Foto der Band U2, aufgenommen an einer Küste, im Hintergrund sind Berge und Meer zu sehen.

Musikvorstellung: U2 – Songs of Surrender

Foto: Helena Christensen

Mehr als 170 Millionen Tonträger haben U2 in ihrer rund 45-jährigen Geschichte verkauft. Das ist, neben der faszinierenden Tatsache, seit 1978 in unveränderter Besetzung unterwegs zu sein, schon eine Ansage. Schon in der Vergangenheit gab es mindestens zwei Best-Of-Zusammenstellungen, die sich mit unterschiedlichen Dekaden und somit Schaffensperioden der irischen Rockstars auseinandersetzten. Einmal wurden die Jahre 1980 bis 1990 abgedeckt und einmal der Zeitraum von 1990 bis 2000. Dass in dieser Zeit die größten Immergrüne der Iren geschaffen worden sind, von „Sunday Bloody Sundey“ über „Where The Streets Have No Name“ bis zu„Pride (In The Name Of Love)“, steht außer Frage. Inzwischen sind aber erneut mehr als 20 Jahre vergangen und zu den ewigen Hits gesellte sich die ein oder andere Perle hinzu. Nicht zuletzt um diesem Umstand Tribut zu zollen, veröffentlicht das Quartett in diesen Tagen „Songs Of Surrender“, das aus vier Alben besteht, die jeweils einem der Bandmitglieder gewidmet sind. Und ein wenig ist „Songs Of Surrender“ so etwas wie Schrödingers Album. Es ist neu und gleichzeitig ist es das nicht.

Was zunächst ein wenig verwirrend erscheinen mag, ist eigentlich rasch erklärt: U2 haben sich gegönnt und 40 Songs ihres Schaffens neu aufgenommen – in einer weitgehend reduzierten, viel akustischeren Version, als man die Songs zuvor serviert bekam. Neu arrangiert, neu produziert, neu eingesungen, teilweise auch die Texte hier und da noch mal ein bisschen angepasst. Somit bekommen Fans 40 Mal Songs, die sie eigentlich schon kennen – und eben auch noch nicht. Diese, man muss es so nennen, Neuinterpretation von Gassenhauern wie den eingangs erwähnten, aber auch weniger bekannten Stücken wie „Stories For Boys“ oder „Dirty Day“ ermöglicht ein völlig neues Kennenlernen der Songs und der Band. Normalerweise ist U2 keine Bühne zu groß, und der Erfolg gibt ihnen ja auch Recht, aber sie auf diese ungewohnte und unerwartet geerdete Weise zu erleben, ohne all den Stadion-Rock, all den Bombast, der den Songs gerne mal innewohnt, ist in jedem Fall ein sehr faszinierendes Erlebnis. Und auch eines von denen, die hängen bleiben. Selbst wer seit 45 Jahren Fan der Band ist, wird hier gewiss noch etwas Neues entdecken, als wäre es zum allerersten Mal.

„Das andere Hauptziel war es, Wege zu finden, Intimität in die Songs zu bringen, da die meisten von ihnen ursprünglich für Live-Konzerte geschrieben wurden.“ (The Edge)

Dieses Projekt geht der Überlieferung nach auf eine Initiative von The Edge zurück. Zumindest hat er die Songs kuratiert und produziert, heißt es. The Edge erzählt über dieses Projekt: „Musik ermöglicht Zeitreisen, und wir waren neugierig darauf, wie es wäre, unsere frühen Songs mit uns in die Gegenwart zu bringen und ihnen den Nutzen, oder anders gesagt, einer Neuinterpretation im 21. Jahrhundert zu geben.

Was als Experiment begann, entwickelte sich schnell zu einer persönlichen Obsession, denn so viele unserer Songs wurden neu interpretiert. Intimität ersetzte Post-Punk-Dringlichkeit. Neue Tempos, neue Tasten, und teilweise neue Akkorde und neue Texte kamen hinzu. Ein großartiger Song, wie sich herausstellt, ist irgendwie unzerstörbar.

Der Prozess der Song-Auswahl begann mit einer Reihe von Demos. Ich beobachtete, wie ein Song sich zusammenhielt, wenn alles, bis auf das Wesentliche, weggenommen würde. Das andere Hauptziel war es, Wege zu finden, Intimität in die Songs zu bringen, da die meisten von ihnen ursprünglich für Live-Konzerte geschrieben wurden.

