Die Band Wiegand.

Von kritischen Texten, großen Gefühlen und einer Verpackung aus Ohrwürmern: WIEGANDs Album „Arrived.“ vorgestellt

Foto: Klueppi Pictures

Wenn da einer ankommt und mir erklärt, ich möge mich mal mit seiner Musik beschäftigen, weil Einflüsse von Diorama nicht zu leugnen wären und demnach das angepriesene Produkt genau meine Baustelle sein könnte, dann … werde ich pauschal neugierig. Diorama lobe ich regelmäßig in den höchsten Tönen, halte sie für eine ziemliche Ausnahmeerscheinung und finde, dass die Messlatte, die man sich als aufstrebende*r Künstler*in legt, in dem man Vergleiche zur Band aus Reutlingen zieht, ganz schön hoch positioniert ist. So in etwa jedenfalls hat mir Helge Wiegand das nach ihm benannte Projekt WIEGAND, das er zusammen mit Jens Domgörgen (X-Divide, ansonsten auch schon mal Moderator auf einem Szene-Festival) betreibt, schmackhaft machen wollen. Genau weiß ich nicht mehr, was ich dachte, als Helges Mail bei mir eintrudelte, aber die Reaktion könnte in etwa so aussehen haben: Diorama, ja? Na, dann gib mal her, Freundchen! Wollen wir doch mal sehen… Nun, es sollte sich herausstellen, dass Diorama ihr eigenes Feld bestellen, WIEGAND ebenfalls. Warum das eine gute Sache ist, das möchte ich nachfolgend mit Euch mal erarbeiten.

Eine Sache, die mir beim Konsum – oder besser: Genuss – von „Arrived.“, so der Name des Ende Mai 2023 erschienenen zweiten Albums von WIEGAND, direkt schon beim allerersten Hören auffällt: Helge Wiegand verfügt über ein ganz erstaunliches Talent dafür, seine Hörerschaft aus dem Hier und Jetzt herauszureißen, sie auf eine Reise quer durch ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu schicken. Das ist nicht immer ein schönes Gefühl. Kann es auch gar nicht sein. Wer in Abgründe starrt, muss damit rechnen, dass der Abgrund zurückstarrt. WIEGAND spiegelt mit eingängigen Melodien, die sehr mit Pop flirten, aber noch genügend Elemente der Düsterszene beinhalten, um die vermutlich primär angepeilte Zielgruppe anzusprechen. Davon, dass mich die Lieder durch die Bank geohrwurmt haben, ganz zu Schweigen. Zu den pfiffigen, im aktuellen Zeitgeschehen verorteten Texten äußere ich mich gleich. Derzeit bin ich noch wie gefangen vom Track „Alive“.

Meine Tage verbringe ich momentan in einer Tagesklinik für psychosomatische Erkrankungen. Zwischen den einzelnen Tagesordnungspunkten habe ich immer wieder viel, viel Leerlauf, die ich nutzen kann, um, wie in diesem Moment, sie im Aufenthaltsraum im Kellergeschoss der Klinik zu verbringen, auf dem Bette herumzulümmeln, aus dem Fenster zu glotzen und Musik zu hören. Der Blick aus dem Fenster ist ähnlich trostlos wie das Zimmer, in dem ich mich befinde. Ich starre auf einen Plattenbau, an dem sich in schöner Regelmäßigkeit eine Straßenbahn vorbeischiebt. Der Plattenbau starrt unverwandt zurück. In diesen Momenten, von denen es während meines Aufenthalts hier so einige gibt, habe ich sehr viel Zeit, über mein/das Leben, das Universum und den ganzen Rest nachzudenken.

Die Band Wiegand.
Foto: Klueppi Pictures

„Tell me the last time you felt alive? Exhaling freedom from day to night / Tell me the last time you felt complete? / Going on as if nobody cares / It’s just so easy and worth a try“, singt mir Helge gerade via Kopfhörer ins Ohr und vielleicht sticht das gerade ein bisschen in der Herzgegend. Eine Frage ist das nämlich, die ich nicht wirklich beantworten kann. Zuletzt so richtig lebendig gefühlt? Keine Ahnung. Und wie so oft, wenn Musik mich gefangen nimmt, entgleiten mir die Gedanken. Plötzlich sehe ich mich an einer Bahnstation, irgendwo in einem trostlosen Provinzkaff sitzen, bei der es nicht einmal für ein paar überdachte Bänke gereicht hat. Unkraut gedeiht ganz prächtig auf und zwischen den Gleisen. „LEBEN!“ steht groß und breit auf der Anzeigetafel, der das nächste Ziel ankündigt. Einzig – der Zug, er kommt nicht. Und so sitze ich und sitze. Und sitze. Vielleicht kommt er auch nie. Über die Frage, was ich mit dieser Erkenntnis anfange, kann ich sicher noch eine Weile sinnieren.

Ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, bin ich, immer noch mit „Alive“ im Ohr, auf dem riesigen Areal des Universitätsklinikums unterwegs. Gerade komme ich an dem Gebäude der Onkologie vorbei und werde unfreiwillig Zeuge davon, wie zwei Männer in schwarzen Anzügen eine Krankentrage in einen Transporter schieben. Mit einem Rumms, das ich durch die Musik in meinen Ohren hindurch hören kann, knallen die Hecktüren zu. Erst einen Moment später wird mir klar, dass sich auf dieser Trage ein Leichensack befand und sie dort jemanden abgeholt haben, dessen Reise ganz offensichtlich kürzlich zu einem Ende gekommen ist. Betreten wende ich den Blick ab und senke das Haupt. Ich hoffe und wünsche mir gerade, diese fremde Person hat den Zug in Richtung Leben eine Weile befahren können, ehe die Endstation erreicht war. „Impacts are getting closer now / growing old, easier said than done / they maybe reminds us of / that we should cherish every day“, heißt es in der letzten Strophe dieses Liedes. So einfach sang er aus das Wort, doch wie nur, wie, macht man es wahr? Mein seltsam verdrahteter Kopp stellt direkt eine Verbindung zu Kettcar her. „Aufstehen, atmen, anziehen und hingehen / Zurückkommen, essen und einsehen zum Schluss / Dass man weitermachen muss“, singt Markus Wiebusch in „Landungsbrücken raus“ und umschreibt das Gefühl der alltäglichen Tretmühle ziemlich treffend. Tell me the last time you felt alive? Ich erinnere mich nicht, hoffe aber, darauf noch eine Antwort parat zu haben, ehe ich von Männern in Anzügen in Richtung Pathologie gefahren werde.

Feine Produktion trifft auf aussagekräftige Inhalte

Eventuell wurde gerade deutlich, dass mich „Alive“ zwar am meisten persönlich berührt, aber bei weitem nicht als einziges Lied dieses Albums sehr angesprochen hat. Mit dem sich behutsam aufbauenden, fein komponierten, arrangierten und produzierten „The Quiet Thief“, direkt als Einstieg in das Album, wird die Türe gleich zu Beginn ganz weit aufgestoßen. Viel mehr „herzlich willkommen“ in musikalischer Form geht kaum. Es ist das erste, gewiss aber nicht letzte Mal, dass ich denke: och, das ist aber nett! Und das meine ich so positiv, wie nur irgend möglich. Ich erwähnte schon, dass den Songs von WIEGAND eine ordentliche Portion Pop beigemengt wurde, zusammen mit ein bisschen Indie-Electro und FuturePop, hier und da Melancholie in Zuckerwatte gewickelt und alles sehr auf Gefälligkeit getrimmt. Wobei ich zu keiner Zeit das Gefühl hatte, es sei künstlich in diese Richtung geschoben worden oder als sei es auf Gedeih und Verderb gewollt gewesen, das Album möglichst gefällig zu machen. Tatsächlich glaube ich, das ist einfach so drin, in diesem Helge Wiegand, der seine Betrachtungen und Gedanken die Welt betreffend hier in so schöne Musik gegossen hat.

Gut gefällt mir auch das flotte, bisschen mit FuturePop flirtende „Get Informed“, das – man kann es kaum anders deuten – eine schallende Ohrfeige an Gläubige verschiedenster Verschwörungstheoretiker*innen darstellt. Die Strophe: „We are sowing the seeds of doubt, we are questioning everything, twisting the obvious, scientific evidence, we don’t give a shit, they will never compete with youtube university“ hätte mir direkt ein Lachen entlockt – wenn es denn nicht so traurig wäre. Und so gefährlich. Und doch fallen gerade in der Szene, in der sich WIEGAND bewegt, Verschwörungsschwurblerfiguren immer wieder auf die Füße, ganz gleich wie absurd und/oder gefährlich die Gülle war, die diese weiterverbreitet haben. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Meine Therapeutin würde mich jetzt wohl fragen, was das mit mir macht, welches Gefühl da gerade in mir steckt und ich würde wohl antworten: Wut.

