Lange vor „The Boys“ war „The Authority“ der Maßstab im Verschieben von Grenzen des guten Geschmacks im Superhelden-Genre. Ein Blick in die Deluxe Edition #1 von Panini Comics

Foto: Panini Comics

Höher, schneller, weiter, drastischer – drunter geht es scheinbar heute nicht mehr, um eine (gute?) Geschichte zu erzählen. Als prominentes Beispiel sei hier die Verfilmung der Comicserie „The Boys“ (geschaffen von Garth Ennis und Darick Robertson, erschienen zunächst beim DC-Label Wildstorm, später bei Dynamite Entertainment) genannt. „The Boys“ lässt weder im Comic noch in der Verfilmung, die bei Amazon Prime angeschaut werden kann, irgendeine Geschmacklosigkeit aus. Dabei würden die Geschichten vermutlich auch dann noch prima funktionieren, wenn man da beispielsweise nicht so sehr auf explizite Gewalt und Grausamkeit setzen würde. Ob eine absolute Überzeichnung immer zielführend ist … ich weiß nicht. Sicher bin ich mir da nicht.

Allerdings ist „The Boys“ kein sonderlich neues Phänomen. Ein paar Jahre vor der Erstveröffentlichung von „The Boys“ als Comic im Jahr 2006 gab es bei Wildstorm schon mal eine „Superhelden“-Gruppierung, welche die Grenzen von Moral und Anstand und dem, was im Genre der Superhelden-Comics bis dato machbar war, ein ganzes Stück verschoben hat: The Authority. Geschaffen von Warren Ellis und Bryan Hitch zeigte diese Gruppierung von Superwesen den biederen und braven Teams wie der Justice League ziemlich deutlich, wo der Frosch die Locken hat. Im Gegensatz zu den Figuren der „Boys“, die allermeist richtig einen am Sender haben und vor allem durch mehr oder minder zur Schau gestellte Bösartigkeit ganz eigene Ziele verfolgen, war die Authority zur Jahrtausendwende grundsätzlich noch im Dienste der guten Sache unterwegs. Allerdings schreckte die Authority, zunächst unter der Leitung von Jenny Sparks (dem Geist des 20. Jahrhunderts) nicht vor außerordentlich drastischen Maßnahmen zurück. Grausames Zerfetzen von gegnerischen Frauen und Männern ist das eine, Massenmord in Form von kompletter Auslöschung ganzer Länder das andere. Vermutlich wären Dinge wie „The Boys“ nicht (oder zumindest nicht so) entstanden, wenn „The Authority“ Ende der 1990er-Jahre nicht schon einmal Grenzen neu ausgelotet hätte. Panini Comics veröffentlicht die Serie nun in schicken Hardcover-Sammelbänden, die erste Ausgabe dieser Deluxe Editionen habe ich mir gerade zu Gemüte geführt.

Ein paar der US-Originalausgaben von „The Authority“ habe ich hier sogar noch herumliegen. Damals, in meiner ersten großen Comicphase, war die Aufregung um die von Warren Ellis (nicht zu verwechseln mit dem Musiker Warren Ellis, der mit Nick Cave zusammen wunderbare Musik macht) geschaffene (Anti-)Superheldenserie groß. Allein schon wegen der diversen Charaktere, die Ellis geschaffen hatte. Neben der ziemlich ruchlosen Jenny Sparks bevölkerten Jack Hawksmoor (ein Mann, der mit der Seele von Städten kommunizieren kann), Midnighter und Apollo (ein schwules Paar, bei denen mehr als offensichtlich Batman und Superman als Vorbilder dienten) oder auch The Doctor (ein ganz merkwüriger, schamanenartiger Geselle) die bunten Panels. Panels voller Zeichnungen übrigens, die damals sehr schön anzusehen waren und hervorragend gealtert sind. Beim Lesen der ersten 8 Hefte, die dieser Sammelband vereint, fiel mir auf, wie gut die Zeichnungen, wie schön plastisch die Farben auch heute, mehr als 20 Jahre später, noch anzusehen sind.

