Das Blutorangenbad von Klein Ammensleben

Illustration: Roman Empire / Avalost / Unter Verwendung von Adobe Firefly (KI)

Inhaltsverzeichnis

Vorspiel

Da war er. Schröders freier Tag. Seine Frau hatte ihm nach dem Mittag noch einen Kuss gegeben und war dann mit dem Auto zu ihrer Freundin nach W. abgerauscht. In den nächsten 24 Stunden rechnete er nicht mit ihrer Rückkehr. Vor ihm lagen also 24 wundervolle Stunden, in denen er tun und lassen konnte, was er wollte. Keine Musik hören, die er nicht mochte, mit niemandem reden müssen, keine Vorwürfe, weil er die Wäsche falsch aufgehängt hatte, keine Fragen, was er eine halbe Stunde mit dem Playboy auf Klo machte oder ob es denn notwendig sei, die ganze Nacht im Internet zuzubringen. Außerdem wollte Schröder ein Foto machen. Wie es aussehen sollte, hatte er schon fix und fertig im Kopf. Die Idee dafür hatte in den letzten Wochen langsam Gestalt angenommen. Während er die Zahnwurzel eines Patienten resektierte oder eine beachtlich ausgeprägte Parodontose durch seine Lupenbrille begutachtete. Manchmal war er direkt froh, dass ihn das dicke Glas von der Welt seiner Patienten abschirmte. Sein Fokus war auf eine einzige fremde Körperöffnung beschränkt, von der er hoffte, dass sie in der nächsten halben Stunde von ihrem Besitzer nicht zum Sprechen benutzt werden würde. Die Patienten dagegen sahen nicht viel mehr von ihm als ein vielfach vergrößertes, wasserblaues Auge, das in ihren Mund starrte. Am liebsten waren ihm ja jene, die mit geschlossenen Augen auf dem Behandlungsstuhl lagen, während seine Gedanken auf Wanderung gingen.

Blut, ja, das war es. Das Thema für sein Bild, sein Foto. Eigentlich hatte er immer geglaubt, für Kreativität reiche sein Potenzial nicht. Aber irgendwie fühlte er seit einiger Zeit in sich eine Art schöpferischen Drang. Da war etwas in seinem Unterbewusstsein, eine kleine Unzufriedenheit, zwischen Patientenabfertigen und Geldausgeben, eine Frage nach dem Ob-das-jetzt-schon-alles-war-im-Leben. Er war auf der Suche nach einer neuen Leidenschaft. Zum Malen reichte sein Talent nachweislich nicht, in Musik hatte er eine 4. Fotografieren, das war schon ok. Und während er sich mit wachsender Verachtung der Beseitigung eines unrettbar kariösen Sechser widmete, hatte er dann die Vision – sein erstes Bild: Blutorangen im Schnee.

In der letzten Nacht hatte es geschneit. Der langgestreckte Garten vorm Haus war von einer etwa zehn Zentimeter dicken Schneeschicht überzogen. Die Eiben, die er im Sommer rund um die Terrasse gepflanzt hatte, sahen aus wie eine Schar hutzliger Zwerge mit weißen Hauben. Dazu schien die Sonne. Ideales Ausgangswetter für sein Foto. Also war er gleich, nachdem seine Frau weg war, in die nahe Stadt gefahren und hatte drei Blutorangen geholt. Die warteten nun darauf, ihr rotes Innenleben über dem jungfräulichen Garten auszuhauchen. Bei der Suche nach dem Farbfilm, der irgendwo in einer Schublade lungerte, war er noch auf ein Paar Handschellen gestoßen. Von denen seine Frau nichts wusste. Eigentlich hatte er ja gedacht, sie eines Tages damit überraschen zu können. Vor vielen Jahren. Aber na ja. Irgendwie hatte es sich nie ergeben. Wie das eben so ist. … Ja, die Handschellen sollten auch noch aufs Bild, sein Bild. Abgesehen von den garantiert misstrauischen Blicken des Nachbarn hätte der Tag noch ein völlig normaler werden können. Mit einem völlig normalen Ende. Er wäre mit dem Messer, den Handschellen und den Orangen durch den Garten gesprungen, hätte sein Foto gemacht, irgendwann den Zwiebelkuchen gegessen, den seine Frau vorbereitet hatte, hätte sich noch ein wenig im Internet vergnügt und wäre dann friedlich in sein Wasserbett abgetaucht. Wenn ihm nicht auf der Suche nach dem Stativ das kleine Tütchen mit dem dunkelgrünen Klumpen in die Hände gefallen wäre.