Bei der Überprüfung dieser ersten Aufnahmen mit Produzent Bob Ezrin war es sehr einfach, diejenigen zu erkennen, die sofort funktionierten und diejenigen, die mehr Arbeit brauchten. Wir haben alle empfunden, dass weniger mehr ist.“

Die entscheidenden Punkte in der Aussage von The Edge sind wohl: mehr Intimität, weg mit dem ganzen Gemache, die Songs für Konzerte pimpen zu wollen und die Beibehaltung des Demo-Charakters. Stellt sich die Frage: Kann das funktionieren?

Weniger Bombast, mehr Gefühl

Jau, kann es. Erstaunlich überzeugend sogar. Es steht U2 überraschend gut, mal ein paar Gänge runterzuschalten und nicht – sorry! – immerzu auf die Kacke zu hauen. Selbst solche – nochmals sorry! – Sackgängersongs wie „Vertigo“ werden direkt erträglicher, wenn sie nur mit Akustikgitarre und Streichinstrumenten vertont werden. Stücke wie „Songs For Someone“, in der bisher bekannten Fassung schon eine zum Schmelzen schöne Ballade, gewinnt durch diese hier angebotene, maximal reduzierte Version neue Facetten hinzu. Und so was wie „With Or Without You“ wird, je nach Stimmungslage, direkt noch ein bisschen größer als so schon.

Wir könnten jetzt vermutlich lange und breit darüber diskutieren, ob es „Songs of Surrender“ gebraucht hätte oder ob U2 ihre Energie nicht lieber in ein richtiges, neues Album hätten stecken sollen. Ich finde, nach rund 45 Jahren kann man ruhig mal (wieder) einen Blick zurück werfen und die Art und Weise, wie es U2 hier getan haben, ist mir allemal lieber als eine weitere, herkömmliche Best-Of-Zusammenstellung. Für Fans sind diese 40 „Songs of Surrender“ eine wirklich tolle und gelungene Möglichkeit, die dargebotenen Songs neu zu entdecken – auch jene, an denen man sich vielleicht schon lange satt gehört hat. Und für alle anderen bieten die „Songs of Surrender“ eine Chance. Die Chance nämlich, die eigene Einstellung (und möglicherweise Vorurteile) der Band gegenüber zu überdenken. Vielleicht einmal mehr zu bestätigen. Vielleicht aber auch zu widerlegen. Denn auch das ist klar: Man ist nicht 45 Jahre lang am Start, füllt Stadien und verkauft Tonträger noch und nöcher, wenn die Songs nicht eine gewisse Substanz böten. Genau diese Substanz, der Kern, das Wesen einiger der bemerkenswertesten Songs der Iren, wurde bisher niemals greifbarer. Und wird es möglicherweise auch niemals wieder.

Cover des Albums Songs of Surrender von U2.
Erscheinungsdatum
17. März 2023
Band / Künstler*in
U2
Album
Songs of Surrender
Label
Island (Universal Music)
Unsere Wertung
4.4
Fazit
Und für alle anderen bieten die „Songs of Surrender“ eine Chance. Die Chance nämlich, die eigene Einstellung (und möglicherweise Vorurteile) der Band gegenüber zu überdenken. Vielleicht einmal mehr zu bestätigen. Vielleicht aber auch zu widerlegen. Denn auch das ist klar: Man ist nicht 45 Jahre lang am Start, füllt Stadien und verkauft Tonträger noch und nöcher, wenn die Songs nicht eine gewisse Substanz böten. Genau diese Substanz, der Kern, das Wesen einiger der bemerkenswertesten Songs der Iren, wurde bisher niemals greifbarer. Und wird es möglicherweise auch niemals wieder.
Pro
Sehr auf das Wesentliche reduziert ermöglichen die 40 Songs, die Band auf eine ganz neue Art kennenzulernen
Dichter dran an den Kern, das Wesen, eines Liedes als hier wird man vermutlich nie wieder kommen
40 Songs komplett neu aufzunehmen, mit allem was dazu gehört, ist natürlich eine Ansage
Die Auswahl dürfte wohl kaum einen Fan-Favoriten auslassen
Kontra
4.4
Wertung
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