihren Verstecken, aus den Abflüssen und den Mauerritzen hervor. Die feuchte Wärme schien den Sexualtrieb der Vierfüßler zu stärken. Seit seinem Einzug hatten sie sich enorm vermehrt. Noch etwas, dass er lernen musste, hinzunehmen.

Foto: Christiane / Avalost

25. Juni, Höchsttemperaturen: 30 Grad, windstill, wolkenlos, 75 Prozent Luftfeuchtigkeit

Gegen 10 Uhr erwachte Philipp. Schweißnass. Das dünne Betttuch hatte er schon lange von sich geworfen. Durch die weit geöffneten Fenster kam die stickige Luft Barcelonetas ins Zimmer. Seine Augen waren verklebt und brannten. Außerdem hatte er Halsschmerzen. Er schob es auf die Klimaanlagen. Überall waren sie, in der U-Bahn, in den Bussen, in jedem Laden, jedem Restaurant. Man konnte ihnen nicht entkommen. Und überall liefen sie auf Hochtouren. Maßhalten, dachte Philipp verärgert, scheint dem Barceloneser fremd.

In seiner rechten Ellenbeuge juckte es. Er kratzte und entdeckte dort einen roten Fleck. Es sah ein bisschen wie ein Insektenstich aus. Dann schloss er noch einmal die Augen und überlegte er, was er mit dem neuen Tag machen könnte. Er lag vor ihm, mit all seinen ungezählten Möglichkeiten. Ob er sich vielleicht Gaudís Sagrada Família ansehen sollte? Aber dann dachte er an die Schlange vorm Kassenhäuschen. Sollten sich die Touristen ruhig anstellen. Er hatte noch 5 Monate Zeit. In den ersten 14 Tagen war er mit Reiseführer durch Barcelona gelaufen, hatte Kilometer um Kilometer zu Fuß oder mit den U-Bahnen zurückgelegt, um die Stadt in sich aufzunehmen, zu erspüren, zu erreichen. Er hatte den Park Güell gesehen, die Plaça d’Espanya, die Ramblas mit ihren Vogelhändlern, lebenden Statuen und den
Taschendieben, die Nobelmeile um den Passeig de Gràcia, die Kathedrale.

Er war im Meeresmuseum gewesen und mit der Seilbahn auf den Montjuïc gefahren. Es war wie ein Zwang, er hatte das Gefühl, alle Sehenswürdigkeiten gesehen haben zu müssen, ehe er sich der Stadt im Alltag nähern konnte. Wie dieser Alltag dann aussehen würde? Ohne geregelte Arbeit, ohne Verpflichtungen – er hatte noch keine Idee.
Irgendwas würde sich schon ergeben, da war sich Philipp sicher.
Außerdem – bis es so weit war, gab es noch viel zu sehen in Barcelona.
Von draußen kam jetzt ein kleines Glucksen. Philipp wusste, auch ohne die Augen zu öffnen, dass das rothaarige Baby von gegenüber heute früh wieder einen Ausflug in die Welt der Carrer del Mar machte. Er setzte sich schlaftrunken auf und beobachtete, wie sich das Baby an den Gitterstäben des winzigen Balkons festhielt und herübersah. Es hatte
lediglich eine Windel umgebunden, die roten Haare standen in einem einzigen
Wirbel zu Berge. Es sah aus, wie ein kleines Äffchen, dachte Philipp amüsiert, der für kleine Kinder sonst wenig übrig hatte. Sie gehörten nicht in seine Lebenswelt. Aber dieses Kind faszinierte ihn, er fühlte sich ihm auf seltsame Art verbunden. Mit seiner hellen Haut und den roten Haaren – es wirkte so fremd und verloren. Dann tauchten zwei behaarte Beine in einer knielangen Hose auf. Zwei tätowierte Arme griffen nach dem Baby und trugen es zurück in die gegenüberliegende Wohnung. Philipp überlegte, ob er vielleicht beim nächsten Mal Kontakt knüpfen sollte, doch sein Spanisch war nicht ausreichend, um längere Gespräche zu führen. Später vielleicht.

Schließlich stand Philipp doch auf, inzwischen war es 11 Uhr. Das Fortschreiten der Zeit hatte ihn schon einiger Möglichkeiten enthoben, was das Leben wesentlich einfacher machte, wie er fand. Er zog sich an und ging in Richtung Markt. Dort befand sich sein Lieblingsfrühstückskaffee. Hier gab es für 1,45 Euro einen Cafe con leche und ein Schokocroissant.

