Bärlauch

Foto: Christiane, unter Verwendung von Fotor

Kurt blickte genervt auf seine Uhr. Auf der Trauerfeier für Oskar würden sie
wahrscheinlich gerade zum gemütlichen Teil übergehen. Ihr Gartennachbar hatte mit 75 das Zeitliche gesegnet. Und während der gesamte Gartenvorstand geschlossen zur Beerdigung marschiert war und jetzt ganz sicherlich auf Oskars preisgekrönte Apfelhybride anstießen, musste Kurt mit Hilde durch den Wald spazieren. „Riechst Du denn nichts?“ Hilde hielt ein langestieltes, ovales Blatt unter Kurts Nase. Seit einer Stunde krochen die beiden Vorruheständler durch den frühlingsblühenden Auenwald. Auf der Suche nach der Modepflanze des Jahres. Dem Bärlauch. Ein angeblich äußerst gesundheitsförderndes, weil vitaminreiches, nach Knoblauch schmeckendes Gewächs. Hilde war in ihrer Gartenzeitung darauf gestoßen und sogar die Tageszeitung hatte dem Bärlauch eine ganze Kolumne gewidmet. „Siehst Du“, hatte Hilde gesagt, „wenn die das sogar schreiben, dann muss da was dran sein.“

Hilde kannte den Bärlauch noch aus Kinderzeiten. Nur das war schon ganz schön lange her. 50 Jahre war sie jetzt jeglichen Bärlauch ignorierend durch die heimatlichen Wälder gestreift. Hatte Pilze gesammelt, unter der kundigen Anleitung von Kurt. Er hatte ihr erklärt, wie man Pfifferlinge, Maronen und Steinpilze erkennt und richtig aus dem Waldboden löst. Manchmal waren sie auch einfach nur so durchs Grüne gelaufen. Kurt mit einem Fernglas bewaffnet, um Vögel zu beobachten und Hilde zu erklären, wie man einen Buntspecht von einem Kleinspecht unterscheidet. Kurt fand die ganze Hysterie um den Bärlauch übertrieben. So ein Blödsinn, nur weil irgendein Promi die Pflanze für sein persönliches Kochbuch ausgegraben hatte, marschierten neuerdings ganze Hundertschaften von Städtern durch den Auenwald. Traten alles nieder, was nicht nach Bärlauch aussah, störten die Vögel beim Brüten und stachen mit ihren Stilettos tiefe Löcher in den Waldboden. Und nun war Hilde auch noch mit dem Bärlauchvirus infiziert worden. Kurt brauchte an dem grünen Blatt, dass ihm Hilde vor die Nase hielt, gar nicht erst riechen. Das sah man doch schon aus hundert Meter Entfernung, dass das kein Bärlauch sein konnte.

Foto: Christiane, unter Verwendung von Fotor

„Hilde, es dürfte Dir doch wohl klar sein, dass Bärlauch im Gegensatz zur giftigen Herbstzeitlosen kurz gestielt ist.“ „Ich finde aber, es riecht nach Knoblauch“, unternahm Hilde den Versuch, Kurt von ihrem botanischen Fund zu überzeugen. „So ein Quatsch, Du solltest Deinen Geruchssinn mal überprüfen lassen. Außerdem hätten wir lieber zu Oskars Beerdigung gehen sollen. Ich bin der Einzige vom Vorstand, der nicht da ist. Und alles nur, weil Du unbedingt heute Abend Bärlauchsuppe kochen willst.“ Hilde schnupperte noch einmal an dem Blatt – es roch ganz eindeutig nach Knoblauch – und warf es dann widerspruchslos weg. In 40 Jahren mit Kurt hatte sie ihre Fähigkeit zur stummen Opposition perfektioniert. Außerdem war sie schon froh, der Trauerfeier entgangen zu sein. Kurt hatte in den letzten zwei Jahren geradezu eine Passion für Beerdigungs-Hopping entwickelt. Und während ihr das Vorbeidefilieren an den posthumen Überresten ehemalige Mitschüler, Freunde und Verwandte aufs Gemüt schlug, gab es Kurt offenbar ein gewisses Gefühl der physischen Überlegenheit. „Ah, da haben wir ihn doch, den Allium ursinum.“ Kurt beugte sich triumphierend über ein großes Büschel grüner Blätter, die für Hilde genauso aussahen, wie jene, die sie gefunden hatte. In halber Schieflage verharrte er plötzlich, um sich mit der rechten Hand ins Kreuz zu fassen. „Dann kannst Du Dir Dein Zeug ja jetzt abschneiden. Ich habe da hinten noch was gesehen …“