Jemand hatte es ihm zu seinem 39. Geburtstag geschenkt, mit dem süffisanten Hinweis, was er unbedingt vor Vollendung des 40 Lebensjahres noch tun sollte: totale Bewusstseinserweiterung, wildeste, sexuelle Phantasien, kosmische Zustände na ja ähem grins… Dazu eine Gebrauchsanweisung für Nichtraucher. Jetzt stand er also am Herd, ließ Butter aus, raspelte einfach mal die Hälfte von dem Zeug hinein – wie viel stand leider nicht im Rezept –, goss Milch auf und vermengte das Ganze mit Kakaopulver. Mit einem erweiterten Bewusstsein sollten sich die Orangen doch viel schöner fotografieren lassen.

Bewusstseinserweiterung Teil 1

Zwei Stunden später. Über den unberührten Garten senkt sich die Dunkelheit herab. Eine Kerze steht auf einem flachen Beistelltischchen an der Sitzgruppe. Sie beleuchtet das große Wohnzimmer im Erdgeschoss des Hauses nur spärlich. Auf dem Fensterbrett liegen drei Blutorangen mit Messer. Schröder in Rumlümmelkluft – alte Jeans und graues, verwaschenes T-Shirt – schwebt auf der braunen Ledercouch mit Handschellen auf dem Bauch. Aus dem CD-Player, der in einer Ecke am Boden steht, tönt die melancholische Stimme von Leonard Cohen. Schröder denkt über das Leben und die Frauen nach. Jedenfalls so ein bisschen. Schließlich erinnert er sich an die Blutorangen. Er legte die Handschellen auf den Tisch und schleppt sich zum Fenster. Dort greift er nach einer Orange. Seltsam nur, dass diese Orange nicht mehr da liegt, wo sie eben noch lag. Sie spielen eine Weile Hasche miteinander. So schnell gibt sich Schröder nicht geschlagen. Schließlich hat sich der Mensch in jahrhundertelangem Kampf die Natur untertan gemacht. Er würde sich doch nicht von drei lächerlichen Blutorangen vorführen lassen. Schließlich fängt er dann doch alle drei samt Messer ein und auch seine Hand hat sich wieder dem Rest- Körper angeschlossen. Nur die Augen bleiben noch ein wenig am Fenster kleben, während er sich zum Sofa zurückschleppt. Wollte er nicht eigentlich fotografieren? Ach, Scheiß drauf, er hat jetzt einen fürchterlichen Durst und eine pelzige Zunge. Zeit, das Biest zu erlegen. Schröder sticht in die Blutorange. Es spritzt. Als die Augen aufhören zu tränen, fällt sein Blick auf eine engelsgleiche Gestalt mit langen, dunklen Haaren und einem extravaganten schwarzen, tiefausgeschnittenen Einteiler. Overall, verbessert er sich gleich darauf. Das musste ein Overall sein, höchstens Größe 34. Seine Frau hatte auch so ein Teil… Nur das, was ihm hier gegenüber im Sessel sitzt und lächelt, ist nicht seine Frau…. „Hallo!”, sagt das Wesen, während Schröder fasziniert in den Ausschnitt starrt. Schließlich reißt er sich zusammen und fragt: „Bist du der Geist der letzten Weihnacht?” Was für ein cooler Witz, denkt Schröder, klingt so unheimlich belesen. Der gute alte Charles Dickens, ja, ja, wenn der wüsste… Schröder muss kichern. Und muss kichern. Und muss kichern. Herr Gott, hat er jetzt nicht mal mehr seine Lache unter Kontrolle? Da sitzt dieses wundervolle, zauberhafte, einmalige Wesen hier in seinem Wohnzimmer und er lacht blöde in der Gegend rum. Wieso kann er nicht aufhören zu lachen! „Nein“, sagt der schwarze Engel etwas genervt und befördert nach einer Weile Herumwühlens in seiner schwarzen Handtasche ein Päckchen Karten zutage. „Ich werde dir helfen, dein Hier und Heute zu analysieren.”