Als er gegen 12 Uhr dort ankam, waren die Schokocroissants bereits alle. Eine mürrische Kellnerin stellte ihm dafür ein Toastbrot mit Marmelade in Aussicht. Das senkte Philipp Laune merklich. Außerdem traf er zeitgleich mit einer dieser spanischen Rentnerinnen ein, sodass der Kampf um einen Tisch unentschieden ausging. Am Ende saßen sie sich beide gegenüber und fühlten sich verpflichtet, einander zu unterhalten. Das Einstiegsthema war das Gleiche wie in Deutschland: das Wetter. Während die Deutschen mit großer Ausdauer ihr schlechtes Wetter beklagten, stöhnten die Spanier über die Hitze. „Hace mucho caior, si?“. Die Frau sprach mit der tiefen, heiseren Stimme älterer Spanierinnen. Philipp, den die laute Art der Spanier manchmal etwas nervte, vermutete, dass sie sich bereits in ihrer Jugend stimmlich total verausgabten. Eine halbe Stunde später – der Kaffee war getrunken, der Toast gegessen – versiegte der Gesprächsstoff allmählich. Mit der Information, dass es in
den kommenden vier Wochen noch viel wärmer werden würde, als es ohnehin schon war, kehrte er in seine Wohnung zurück. Es war 13 Uhr und die Sonne
brachte die geteerte Pappe auf dem
Dach des Hauses zum Glühen. Im schmalen Hauseingang empfing ihn der modrige Geruch, der Barcelonetas Häusern eigen ist. Philipp versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass es sich dabei um Schwamm handeln könnte. Der Hypochonder in ihm sah sich schon mit einer chronischen Bronchitis wieder heimkehren. In diesem Moment ging die Tür der Wohnung in der ersten Etage auf. Julia steckt ihren Kopf heraus. „Hola. Que tal?“ Die Rentnerin war offenbar darauf aus, ihn in ein
Gespräch zu verwickeln. „Danke gut. Aber sehr heiß!“, erwiderte Philipp auf Spanisch und sehnte sich in diesem Moment sehr nach seinen eigenen vier Wänden. In diesem Moment hatten die neugierigen Augen von Julia einen weißen Fleck an Philipps Schulter entdeckt. Sie wies darauf, dann auf den weißen, böckligen Putz an der Wand. „Senor“ – sagte sie dann,
den Zeigefinger mahnend erhoben „Attencione al pared por favor!“ Der Treppenaufgang war so schmal, dass Philipp, wollte er nicht seitwärts die Treppe hochsteigen, unweigerlich mit seiner Schulter an die Wand kam. Aber er sagte „Si, si.“ Und schob sich dann an der Rentnerin vorbei. Selbst der kleine Gang hatte ihn erschöpft. Also legte er sich – in seiner Wohnung angekommen – wieder auf sein
Bett. Er hatte zwar früh geduscht, aber sein T-Shirt klebte bereits wieder am Körper.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch noch mehr Hitze und Feuchtigkeit vertragen sollte.

Nach zwei Stunden leichten Dämmerschlafs erwachte Philipp noch zerschlagener als vorher und beschloss nun doch, sich mit seiner Klimaanlage zu beschäftigen. Zunächst studierte er noch einmal die Gebrauchsanweisung, testete mithilfe der Fernbedienung alle Einstellungsmöglichkeiten: Schnellkühlung, Entfeuchten, Schlafeinstellung, maximale Kühlung mit 18 Grad. Doch das, was die Anlage herausblies, waren laut Thermometer immer noch mehr als 26 Grad. Das Einzige, das tatsächlich funktionierte, war die Heizung. Schließlich schraubte er den Deckel ab und nahm den Luftfilter heraus. Dieser sollte laut Gebrauchsanweisung alle zwei Wochen gereinigt
werden. Er sah in der Tat etwas verdreckt aus. Philipp spülte ihn ab, setzte ihn wieder ein und schaltete erneut alle Funktionen durch. 26 Grad. Immerhin zwei Grad weniger als draußen. Dann nahm er schließlich den Luftfilter ganz heraus. Das Ergebnis: 26 Grad. Hier musste ein Fachmann ran. In der Gebrauchsanweisung stand eine Servicenummer von einer Firma in Tarragona. Philipp zögerte jedoch. Wenn er dort
anriefe, würde ein Klempner kommen, ein wenig an der Anlage klopfen und schrauben, erklären, es sei alles in Ordnung, eine Rechnung über 200 Euro schreiben, zuzüglich Anfahrtskosten – Tarragona war nicht gerade um die Ecke – und die Klimaanlage würde danach weiterhin 26 Grad warme Luft in die 26 Grad warme Wohnung blasen. Sollte sich darum doch die Immobilienverwaltung kümmern. Er würde sich dort beschweren.
Aber nicht mehr heute.

