Foto der Band Garbage. Shirley Manson steht in der Mitte und trägt einen auffälligen, orangen Lederdress und einen breiten, schwarzen Hut. Der Rest der Band steht leicht hinter ihr, alle in schwarz gekleidet.

Musikvorstellung: Garbage – No Gods No Masters

Foto: Maria Jose Govea

Es ist laut, es ist voller Samples, es ist wild, es dreht vollkommen frei, es ist erstaunlich frisch – und mehr als alles andere ist „No Gods No Masters“ erstaunlich politisch. Dauert nicht mehr lange, und Garbage sind auch schon 30 Jahre am Start. In dieser langen Zeit ist ihnen nicht jedes Album gelungen. Das wissen ihre Fans, das wissen sie selbst. „Beautiful Garbage“ beispielsweise oder auch „Bleed Like Me“ oder „Not Your Kind Of People“ wären, würden sie nicht von Shirley Manson und ihren Jungs stammen, vermutlich heute kaum noch erwähnt werden. Aber, und das muss ihnen der Neid lassen, auf der Stelle getreten sind sie nie; stets waren sie darum bemüht, sich selbst neu zu erfinden. Dass sie sich dabei manchmal an sich selbst und ihren Anfangstagen orientieren (so wie auf „Strange Little Birds“ beispielsweise) – geschenkt! Noch immer sind Garbage eine feste Größe im Alternate Rock – und 2021 so lebendig, so energiegeladen, so innovativ und so spielfreudig wie schon lange nicht mehr. Möchte ich nachfolgend lobhuddeln? Na aber hallo!

Würdet Ihr Frontfrau Shirley Manson bezüglich des neuen Albums befragen, über den Inhalt und den Sinn und Zweck und all solche Dinge, dann würdet Ihr vermutlich eine Antwort wie diese erhalten: „Dies ist unsere siebte Platte, und diese bedeutungsvolle Zahl hat die DNA des Inhalts beeinflusst: die sieben Tugenden, die sieben Leiden Mariens, die sieben Todsünden. Wir wollten versuchen, einen Sinn darin zu sehen, wie f*ing verrückt die Welt ist und in was für einem erstaunlichem Chaos wir uns befinden. Dies ist die Platte, die wir gefühlt zu diesem Zeitpunkt einfach machen mussten“ und sie würde damit versuchen zu umreißen, dass dieses neue Album einen sehr großen Bogen zu spannen versucht, der beim Kapitalismus beginnt und dann über Lust weitergeht und schlussendlich bei Verlust und Trauer endet.

„Dies ist die Platte, die wir gefühlt zu diesem Zeitpunkt einfach machen mussten.“ (Shirley Manson)

Die Saat für „No Gods No Masters“ wurde bereits 2018 gesät – nur zwei Jahre nach „Strange Little Birds“. Produziert haben Garbage das aktuelle Album einmal mehr mit ihrem langjährigen Partner in Crime, Billy Bush. Im Sommer 2018, irgendwo in der Wüste von Palm Springs trifft sich die Band, um das Grundgerüst des Albums zu entwerfen und mittels Jam-Sessions und Herumexperimentiere herauszufinden, in welche Richtung es sich entwickeln würde. Danach ging man wieder getrennte Wege, nicht zuletzt wohl auch dieser fucking Pandemie wegen, die uns nun schon seit mehr als anderthalb Jahren beschäftigt. Die Demos, die in jenen Sommertagen in Palm Springs entstanden, wurden schließlich später in ein Album gegossen. Ein Album, das nur so vor Ideenreichtum strotzt. Vielleicht haben Shirley und ihre Gang in Palm Springs irgendeine Art Jungbrunnen oder dergleichen ausgebuddelt, aber was sie hier auffahren, lässt Hörer*innen möglicherweise sehr erstaunt zurück. Während andere Bands, die ebenfalls sehr lange im Geschäft sind, irgendwann eine gewisse Portion Sättigung, Bequemlichkeit sowie die Erhaltung des Status quo kultivieren, so scheint es hier, als hätten Garbage kurzerhand mal die Reset-Taste gedrückt. Vielleicht musste ein Album wie „Strange Little Birds“ passieren, dieses Wühlen in der eigenen musikalischen Vergangenheit, um sich selbst zu rebooten. Vielleicht war das die Zeitreise, welche die Band brauchte, um von dort aus eine Art musikalisches Paralleluniversum zu erforschen. Um die Alben, die nach „Version 2.0“ kamen, in eine Schublade zu stecken und zu sagen: so, nochmal von vorne und dieses Mal mit Anlauf.

„Dies ist unsere siebte Platte, und diese bedeutungsvolle Zahl hat die DNA des Inhalts beeinflusst: die sieben Tugenden, die sieben Leiden Mariens, die sieben Todsünden.“ (Shirley Manson)

Dass die Dinge anders sind im Hause Garbage, das verdeutlicht schon das erfrischend verschrobene Stück „The Men Who Rule The World“, das mit Samples von Spielautomaten startet, mit ungewöhnlichen Strukturen punktet und wohl nicht weniger als DER gesellschaftskritische Rundumschlag ist, der Shirley Manson wohl schon lange auf der Zunge lag.