„Wie mein Hier und Heute aussieht, weiß ich doch selber.” Schröder kichert in seinen Zickenbart, den er sich in den letzten Monaten zugelegt hat „Fad. Lau. Eben so gar nicht.“ Der Engel nimmt die Handschellen vom Tisch und beugt er sich leicht vornüber, um die einzelnen Karten auszubreiten. Schröder umhüllt eine Wolke aus Chanel Nummer 5. Schröder schiebt sich eine Blutorangenspalte in den ausgetrockneten Mund und versucht sich zu beruhigen, indem er die Karten mitzählt: drei Reihen, sieben Karten in jeder Reihe. 21 Karten. Schröder fahndet vergebens nach Buben und Assen. Dieses Spiel hat offenbar keine Trümpfe. „Du bist der Herrscher“, sagt der Engel. „Ähem, ja, also …”, bemerkt Schröder, versucht bescheiden abzuwinken und zuckt zusammen, als der Engel plötzlich „Oh Gott!” ausruft. „Ein Turm“, sagt der Engel und deutet auf die Karte schräg unter dem Herrscher. „Das bedeutet Ärger, großen Ärger. Guck, hier schlägt der Blitz ein, Menschen stürzen herab, das Gebäude bricht zusammen.“ 

Schröders Psyche schaltet stufenlos von Lachkrampf auf Panik um. Total surreal, die Nummer hier. Ob er vielleicht schizophren geworden ist? Schröder fühlt förmlich, wie sich der Boden unter seinen Füßen öffnet und es ihn in die Tiefe zieht. „Nah bei dir ist die Herrscherin – das ist deine Frau. Sie spielt derzeit eine große Rolle in deinen Gedanken.“ Stimmt, denkt Schröder und denkt an die Handschellen. Und die Wäsche. Und den Zwiebelkuchen. „Und hier genau unter dir haben wir die Karte der Entscheidung. Also welche Entscheidung auch immer du fällen wirst, sie wird mit ziemlich viel Ärger verbunden sein. So, hier ist noch eine Karte.“ Der Engel zaubert auf einmal eine 22ste Karte hervor. „Sie kann dir zu einer der drei Karten mehr sagen. Wohin soll ich sie legen?“ Schröder überlegt fieberhaft. Seine Frau kennt er, wozu noch Fragen! Der Ärger? Kommt ja so oder so. Also tippt er fest entschlossen auf die Karte der Entscheidung. „Der Magier!“, haucht der Engel, strahlt und schlägt seine langen Beine elegant übereinander. Wieder wabert eine Wolke Chanel Nummer 5 durchs Wohnzimmer. „Der Magier kann zweierlei bedeuten: die Begegnung mit einem wunderbaren Menschen, der dich verzaubert.” Liebe, denkt Schröder, muss Liebe schön sein. Und fühlt Schmetterlinge im Bauch. „Gleichzeitig“, so fährt der Engel fort, „ist er aber auch Sinnbild für die Kreativität im Menschen. Er kann Dinge verändern, verschwinden lassen und erschaffen. Es bieten sich große Chancen. Neue Lebensphasen beginnen mit Schwung und spornen auch andere an. Aber Achtung: bringe deine Phantasie in greifbare Formen, das schützt vor Wahnideen.“ Wahnideen. Wenn das vor ihm nicht die fleischgewordene Wahnidee ist! Und diese fleischgewordenen Wahnidee hat bei ihm doch gerade offenen Türen eingestoßen. Das Foto sollte natürlich nur der Anfang sein für etwas Neues, einen Schröder mit zwar schwindendem Haupthaar und leichtem Bauchansatz, dafür aber mit erweitertem Horizont, einen, der noch echte Herausforderungen sucht im Leben, bevor er dann mit 80 Jahren zufrieden in die Kiste springen würde. Sein Freund Tom nannte das einfach nur Midlifecrises. Aber ja, er wollte sein Leben ändern, er wollte Achttausender bezwingen, durchs Packeis segeln, eine Fotoausstellung machen. Doch bevor er seine Vorhaben mit dem Engel bereden kann, ist der Sitz vor ihm leer. Leonard Cohen hat seinen letzten Ton gesungen und die erste Blutorange ist gegessen.