5. Juli, Außentemperatur: 32 Grad, leichte Brise, wolkenlos, 70 Prozent Luftfeuchtigkeit

Er schreckte auf, als das Telefon klingelte. Es klingelte nicht oft in diesen Tagen. Am Anfang hatten seine Freunde aus Deutschland angerufen. Er hatte ihnen von seinem Leben in Barcelona vorgeschwärmt, als Insider, als einer von hier. Wie cool die Szenekneipen waren. Wie schön das Nichtstun. Doch inzwischen schienen sie ihn vergessen zu haben. „Ja, Buchstädter“, rief er in den Hörer. Kurzes Schweigen, dann kam von Rauschen unterbrochen etwas, was sich
Spanisch anhörte, das er aber mit seinen dürftigen Grundkenntnissen nicht
verstand, es hätte sogar Katalan sein können. Gerade hier im Viertel sprachen viele ältere Leute Katalan. „De parte de quien“ – „Mit wem spreche ich?“, fragte er, während er überlegte, um wen es sich handeln könnte. In Spanien meldeten sich die Leute nie mit ihrem Namen
am Telefon. Sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass der andere schon wissen würde, wer ihn da anriefe. Doch statt eines Namens sagte der Mann jetzt etwas von einem Anruf auf seiner Nummer. Dann fiel es Philipp wieder ein. Er hatte vor einer Woche die Servicenummer für die Klimaanlage gewählt. Allerdings hatte niemand abgenommen und damit war die Sache für ihn erledigt. Es konnte also durchaus sein, dass die Firma jetzt alle Anrufe abarbeitete. „Està el servicio de aircondicionado?“, fragte Philipp und kratzte nervös an seiner
Ellenbeuge, bis es blutete. Die roten Flecken hatten sich weiter
ausgebreitet. Am Handgelenk war ebenfalls eine juckende, rote Stelle. „Si“, kam es vom anderen Ende. „Mi aircondicionado no funciona. Necessita una reparacion“ Aus der Antwort folgerte Philipp, dass sein Gegenüber momentan keine Zeit hätte – mucho trabajo -, Jesus hieße und sich dann wieder bei ihm melden würde. Philipp legte auf. Jesus – ein passender Name für einen, der einem das Leben an diesem heißen Ort retten konnte, dachte Philipp. Er rechnete allerdings nicht damit, dass sich Jesus jemals wieder melden würde. Alle Welt wollte im Sommer
eine Klimaanlage haben, dagegen brächte so eine Reparatur kaum Geld. Also würde dieser Jesus erst die neuen Aufträge abarbeiten. Wie es aussah, würde Philipp den Sommer ohne Klimaanlage überstehen müssen. Gesünder war es in jedem Fall. Er hatte ohnehin keine Lust, sich mit seinen Vermietern wegen der Bezahlung auseinanderzusetzen.

12. Juli, Höchsttemperaturen: 34 Grad, Luftfeuchtigkeit 80 Prozent, windstill, leichter Wolkenschleier

Nach sieben weiteren fast schlaflosen Nächten beschloss Philipp, sich einen Ventilator zu besorgen. In Barcelonas größtem Kaufhaus würde er sicher einen bekommen. Also fuhr er mit der Metro bis zur Placa Catalunya. Gegenüber der Haltestelle lag das Kaufhaus. Früher wäre er sicherlich zu Fuß gelaufen. Es waren höchstens 30 Minuten von Barceloneta bis zur Plaça de Catalunya, entlang der Moll de la Barceloneta, durch die kleinen Altstadtgassen des Barri Gòtic. Aber die Hitze machte es unmöglich, lange zu Fuß zu gehen, die Altstadt war voller Touristen, die aus unerfindlichen Gründen einfach irgendwo stehen blieben
und so die schmalen Gassen verstopften. Ja, er hatte einen regelrechten Hass entwickelt auf all die Schlenderer. In jeder Ecke stank es anders, in allen aber nach Urin und Schwefelwasserstoff aus den Abwasserkanälen. Die Touristen wateten durch Dreck und Gestank, stiegen über Penner, die sich vor den Massen unter dunklen Torbögen verkrochen hatten und blickten verwundert einem Mann nach,
der mit einer Damenhandtasche durch die Calle Princesa eilte. Sie starrten die wegen Baufälligkeit mit grüner Gaze verhüllten Häuser an, fütterten die Tauben, die die Stadt unter ihrem Kot erstickten und bezeichneten alles als pittoresk. Es schien sie alles nicht zu stören. Ebenso wenig die Einheimischen. Philipp hatte manchmal den Eindruck, dass er der Einzige war, den hier überhaupt noch etwas aufregte.