Foto: Christiane, unter Verwendung von Fotor

Mit diesen Worten eilte Kurt leicht vornübergebeugt davon. Hilde hatte sogar den Eindruck, dass er ein Bein nachzog. Nach zehn Minuten hatte sie das kleine Bärlauchfeld abgeerntet und in einer Lidl-Tüte verstaut. Kurt war inzwischen nicht wieder aufgetaucht. Dann konnte sie genauso gut gleich noch ein paar Anemonen für einen Frühlingsstrauß zu pflücken. Nach weiteren zehn Minuten war von Kurt immer noch nichts zu sehen. Sie fand ihn schließlich im Auto sitzend. „Na endlich kommst Du auch mal“, knurrte er und ließ den Motor an. Als sie zu Hause ankamen, war es eindeutig zu spät für die Trauerfeier von Oskar. Wahrscheinlich waren jetzt auch die letzten aus der Trauergemeinde weinseelig auseinandergegangen. Hilde versuchte Kurt, der sich übel gelaunt in seinem grünen Lieblingssessel im Wohnzimmer niedergelassen hatte, mit der Aussicht auf ein Gourmetmahl besser zu stimmen: „Möchtest Du lieber ein Bärlauchschaumsüppchen oder Bärlauchpesto an Nudeln?“, rief sie aus der Küche. „Lass mich doch mit diesem An-Scheiß in Ruhe. Mach, was Du denkst.“ , brummelte Kurt und verschanzte sich hinter der Regionalzeitung. „Also gut, dann gibt’s das Bärlauchschaumsüppchen. Dazu kann ich uns noch eine Entenbrust braten. Das Rezept habe ich in der Brigitte gefunden. Und danach mach ich uns noch frische Erdbeeren mit Sahne und Schokostreusel. Was meinst Du?!“ Hilde jubilierte angesichts dieser kulinarischen Genüsse. Sie gehörte zu den Menschen, die für ein gutes Essen alles in Kauf nahmen, weite Wege, um an die Zutaten zu kommen, fünf Stunden Vorbereitungszeit, um dann ein Soufflé zusammenfallen zu sehen oder selbst eine Trauerfeier, wenn nur das Cateringunternehmen einen guten Ruf hatte.
Aus dem Sessel kam allerdings keine Reaktion. Hilde hatte aber auch keine erwartet. Kurt gehörte zu jenen Männern, bei denen das Zeitungslesen alle Sinne in Anspruch nahm. Außerdem hatte er sich in all den Ehejahren angewöhnt, bei der Stimme seiner Frau prinzipiell auf Durchlauf zu schalten.

Hilde röstete ein paar Pinienkerne an, schnitt den Bärlauch – „Du Kurt, ich finde aber, dieser riecht hier gar nicht nach Knoblauch“ – in feine Streifen, schüttete beides in eine Schüssel, vermengte es mit Olivenöl und pürierte es dann. Nein, das roch nicht wirklich nach Knoblauch. Na gut, dann machte sie eben noch ein wenig Knoblauch dazu. Dann schwitzte sie in einer Pfanne Zwiebeln an, löschte alles mit Hühnerfond und einem Glas Weißwein ab. Zum Schluss kippte sie noch einen Becher Sahne in den Topf. Während das Ganze vor sich hin köchelte, briet sie die Entenbrust von allen Seiten an. Das Fett spritzte in der Küche herum. Als sie gerade versuchte, einen Topfdeckel in Übergröße über die Pfanne zu stülpen, rief es hinter der Regionalzeitung hervor: „Kannst Du nicht mal die Küchentür schließen. Die ganze Wohnung stinkt dann wieder wie eine Frittenbude!“ Hilde beschloss, dass das Brutzeln in der Pfanne laut genug war, um Kurts Bemerkung glaubhaft überhört zu haben. Sekunden später knallte die Tür zu. Kurt hatte sich offenbar kurz von seinem grünen Sessel erhoben, um sich von dem Anblick seiner Frau beim Kochen zu befreien. Er hätte sich gern auch mit zwei Wurstschnitten zufriedengegeben. Schließlich landete die Entenbrust in der Backröhre, um dort noch ein paar Minuten vor sich hin zu braten. Inzwischen rührte Hilde das Bärlauchpesto in die Suppe und deckte dann den Tisch. „Findest Du nicht, dass das wirklich lecker ist? Und noch dazu gesund!“. Hildes Frage war rein rhetorischer Natur. Kurt versuchte gerade eine der Entenbrusttranchen, die sie auf dem Rand des Suppentellers drapiert hatte, in der hellgrünen Flüssigkeit zu versenken. Das nahm ihn völlig in Anspruch. Experimentelles Essen widerte ihn an. Jetzt musste er diese verdammte Entenbrustscheibe ja noch irgendwie klein geschnitten kriegen, so eine ganze Scheibe war der Ruin für seine Dritten. Er rührte inzwischen wütend mit Gabel und Messer in der Suppe herum, um die Scheibe, die er mehr erahnte, als sah, zu zerteilen. Gegen 20 Uhr 15 fing das Fußballspiel Deutschland gegen Belgien an. Er musste sich beeilen, wenn er noch den Anfang mitkriegen wollte. 20 Uhr 14 legte er sein Besteck nieder und kehrte zu seinem grünen Sessel zurück.

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