Bewusstseinserweiterung Teil 2

Wenig später.

Auf dem Tisch liegen zwei Blutorangen mit Messer. Die Handschellen sind unter den Tisch gefallen. Das Wohnzimmer ist angefüllt mit psychedelischer Musik von Pink Floyd. Schröders Körper schwebt über dem Sofa, sein Geist umkreist sich selbst. Durst. Wahnsinniger Durst. Schröder setzt sich also auf. Wartet bis das Drehen nachlässt und greift nach dem Messer, um es in die zweite Blutorange zu stechen. Es spritzt. Diesmal hat Schröder vorbeugend die Augen geschlossen. Wenn nur dieser plötzliche Schmerz im linken Zeigefinger nicht wäre! Als seine Augen aufhören zu tränen, sitzt ihm gegenüber ein vollbusiges Weib mit sturmgeföntem, raspelkurzem Blondhaar. Schröder beugt sich – den blutenden Finger im Mund – leicht zur Seite, um einen Blick auf ihre Rückfront zu erhaschen. Tatsächlich, der Ausschnitt endet nur wenige Millimeter über einem knackigen Hintern. Dieser ist eingepackt in einen breiten Gürtel. Oder Rock? Die netzbestrumpften Beine sind allerdings übereinandergeschlagen und verwehren so einen tieferen Einblick. Schröders Augen bleiben an einem Paar extrem hoher Stilettos hängen. „Oh Gott“, schießt es Schröder durch den Kopf, „das Parkett! Kann die ihre Schuhe nicht draußen ausziehen! Wenn jetzt meine Frau kommt! Wie soll ich das erklären!“ Das Busenwunder öffnet seine blutroten Lippen und gönnt Schröder einen Blick auf zwei Parodontitis-befallene Zahnreihen. Schröder hat die Vision neuer Fotos: Schlachthof, Fleisch, noch mehr Blutorangen.

„Hallo! Ich bin Brigitte, deine Entscheidungshilfe.“ Die Entscheidungshilfe zuppelt an ihrem kurzen Rock und hält auf einmal ein Buch und einen Stift in den Händen. „Wir müssen nur diesen Persönlichkeitstest machen.” „Ich hasse Persönlichkeitstests”, grummelt Schröder erbost, während er versucht, die Handschellen unauffällig unters Sofa zu schieben. „Warum?”, fragt die Parodontitis, streift ihr Stilettos ab und ringelt sich auf dem Sessel zusammen. Der Minirock rutscht noch höher. „Das kann doch nicht wahr sein”, fährt es Schröder durch den Kopf, „kein Unterhöschen!“ Ihm wird auf einmal sehr heiß. „Man macht sich nur lächerlich, wenn man die falschen Antworten gibt. Außerdem geht mein Innenleben niemamm waf am.“ Die letzten Worte klingen nur noch undeutlich durch das T-Shirt, dass sich der stark erhitzte Schröder gerade über den Kopf zieht. „Deine Reaktion verrät anderen viel mehr über dein Innenleben, als du gern hättest. Aber bitte schmor nur weiter in deinem eigenen Saft“, knallt die Blondine Schröder an den hochroten Kopf. Diese Vorstellung gefällt Schröder nun auch wieder nicht und er lenkt ein. „Ne, is ja schon gut.” Wenn er sie noch ein wenig hinhalten konnte, vielleicht würde die Blondine im Laufe der Zeit ja noch weitere Hüllen fallen lassen. Für eine Nacht könnte man die Parodontitis glatt mal vergessen. Außerdem musste er ja nicht unbedingt seine Zunge in ihre Mundhöhle schieben. Aber Brigitte macht keine Anstalten, sich weiter zu entkleiden. Sie beginnt stattdessen aus dem Buch vorzulesen: „Sie gehen mit ihrer Frau auf eine Party. Ihre Frau wird von einem anderen Typen angebaggert. Wie reagieren Sie? a) Sie schnappen Ihre Frau und verlassen die Gegend, b) Sie baggern dafür dessen Frau an und haben einen netten Abend, c) Sie fordern den Typen zum Duell oder d) Sie verkriechen sich an der Bar und besaufen sich.“ Schröder fällt spontan die Silvesterfeier ein, als seine Frau und deren Freundin ihn am Ende der Nacht volltrunken ins Taxi verfrachteten. „Das ist mir zu blöd. Nichts von allem. E.“ Schröder findet sich selten originell und befühlt seine pelzige Zunge, ob darauf inzwischen schon Haare gewachsen sind. „Sie haben von heute auf morgen keine Arbeit mehr. Was tun Sie: a) Sie beschäftigen sich mit Hausarbeit. Der Rasen müsste auch mal gemäht werden. Und warten auf Angebot vom Arbeitsamt, b) Sie verkaufen Haus und Hof und wandern nach Mallorca aus, um dort eine neue Existenz zu gründen, c) Sie schreiben tausende Bewerbungen, um in ihrem Bereich wieder einen Job zu finden, d) Sie sitzen deprimiert auf dem Sofa und verfluchen die Welt.“ „C…. oder nee, b”, sagt Schröder diesmal fest entschlossen, den albernen Test doch mitzumachen. Vielleicht würde er am Ende doch noch was Neues über sich erfahren. Was sollte es, er würde dieses Weib sowieso nicht wieder sehen. Also keine Gefahr, die Antworten irgendwann aufs Brot geschmiert zu bekommen.