Foto: Christiane / Avalost

Im Corte Inglés gab es natürlich keine Ventilatoren. Dafür machte Philipp einen Streifzug durch die Spezialitätenabteilung und fand dort tatsächlich Meerrettich, Bierschinken und deutsches Sonnenblumenkornbrot. Milch, Schinken und einen Kürbis nahm er auch gleich noch mit und sechs von diesen herrlichen Minitörtchen, Pasteles, wie die Spanier sagten, mit Waldbeeren, Schokolade und Nüssen. Jedes war wie eine kleine Praline. Allerdings waren sie auch so teuer wie Pralinen. Er würde gleich, wenn er zu Hause ankam, einen Milchkaffee kochen, „Die Welt“ lesen und die kleinen Törtchen essen.
So bepackt, wollte Philipp den Bus zu nehmen. Er fuhr direkt an der Plaça de Catalunya ab bis ans Ende der Moll de la Barceloneta, in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Philipp wartete über 20 Minuten. Offenbar war wieder mal ein Bus ausgefallen. Er hatte sich daran gewöhnt.

Schließlich tauchte aber doch eine 17 auf. Philipp nahm die Beutel auf. Im selben Moment registrierte er, dass die anderen Leute in der Haltestelle auf andere Linien warteten. Also sprang er vor und versuchte die rechte Hand trotz Törtchentüte zu heben, um den Bus zu stoppen, wie es in Barcelona üblich war. Doch, zu spät. Der Bus raste an ihm vorbei. Philipp spürte einen Luftzug, der ihn fast von den Beinen riss. Die Tüte platzte auf. Während Philipp der 17 mit ungläubigem Staunen nachsah, entleerte sich der Inhalt seines Beutels. Meerrettich, Sonnenblumenkornbrot und die teuren Törtchen fielen auf den Bordstein, das mit den Waldbeeren rollte von dort weiter auf die Straße. Er konnte gerade noch zurückspringen, als der nächste Bus, eine 46, auf der Beerenmischung zum Stehen kam. Die restlichen Törtchen fielen dann den hektisch einsteigenden spanischen Hausfrauen zum Opfer, die Philipp energisch beiseitegeschoben hatten, um den Bus zu besteigen.

Foto: Christiane / Avalost

Als er abgefahren war, stieß Philipp wütend das zertretene
Sonnenblumenkornbrot vom Bordstein fünf Meter weit auf die Straße. Ein Taxifahrer hupte. Er beschloss zu Fuß nach Hause zu gehen. In einer Querstraße der Calle Princessa kaufte er beim Pakistani eine Flasche Wasser und trank sie in einem Zug aus. Mit der leeren Flasche in der Hand sah er sich nach einem Papierkorb um, es war keiner zu sehen. Er befand sich in einer der dreckigsten Gassen des Barri Gòtic. Er fühlte sich müde, ausgelaugt, deprimiert. Und dann tat er es: Er ließ die Plastikflasche fallen. Einfach so auf den Boden, auf dem schon ein Haufen Müll herumlag. In einer Mischung aus Trotz und Resignation. Warum sollte er eine Mülltonne suchen, wenn es hier keiner tat, wenn es keinen interessierte, dass hier jeder seinen Dreck fallen ließ, wo er stand und ging. Irgendwer hatte ihm mal
erklärt, dass er ja sogar etwas Gutes damit tat. Schließlich lebten in Barcelona über tausend Menschen von der Stadtreinigung. Jede Nacht wurden alle Gassen der Stadt gesäubert. Sie kamen mit diesen kleinen Autos, mit Bürsten, mit Handfeger und großen Gummitaschen, in die sie alles, was die Fahrzeuge übersehen hatte, hinein sammelten. Und zweimal pro Woche wurde jede einzelne noch so dunkle Gasse mit Wasser abgespritzt. Danach konzentrierte sich der Uringestank nicht mehr auf einzelne Stellen, sondern er lag über der gesamten Straße, wenn die Sonne die Feuchtigkeit aufsaugte. Sogar der Strand wurde jede Nacht gereinigt.
Gegen fünf Uhr früh rückten Kolonnen von kleinen Fahrzeugen an, die mit Spezialsieben ausgerüstet waren. Das Wasser in Strandnähe wurde von kleinen Schiffen mit großen Fangnetzen vom groben Müll gereinigt. Sie fuhren täglich vor der Küste auf und nieder. Was nichts daran änderte, dass zwischen den Köpfen der Badenden Binden, aufgeweichte Brotlaibe und Plastikflaschen dümpelten. Philipp hatte bisher darauf
verzichtet, mehr als seine Füße in das Mittelmeer vor Barcelona zu tauchen.