„Filter“ spricht ein anderes, nicht weniger fatales Problem an. Social Media, speziell jene Kanäle, in denen sich vornehmlich junge Menschen von Influencer*innen aller Geschmacksrichtungen irgendwas vormachen lassen. Nur um später selbst auf womöglich fatale Beauty-Trips zu gehen. „And I – I’m modeling myself until I shine I fell in love with my online avatar. make me real, leave a like, follow me“, heißt es dort unter anderem. Instagram, Snapchat, TikTok – die Möglichkeit, sich selbst zu verlieren, sich eine Fassade zu erschaffen und/oder dem Leben nur noch in Form von Likes Sinn verleihen zu können, sie sind sehr zahlreich heutzutage. Ein bisschen fühle ich mich auch ertappt, da mein schreibendes Blogger-Ich scheinbar in seltsamer Distanz zu dem Rest draußen in der sogenannten „real world“ gegangen ist. Wichtiges Thema jedenfalls und auch gut verpackt.

Die Band Wiegand.
Foto: Klueppi Pictures

Da ich mit meinem fernschriftlichen Erzählen hier langsam wieder den Umfang des Telefonbuches meines Stadtbezirks erreiche, möchte ich es bei diesen Beispielen belassen. Ihr sollt ja auch noch was zu entdecken haben. Und wahrlich, ich sage Euch – zu entdecken gibt es viel auf WIEGANDs zweitem Album. Gerade denke ich darüber nach, was mir Helge noch erzählt hat, als er mit seiner Mail auf sich aufmerksam machen wollte. Dass er bei besagten Diorama gelegentlich als Live-Keyboarder und Background-Sänger aushilft. Und dass er bei T.O.Y. schon seit Ewigkeiten als Keyboarder tätig ist. Keyboarder stehen in meiner Wahrnehmung immer irgendwie in der zweiten Reihe. Wenn man nicht gerade Felix Marc heißt und als Solokünstler erfolgreich ist, bei Frozen Plasma den Frontmann mimt und den Kreis zu Diorama schließt, ist das oft eine zwar wichtige, aber so insgesamt eher sekundär betrachtete Rolle im Bandgeschehen. Die zweite Reihe war Helge Wiegand offensichtlich nicht genug.

Und damit möchte ich abschließend den Bogen zurück zum Anfang dieses Artikels spannen. Daran, dass ich mit heraufbeschworenen Assoziationen an Diorama geködert wurde. Irgendwie passt das nicht. Diorama gibt es schon so lange und die bestellen ihren eigenen Acker. Wie eingangs erwähnt, tut WIEGAND das auch. Anders, als die Reutlinger Band. Aber, und jetzt kommen wir zur entscheidenden Aussage: nicht weniger unterhaltsam, nicht weniger in möglichen Wunden herumpopelnd, nur auf eine andere, aber nicht weniger gute Weise eingängig. WIEGAND hat den Sprung in die erste Reihe gewagt und meine Empfehlung für Album Nummer 3 wäre, sich nicht hinter großen Namen zu verstecken, auch wenn das einfacher erscheinen mag. Nötig wäre dies meines Erachtens nämlich nicht. „Arrived.“ ist ein sehr passender Titel. Das Projekt ist angekommen und, davon bin ich überzeugt, gekommen, um zu bleiben. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich in Kürze zurück zur Therapie muss. Es wird dies nicht mein letzter Ausflug in die musikalische Welt von WIEGAND gewesen sein und ehe ich gleich meinen Laptop zuklappe, lege ich Euch wärmstens ans Herz, hier auch mal ein Ohr anzulegen. Es könnte sich gelohnt haben.

Cover des Albums Arrived von Wiegand.
Erscheinungsdatum
27. Mai 2023
Band / Künstler*in
WIEGAND
Album
Arrived.
Unsere Wertung
4.3
Fazit
WIEGAND hat den Sprung in die erste Reihe gewagt und meine Empfehlung für Album Nummer 3 wäre, sich nicht hinter großen Namen zu verstecken, auch wenn das einfacher erscheinen mag. Nötig wäre dies meines Erachtens nämlich nicht. „Arrived.“ ist ein sehr passender Titel. Das Projekt ist angekommen und, davon bin ich überzeugt, gekommen, um zu bleiben.
Pro
Sehr eingängig, sehr gefällig und auch sehr schöne Pop-Musik mit immer wieder aufkommenden Pop-Anstrich
Teilweise sehr dem Zeitgeschehen verhaftete Texte, welche den Finger in die Wunde legen
Tolle Produktion, die vermutlich ganz unbewusst gefallen will - und exakt das tut
Kontra
Die Betonung bzw. die englische Aussprache mag etwas sein, das zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Da scheint ein latenter Dialekt mitzuschwingen
4.3
Wertung
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