The men who rule the world
Have made a fucking mess
The history of power
The worship of success
The king is in the counting house
He’s chairman of the board
The women who crowd the courtrooms all accused of being whores

money money money money ha ha ha ha ha

Wird sicher gute Gründe geben, warum ich spontan an Typen denken muss, die bis vor kurzem noch Präsidenten eines der mächtigsten Länder der Welt gewesen sind. Garbage wären aber nicht Garbage, würden sie nicht neben den schnellen, vertrackten Nummern auch die Balladen perfekt aus dem Effeff beherrschen. „Waiting For God“ ist eine solche. Das Tempo der Natur solcher Songs entsprechend deutlich reduziert, dafür aber nicht weniger angefüllt mit Samples, die aufhorchen lassen und Shirleys noch immer wahnsinnig tolle Stimme, die sehnsüchtigst intoniert:

Waiting for god to show up
We’re keeping our fingers crossed
Smiling at fireworks that light all our skies up while black boys get shot in the back
Were they caught riding their bike or guilty of walking aloneI can’t seem to make sense of all of this madness
Just waiting for god
Keep waiting for god to show up

Und dann ist da auch noch das hocherotische „Anonymous XXX“, in dem Shirley singt und stöhnt:

Dress it up
Dress you down
You chase anonymous sex
Dress it up
Dress you down
You chase anonymous

„A Woman Destroyed“ hingegen ist so derbe düster, wie es der Titel vermuten lässt. Eines dieser Lieder, die erst einmal sacken müssen.

Ich höre mir das an und frage mich, was in jenen Tagen in der Wüste Palm Springs passiert ist. Woher Garbage all die Ideen bezogen haben, woher diese Frischzellenkur kam. Hängen jetzt in jenem Haus von Steve Marker, in dem die Bands die ersten Demos aufnahm, Portraits von Shirley, Steve, Butch und Duke, die an ihrer statt altern? Man braucht nur „Flipping The Bird“ zu hören, mit all dieser knarzigen Elektronik über den nervösen Gitarren und wähnt sich schnell bei einer anderen Band. Eine, die viel später an den Start gegangen ist und ihre Inspiration womöglich bei Garbage gefunden hat. (Keine Sorge, besagtes Lied entpuppt sich im Verlauf schon noch als typisch Garbage!) Ich möchte größtmöglichen Respekt ausdrücken, dass das Quartett sich so sehr erneuern konnte. Ich bin selbst seit ungefähr 1812 Fan der Band, mit ihnen gealtert quasi, und wie viele andere nicht immer damit einverstanden damit gewesen, was die Dame und die Herren produziert haben. Dass sie aber noch einmal so sehr auf die Pauke hauen würden, dass hätte ich bei aller seit 30 Jahren bestehenden Shirley-Manson-Verknalltheit nicht vermutet. Ich staune Bauklötze! Und wer, wie ich, immer still und heimlich gehofft hat, sie mögen noch einmal so eine unsterbliche Wahnsinnsballade wie „Milk“ oder „The Trick Is To Keep Breathing“ aus dem Ärmel zaubern … nun, „This City Will Kill You“ ist da verdammt dicht dran. Es klingt wie ein Lied, mit dem man den Vor- oder Abspann eines Films von Christopher Nolan unterlegen möchte. Un-fass-bar!

„No Gods No Masters“ erscheint auch als Deluxe Version, auf der sich auch diverse Coversongs befinden. So haben sich Garbage unter anderem an „Starman“ von David Bowie ausgelassen oder auch an „Because The Night“ von Patti Smith bzw. Bruce Springsteen. Diese Cover lagen mir zum Zeitpunkt zum Erscheinen dieses Artikels nicht vor, aber wenn mich der Pressetext darüber aufklärt, dass darüber hinaus seltene Garbage-Songs wie „No Horses“, „On Fire“, „Time Will Destroy Everything“, „Girls Talk“, „The Chemicals“ oder „Destroying Angels“ enthalten sein werden, dann ist lieber gestern als heute der 11. Juni 2021 und damit der Tag der Veröffentlichung des großartigsten Garbage-Albums seit „Version 2.0“. Hört auf meine Worte, Leute – dieses Album hat das Zeug zum Klassiker!

Ich hätte bei Garbage wirklich mit vielem gerechnet. Zum Beispiel damit, dass sie nach „Strange Little Birds“ Gefallen daran gefunden hätten, weiterhin in der eigenen Vergangenheit zu stöbern und daraus ein neues Album zu extrahieren. Oder wieder irgendeinen Pop-Aufguss zu kredenzen, der für eine kurze Weile gut konsumierbar ist, im Rückblick aber als schwacher Ausrutscher gewertet werden würde. Und dann kommen Shirley Manson und ihre Jungs mit „No Gods No Masters“ um die Ecke und wirken dabei so, als hätten sie kurzerhand die letzten rund 20 Jahre als ein Teil einer alternativen Zeitlinie abgetan und mit dem neuen Album direkt an „Version 2.0“ anknüpfen wollen – inhaltliche und akustische Verjüngung inklusive. Diese Platte ist voller Hits, die dem Zeitgeist entsprechen, die mit viel Esprit direkt nach vorn gehen, die voller Ideen stecken, die man in so manchem der letzten Alben vermisst hat, die Ecken und Kanten haben, welche die Idee Garbages in jedem einzelnen Ton atmen – die, kurz gesagt, einfach unheimlich viel Spaß machen!

Cover des Albums No Gods No Masters von Garbage.
Erscheinungsdatum
11. Juni 2021
Band / Künstler*in
Garbage
Album
No Gods No Masters
Label
Stunvolume
Unsere Wertung
4.5
Fazit
Diese Platte ist voller Hits, die dem Zeitgeist entsprechen, die mit viel Esprit direkt nach vorn gehen, die voller Ideen stecken, die man in so manchem der letzten Alben vermisst hat, die Ecken und Kanten haben, welche die Idee Garbages in jedem einzelnen Ton atmen – die, kurz gesagt, einfach unheimlich viel Spaß machen!
Pro
Politisch wie noch nie
So frisch, wild, freidrehend wie schon lange nicht mehr
Beinahe so, als würden sie in einer alternativen Zeitline die Welt nach "Version 2.0" erkunden
Kontra
4.5
Wertung
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