In dem Moment, als er seine Plastikflasche fallen ließ, bogen zwei Angehörige der Guàrdia Urbana um die Ecke. Eine Sondereinheit der Polizei, die während der Saison den Touristen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln sollte. Der eine, ein großer,
dicker Katalane mit schwarzem Schnurbart streckte seinen Arm aus, zeigte auf die Flasche und schüttelte den Kopf. Philipp merkte, wie die Wut in ihm hochstieg, doch nach einem Blick auf den gut sichtbaren Patronengürtel, zwei Pistolen, den Schlagstock und die Handschellen, die um die Hüfte des Mannes verteilt waren, hob er die Plastikflasche ohne Diskussion wieder auf und eilte hinunter zum Hafen, ging ohne einen Blick für die Luxusjachten an der Moll de la Barceloneta entlang, querte den Paseo de Juan Borbó, um dann schließlich in die schattigen Gassen Barcelonetas einzubiegen. Zu Hause angekommen, legte er sich wieder hin. Sein Puls raste. Die Zimmertemperatur hatte inzwischen 27 Grad erreicht. Er merkte, dass er inzwischen die Haut an seinem Handgelenk aufgekratzt hatte. Er würde morgen einen Hautarzt aufsuchen und zum Vermietungsbüro gehen und versuchen, die Sache mit
der Klimaanlage zu regeln.


13Juli, nachts: 27 Grad, Luftfeuchtigkeit 75 Prozent

Früh gegen 4 Uhr schreckte Philipp hoch. Das Geräusch von splitterndem Glas hatte sich in seinen Traum gemischt. Er schlug die Augen auf, sein Herz raste. Dann hörte er es wieder, es kam von schräg gegenüber und war unzweifelhaft von dieser Welt. Philipp, der seinen Alfa Spider dort vor dem leer stehenden Haus abgestellt hatte, sprang aus dem Bett und schlich zum Fenster. Da sah er sie auch schon: neben seinem Auto standen zwei schwarz gekleidete Gestalten mit langen Zöpfen, die
zu einem eingeschlagenen Fenster in der Hochparterre blickten. Dort reichte gerade eine dritte Person eine Werkzeugkiste herunter, die wahrscheinlich von Bauarbeitern dort vergessen worden war. Jetzt stellte sie einer der Typen auf die Motorhaube von Philipps Auto. Auf seinem Dach glitzerte etwas. Glasscherben. Philipp erwog kurz die Möglichkeit, sein Auto vor weiterer Zerstörung zu bewahren und entschied dann, dass es das Beste war, sich einfach wieder hinzulegen.