Und auch die Geschichten selbst sind gut gealtert. Zunächst bekommt es die Authority, die durchaus mit einem politischen Mandat in der Hinterhand tätig ist und sich nicht einfach nur dank der den Mitglieder*innen eigenen Superfähigkeiten legitimiert, mit dem Inselstaat Gamorra zu tun. Dessen Führung hat es sich zum Ziel gesetzt, Terror und Schrecken zu verbreiten. In zweiten Teil des Buches betritt ein anderes Völkchen die Bildfläche. Eines, das von einer Parallelwelt kommt und dessen Obermotz den Plan verfolgt, zur Wahrung und Aufrechterhaltung der eigenen Blutlinie die ganze Welt zu versklaven – und zu einer Vergewaltigungskolonie unfassbaren Ausmaßes zu machen. Logisch, dass Jenny Sparks und ihre Gang da nicht tatenlos zusehen und dank der ihnen verliehenen Autorität alle Hebel in Bewegung setzen, um das Unheil abzuwenden. Und ich meine wirklich alle. Die Splatter-Bilder, wenn beispielsweise Jack Hawksmoor wieder einen seiner Gegner in einen blutigen Haufen aus Blut, Knochen und Gedärmen verwandelt hat, schockieren heute vermutlich nicht mehr so sehr. Sind aber immer noch unappetitlich genug. Dass Jenny und ihre Truppe aber nicht davor zurückschrecken, zur Rettung ihrer Welt einen halben Kontinent absaufen zu lassen, ohne dabei auch nur einen Gedanken darüber zu verschwenden, ob nicht eventuell, unter Umständen und vielleicht auch unschuldige Zivilisten auf eben jenem Landstrich verweilen, das war damals hart und das ist es noch heute. Wie gesagt, lange bevor etwa ein Homelander ein Passagierflugzeug abstürzen ließ, voller Frauen, Männer und Kinder, gab es die Authority, die mit drastischen, rabiaten Mitteln ihre Ziele zu erreichen versuchte.

Wenn manche Dinge heute nicht mehr so schocken oder so reinknallen, wie es vielleicht noch zur Zeit der Erstveröffentlichung der Fall gewesen ist, dann liegt das möglicherweise auch daran, dass die Grenzverschiebung, welche durch „The Authority“ im Superhelden-Genre vorgenommen wurde, von nachfolgenden Werken wie eben „The Boys“ immer wieder erweitert wurde. Dennoch gehört „The Authority“ zu den großen Klassikern des Genres. Und komprimiert in einem Sammelband, das acht US-Hefte in sich vereint, kommt nach wie vor rasantes, spannendes und sehr kurzweiliges Lesevergnügen auf. Wer das bisher verpasst hat, bekommt dank Panini nun wieder die Gelegenheit, dieses Stück Comicgeschichte in einer schicken Deluxe Edition nachzuholen. Denn: nach fast einem Vierteljahrhundert ist „The Authority“ noch immer eine ebensolche im Superhelden-Genre.

Erscheinungsdatum
31. Oktober 2023
Verlag
Panini Comics
Zeichnungen
Bryan Hitch
Inhalt
Warren Ellis
Storys
The Authority 1–8
Seiten
204
Unsere Wertung
4.2
Fazit
Wenn manche Dinge heute nicht mehr so schocken oder so reinknallen, wie es vielleicht noch zur Zeit der Erstveröffentlichung der Fall gewesen ist, dann liegt das möglicherweise auch daran, dass die Grenzverschiebung, welche durch „The Authority“ im Superhelden-Genre vorgenommen wurde, von nachfolgenden Werken wie eben „The Boys“ immer wieder erweitert wurde. Dennoch gehört „The Authority“ zu den großen Klassikern des Genres. Und komprimiert in einem Sammelband, das acht US-Hefte in sich vereint, kommt nach wie vor rasantes, spannendes und sehr kurzweiliges Lesevergnügen auf.
Pro
"The Authority" gehört einfach zu den Klassikern des Superhelden-Genres und hat dieses für immer verändert
Story, Zeichnungen, Farben - all das funktioniert nach fast einem Vierteljahrhundert immer noch hervorragend und sieht immer noch top aus
Diese Deluxe Edition im Hardcover-Einband bietet mit 8 US-Heften einen satten Umfang
Wer "The Authority" bisher verpasst hat, bekommt jetzt noch einmal eine prima Gelegenheit, diesen Meilenstein nachzuholen
Kontra
Ich bin nicht abschließend sicher, ob die Bindung dieses Hardcovers den Test der Zeit überstehen wird oder ob nicht vorher seiten lose werden. Die Bindung wirkt von eher minderer Qualität, dafür kostet das Buch in dieser Größe und bei dem Umfang auch nicht so viel, wie es kosten könnte
4.2
Wertung
Vorheriger Artikel

Braindance, Blackout und kein Loskommen von persönlichen Fesseln: „Cyberpunk 2077 – Blackout“ macht eine kleine Geschichte ganz groß

Nächster Artikel

Charakterstudien in der Dunkelheit: „Batman – Detective Comics Sonderband – Gotham Nocturne“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lies als nächstes