„Sie haben seit 12 Stunden den Bohrer nicht aus der Hand gelegt. Vor Ihnen sitzt ein Patient, der rummeckert, dass er da irgendwie so eine Erhebung an der neuen Krone spüre, obwohl sie sie schon zum dritten Mal maßanfertigen lassen haben, a) Sie sagen dem Typen, dass er morgen noch mal wieder kommen soll, wenn es dann immer noch drückt, b) Sie verlieren einen Patienten mit der Anmerkung, er könne Ihnen mal im Dunkeln begegnen c) Sie sagen ihm, das sei nur eine Frage der Gewöhnung, oder d) Sie machen auf ihre Kosten auch noch einen vierten Abdruck, um eine neue Krone anfertigen zu lassen.“ Schröder, der inzwischen die zweite Blutorange vertilgt hat, greift gedankenverloren nach der dritten und macht sich auf dem Sofa lang. Scheiß auf die Höflichkeit, das Gras verlangt seinen Tribut und außerdem macht Brigitte keine Anstalten, sich weiter zu entkleiden. „Wenn ich der Frau jetzt wahrheitsgemäß sage, dass ich auch noch eine vierte Krone anfertigen würde, damit ich meine Ruhe habe, stehe ich da wie Schlaftüte. Was geht die Tussi das überhaupt an! Wenn ich aber sage, dass ich den Patienten in die Wüste schicke, wäre das zwar cool, aber dann werde ich unterm Strich nichts über mich erfahren…“ Schröders Gehirn versucht gerade die Quadratur des Kreises zu vollbringen.