13. Juli, 34 Grad, wolkenlos, Luftfeuchtigkeit 80 Prozent

Am Morgen untersuchte er sein Auto. Die Motorhaube hatte jetzt fünf Kratzer. Das Dach sah noch schlimmer aus: Die Glassplitter des herausgeschlagenen Fensters hatten die Lackschicht durchbohrt. Er würde es auf jeden Fall neu lackieren lassen müssen. Er überlegte, ob er den Spider vielleicht lieber umparken sollte. Aber wohin? Die Tiefgarage war zu teuer, 150 Euro im Monat hatte er einfach nicht übrig. Nein, dann war es besser, das Auto dazulassen, wo es stand. Es ließ sich ohnehin nicht mehr ändern. Jetzt wollte er erst mal sein Klimaanlagenproblem lösen. Er ging Richtung Mercat de la Barceloneta. Er umging die gelblich schillernden Lachen an den Häuserecken, sprang über Hundekot, Essensreste und Papierfetzen. In der kleinen Fußgängerpassage unmittelbar vorm Eingang zum Markt hatte das Immobilienbüro seinen Sitz. Pedro Hernandez, das stand zumindest auf einem Namensschildchen, sah ihn etwas verständnislos an, als er von seinem Problem erzählte. „Dann rufen Sie doch beim Service an. Die Nummer steht in den Papieren!“ empfahl Senor Hernandez auf Spanisch. Das Deutsche lag ihm ebenso wenig wie das Englische. Philipp versuchte zu erklären, dass er bereits beim Service angerufen hätte. Dann sei doch alles klar, meinte der Kundenbetreuer und schlug ostentativ einen Ordner auf. „Pero…. pero…“ Philipp
suchte verzweifelt nach Worten. Er rang mit den Zeiten, haderte mit den richtigen Endungen – Preterio, Perfecto, Imperfecto, Indefinitivo, eine falsche Wahl der
Vergangenheitsform bedeutete, nicht verstanden zu werden. Philipp verzichtete darauf, von seinem Telefonat mit Jesus zu berichten und versuchte es mit der Zukunft „Und wer wird die Rechnung bezahlen?“, Philipp hatte sich selten so hilflos gefühlt. In Deutschland wäre die Klärung ein Kinderspiel gewesen. Doch hier wurde eine lächerliche Reparatur zum unüberwindbaren Hindernis. Daraufhin begann der Kundenbetreuer eine Weile zu grübeln, telefoniert kurz mit seinem Chef, um schließlich lächelnd zu verkünden: „El dueno!“ Wer war der Dueno? Mieter, Vermieter, Verwalter? Philipp sagte „si, si.“ Pedro, der sein
Zögern bemerkt hatte, erklärte ihm Freude strahlend, dass er froh sein könne, die Wohnung bekommen zu haben und sie für den Preis ganz fantastisch sei. Philipp beschloss, die Sache mit der Klimaanlage auf sich beruhen zu lassen.

31. Juli, 34 Grad, Luftfeuchtigkeit 85 Prozent

Am Nachmittag, als die Temperatur im Zimmer die 30-Grad-Marke nahm, beschloss Philipp am Strand Abkühlung zu suchen. Er zog seine Badehose an, griff sich Handtuch und Sonnenschirm und verließ das Haus. Für den kurzen Weg zum Strand brauchte er nicht mehr anzuziehen.

Foto: Christiane / Avalost

Zwischen zwei rot gerösteten Engländerinnen und einem spanischen Pärchen, das offenbar kurz vorm Höhepunkt war, fand er noch ein kleines Stück unbesetzten Strand. Er legte eine leere Bierbüchse und drei Kippen zur Seite, pflanzte seinen Schirm auf und breitete sein Handtuch im so entstandenen Schatten aus. Dann legte er sich auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte ein wenig Schlaf zu finden. Eine winzig kleine Brise streichelte seinen erhitzten Körper. Und allmählich verwoben sich die Stimmen der mobilen Strandhändler, überwiegend Pakistani, gemeinsam mit der Brandung zu einem multikulturellen Schlaflied. Philipp hörte sie wie durch Watte. „Aqua, Cerveca, Fanta, Cola, Bier“ „Pantalones, Pareos, Vestidos“, „Coco bello, Coco dulce, Coco fresco“, „Wanna have a bier my friend?“ Philipp öffnete unwillig die Augen, sein Blick fiel zunächst auf ein paar frottebestrumpfter Waden, die dazugehörigen Füße steckten in dunklen Halbschuhen. Ein Sixpack mit Bier wurde ihm von oben entgegengestreckt. „You wanna have beer, my
friend?! – Oh fuck!“ Im selben Moment landete etwas unsanft eine blaue Plastikkühltasche im Sand neben Philipps Kopf. Ein Handtuch wurde eilig darüber geworfen und schon hockte auch der Bierverkäufer unter Philipp Sonnenschirm. Am Strand war es verdächtig still geworden. Zwischen den verbrannten Engländerinnen saß auf einmal ein olivenhäutiger Hühne
mit Rastamähne, Ballonhose und Schnabelschuhen in einem Berg von Freundschaftsbändchen, Strandtüchern und Leinenhosen. Er hielt sein Gesicht in die Sonne, als würde er zum letzten Mal im Leben Pigmente haschen können. Doch noch ehe Philipp sich darüber wundern konnte, sprang sein ungebetener Gast wieder auf. „Gracias“, sagte der noch
und wie um sich zu entschuldigen „La policia“. Im nächsten Moment schwirrte schon wieder ein babylonisches Stimmengewirr über die schwitzenden Leiber „Aqua,
Beer, refrescos!“ Philipp, der die Polizei weder kommen noch gehen sehen hatte, fragte sich, ob es unter den mobilen Händlern eine Art geheimes Warnsystem gab. Mit seiner Ruhe war es jetzt allerdings vorbei. Er packte seine Sachen und ging
nach
Hause.

10. August, nachts: 30 Grad, windstill, leicht bewölkt, Luftfeuchtigkeit 80 Prozent

Philipp fühlte sich völlig zerschlagen. Er hatte sich inzwischen einen Eimer mit kaltem Wasser ans Bett gestellt und tauchte dort regelmäßig seine Füße ein, in der Hoffnung so die Betriebstemperatur seines Körpers zu senken. Er war müde und wusste, dass er trotzdem eine weitere schlaflose Nacht vor ihm liegen würde. Der rote Fleck an seiner Ellenbeuge hatte inzwischen Gesellschaft bekommen. An den Innenflächen beider Arme breiteten sich jetzt kleine rote, juckende, nässende Pickel aus. Leidenschaftslos betrachtete er ein etwa 3 Zentimeter langes Silberfischchen, das von der Straßenlaterne beschienen an der Wand über seinem Bett hochkroch. Er überlegte, ob die Gliederfüßler bis Ende August noch die 5-Zentimeter-Marke erreichen würden. Es war inzwischen 2 Uhr nachts. Aus einem Fenster auf der Rückseite des „Rey
de la Gamba“ drang das Gekreische betrunkener Frauen und
Akkordeonklänge. Ein Auto raste durch die enge Straße, die Bässe einer völlig übersteuerten Musikanlage übertönten einen Moment die Kneipengeräusche. Dann brüllte ein Mann, voller Wut, eine Frau fiel ein. Es gab einen kurzen, dumpfen Schlag. Ein Hund bellte, weitere Hunde im Viertel fielen ein. Philipp schoss hoch, sein Herz raste. Er fragte sich, ob er gerade akustischer Zeuge eines Mordes geworden sei. Er beugte sich weit aus dem Fenster. Doch die Straße lag einsam und verlassen da. Und während er hinaussah, wurde ihm bewusst, dass auch hier draußen die Luft stand. Es war nachts um zwei und sowohl in seiner Wohnung als auch auf der Straße waren es wohl noch über 30 Grad. Er versuchte sich zu erinnern, wie es war, frische, kühle Luft einzuatmen. Er hatte es vergessen. Und dann überkam ihn die Panik. Ein Gefühl zu ersticken, nirgendwohin fliehen zu können, weder vor der Hitze noch vor der Feuchtigkeit oder vor den Ausdünstungen des nächtlichen Barcelona. Er warf sich ein T-Shirt über, sprang in eine kurze Hose und rannte aus der Wohnung, in der Hoffnung direkt am Meer eine frische Brise zu finden. Der Strand war voller Menschen auf der Suche nach Abkühlung oder Mondscheinromantik. Zwischen leeren Bierbüchsen, Kippen und Plastiktüten lagerten Grüppchen singender und Gitarre spielender Engländer. Zwei Marokkaner mit Gettoblaster waren damit beschäftigt, möglichst cool auszusehen. Neben einem
Einkaufskorb, in dem ihr Hab und Gut verstaut war, lag ein
Pennerpärchen und schlief. Ganz unten am Wasser lagen eng umschlungen ein Mann und eine Frau und es war nicht zu übersehen, was sie taten. Eine frische Brise suchte Philipp allerdings vergeblich. Er blieb trotzdem sitzen, starrte eine halbe Stunde auf den Vollmond, der sich im Meer spiegelte und stellte sich vor, wie es wäre im November durch einen nebelverhangenen, vor Nässe triefenden Wald in Deutschland spazieren. Er stellte sich vor, wie das Herbstlaub roch, der feuchte, satte Erdboden, Pilze, Gras … „Do you wanna have beer my friend?“ Ein Pakistani beugte sich zu ihm herunter und hielt ihm ein Sixpack vors Gesicht „No!“ stieß Philipp hervor. „You like Hasch, something to smoke?“ …