Bewusstseinserweiterung Teil 3

Seine Hände pulen unterdessen einen Streifen Schale von der letzten Blutorange. Da bricht auf einmal ein barbarischer Lärm im Wohnzimmer los. Schröder hat das Gefühl, seine Trommelfelle platzen. Sein schwebender Körper wird von der Schwerkraft eingeholt und plumpst unsanft aufs braune Leder der Couch. Who the fuck hat die Stones-CD von seiner Frau in den Player gelegt? Was er dann sieht, lässt seine Haare zu Berge stehen. „Hallo Schatz, wo kommst du denn her?“, krächzt Schröder. Seine Stimme scheint das Weite gesucht zu haben, im selben Moment schaltet sich auch der CD-Player aus. Schröder schießen Visionen von einem künftig sehr einsamen Schröder mit einem sehr dezimierten Freundeskreis in den Kopf. Die roten, halblangen Locken, das Gesicht, die schlanke Figur. Keine Frage, was dort aus dem hinteren, dunklen Teil des Wohnzimmers auf ihn zu schwebt, ist seine Frau. Nur dieses fluoreszierende, grüne Nachthemd hat er noch nie an ihr gesehen … Und die blauen Augen leuchten seltsam katzenhaft in der Dunkelheit. „Ich kann dir alles erklären“, stammelt Schröder und kommt sich vor wie in einem dieser albernen Filme von Rosamunde Pilcher, wo die Ehefrau ihren Mann mit seiner Liebhaberin in flagranti beim Turteln in der Badewanne erwischt. Eigentlich guckt er diese Filme ja nicht… Nur in den Werbepausen bei RTL. „Die Frau hier, äh, die Frau …”, Schröder kneift seine Augen zusammen, „die ….”. Auf dem Sessel ihm gegenüber sitzt niemand mehr und auch sonst im Raum ist keiner weiter zu sehen.

„Hallo Hasi”, sagt die katzenhafte Frau, die seine ist, aber irgendwie doch nicht. So viel geheimnisvoller, interessanter, unheimlicher, erschreckender, begehrenswerter. Sie setzt sich zu ihm, ihre Brustwarzen schimmern durch den fast durchsichtigen Stoff. Dann gibt es auf einmal ein metallisches Kratzen. „Ups, was haben wir denn da“, sagt die Katzenfrau und bückt sich, um unters Sofa zu linsen. Schröder fallen siedend heiß die Handschellen ein. „Ich kann dir alles erklären.“ Schröder hat den Eindruck eines Déjà-vu. Scheiß Pilcher-Filme. Die Katzenfrau hat sich inzwischen die Handschellen geangelt, ihre Augen leuchten noch heller. Dann legt sie sanft seine Arme über den Kopf und hält sie dort fest. Schröder lässt sie willenlos machen. Er spürt ihre Lippen auf seinen und fühlt eine gewaltige, unzähmbare Erregung in sich aufsteigen. Kein Wunder, wenn ihm schon seit Stunden die leckersten Knochen vor die Nase gehalten werden, sie ihm aber bevor er auch nur daran knabbern kann, wieder weggezogen werden. „Jetzt weiß ich, was notgeil ist”, denkt er und reißt ihr das Nachthemd vom Körper. In Praxis gestaltet sich das allerdings schwieriger, da er seine Handgelenke von metallenen Schließen an der Sofalehne gehalten werden. Die Katzenfrau kichert und stopft sich ein Stückchen Blutorange in den Mund. Dann wird Schröder noch heißer, als er einen warmen Hauch über seinem Bauch spürt, eine Zunge, einen Duft nach Orangen. Orangensaft rinnt über seine spärlich behaarte Brust und sammelt sich im Bauchnabel. Seine Hose wird geöffnet. Die Katzenfrau umfasst sein bestes Stück und badet es ebenfalls in Orangensaft. Schröder liegt wie gelähmt aus Angst, dass ihn gleich die Wirklichkeit aus diesem wundervollen Traum holen könnte. Im selben Moment erhebt sich die Katzefrau mit einem schrillen Lachen. Schröder versucht nach ihr zu greifen, sie festzuhalten. Es gibt einen Ruck.

Der Tag der Entscheidung

Der Tag schimmert durchs Fenster. Über dem Wohnzimmer hängt ein Duft von Orangen und Sex. Schröder liegt nackt auf dem Fußboden. Seine Arme sind mit Handschellen an die Lehne des Sofas gekettet. Ein Schlüssel dafür ist nicht zu sehen. Seine Kleidung ist im gesamten Raum verstreut. Ein Paar Pumps mit extrem hohen, dünnen Absätzen liegt unter dem Sessel gegenüber, daneben eine Tarotkarte: die Karte der Entscheidung. In fünf Stunden erwartet Schröder seine Frau zurück. Schröder überlegt, wie er ihr alles erklären soll.

Ohne dass sie geht.

Zumindest würde er dann viel Zeit zum Fotografieren haben. Ob er vielleicht gleich morgen noch mehr Blutorangen holen sollte?

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