11. August, Tageshöchsttemperaturen: 35 Grad, regnerisch, Luftfeuchtigkeit 95 Prozent, Zimmertemperatur 29 Grad

Als er aufwachte, spürte er, dass etwas anders war. Er hörte eine Art Rauschen. Es regnete. Tatsächlich, es regnete. Philipp sprang nur mit Schlafanzughose bekleidet auf seinen winzigen Balkon und zuckte zurück. Wie eine Faust traf ihn der
aufsteigende, warme Dunst. Aber vielleicht würde es zumindest nicht ganz so heiß werden, wenn die Sonne von Wolken verdeckt war. Er zog sich an und ging zum Bäcker an
der Ecke. Mit einem frischen Schokocroissant kehrte zurück. Der
Gedanke an den Kaffee, den er gleich kochen würde, beschleunigte seine Schritte. Er schloss die Haustür auf und eilte nach oben. Julia, die Rentnerin, die unter ihm wohnte, hatte, wie immer, ihre Wohnungstür weit offen stehen. Dadurch entstand ein leichter Durchzug und sie konnte besser kontrollieren, wer in dem kleinen Haus ein und aus ging. In dem Moment als Philipp an ihrer Tür vorbeigehen wollte, kam sie heraus. Es
folgte die übliche Gesprächseinleitung über Wetter und Befinden. Philipp wusste, dass sicher gleich eine von Julias üblichen Belehrungen folgen würde. Diesmal ging es offenbar um die Haustür unten. Philipp verstand allerdings nicht, worauf sie hinaus wollte. Es war, als ob sich seine mageren Spanischkenntnisse ganz zurückgezogen hätten. Als Philipp sie immer noch verständnislos anstarrt, nahm sie ihn an die Hand und zog ihn hinter sich wieder die Treppe hinunter. Sie öffnete die Haustür und schloss sie mit einem leichten Knall. Offenbar hatte er gestern Nacht beim Schließen der Haustür, empfindlich ihre Nachtruhe gestört. Philipp nickte nur müde mit seinem Kopf, sagte „Si, si“, ging dann hoch in seine Wohnung, warf
das schon leicht zerlaufene Schokocroissant auf die Anrichte und legte sich wieder hin. Das Thermometer war inzwischen wieder auf 35 Grad gestiegen. In seinen Kniekehlen kribbelte es. Die roten Flecken hatten sich weiter ausgebreitet. Er stand auf und ging ins Bad, um sich seine Salbe zu holen. Ein Apotheker hatte sie ihm nach einem Blick auf seine Haut empfohlen. Er zog die Schublade auf und wollte gerade hineingreifen – da fielen ihm zwei dicke schwarze Haare ins Auge, die zwischen der Tube mit der Salbe und seinem Nageletui seltsam starr hervorragten. Er zögert kurz und griff dann zu, um sie herauszuziehen. Und während er daran zog, rutschte sein Nageletui beiseite und gab den Blick frei auf ein riesiges, vielleicht vier Zentimeter langes dunkelbraunes Insekt. Das, was er für Haare gehalten
hatte, waren nichts anders als die Fühler einer Kakerlake. Philipp
ließ sie angewidert fahren und schob die Schublade wieder zu. Auf der Spiegelkonsole stand sein Haarspray, er griff es und entleerte es durch einen kleinen Spalt in die Schublade. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer und legte sich wieder aufs Bett. Von diesem Tag an betrachtete er die Silberfischchen in seiner Wohnung geradezu mit Sympathie.

28. August, Tageshöchsttemperatur 28 Grad, Tiefsttemperaturen 22 Grad, leichte Brise, wolkenlos, Luftfeuchtigkeit 70 Prozent

Als Philipp erwachte, fühlte er sich seltsam erfrischt. So wie schon lange nicht mehr. Er hatte das erste Mal seit Anfang Juli wieder mehr als 5 Stunden durchgeschlafen. In seinem Kopf fingen die Gedanken an zu kreisen, was könnte er mit dem Tag anfangen? Er hatte sich eigentlich schon ewig vorgenommen, ein Fototagebuch von Barceloneta anzulegen. Gegenüber auf dem Balkon hörte er das rothaarige Baby brabbeln. Er sprang auf, griff seine Kamera und lief ans Fenster. In diesem Moment erschien der tätowierte Vater des Kindes. „¡Hola!“, begrüßte ihn Philipp, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Quiero fotografiar el bebe. Es possible?“, fragte Philipp quer über die Gasse. „Si claro!“, nickte der Mann und fragte dann nach kurzem Zögern: „Deutscher?“ Philipp nickte erstaunt. „Woher kommst Du?“, fragte jetzt sein Gegenüber mit einem unüberhörbar sächsischem Dialekt. Noch nie war Philipp so froh gewesen, einen Sachsen zu
treffen. In diesem Moment klingelte das Telefon. „Einen Moment“, rief Philipp. Er überlegte kurz, wie er sich melden sollte und rief dann „Diga me!“ in den Hörer. Es war Jesus, der in einer Stunde vorbeikommen wollte, um eine neue Klimaanlage zu installieren.

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