Die Band Solitary Experiments. Die fünf Männer stehen in einer Art Durchgang, die an Verbindungsgänge großer Flughafen erinnert.

Musikvorstellung: Solitary Experiments – Transcendent

Quelle: Out of Line

Ich ziehe durch die Straßen bis nach Mitternacht, hab das früher auch gern ge- … okay, okay, ich höre ja schon auf. Tatsächlich bin ich aber gerade noch mal raus. Ich habe mir meine Jacke übergeworfen und bin bei viel zu warmen, in diesem Moment aber angenehmen 15 Grad vor die Türe und damit in die Magdeburger Nacht getreten. Die AirPods und damit die neue Platte von Solitary Experiments im Ohr. Ich möchte noch eine Runde um den Block drehen, die Musik auf mich wirken lassen. Den Kopf freibekommen vom Arbeits- und Alltag und mal an nichts weiter denken als vielleicht darüber, was uns die Herren mit dem Albumtitel „Transcendent“ wohl mitteilen wollen.

Der Opener „Wonderland“ jedenfalls geht schon mal gut ins Ohr – und in die Beine. Ich laufe viel schneller durch die eher spärlich beleuchteten, nächtlichen Straßen meines Viertels, als ich es eigentlich im Sinn hatte. Vorbei an Altbaufassaden, deren größter Schmuck die Graffiti sind, die Schmierfinken dort angesprüht haben. Alle Menschen sind gleich, aber manche sind gleicher als andere, steht da an einer Hauswand geschrieben. Stimmt, denke ich und will mich gerade in entsprechende Gedankengänge vertiefen, werde aber von Dennis Schober ziemlich schnell zurück ins Hier und Jetzt geholt, während er in dem famos-melodischen „Wonderland“ Dinge singt wie „Since the day I lost / My belief in dreaming / It’s a breach of trust / And life has no meaning / Anything I feel / Doesn’t make me happy / That’s the way it goes / I messed up so badly“. Ja, scheiße. Plötzlich bin ich wieder drin in der Gedankenspirale, erinnere mich an den August dieses Jahres zurück, als ich in einem Anfall kompletter Überforderung und Verlorenheit dachte, die Blogger-Tätigkeit einstellen zu müssen. I messed up so badly.

Solitary Experiments - Wonderland (Official Music Video)

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Ein leichter Wind kommt auf und immer wenn ich kurz mal den Fokus von der Musik in meinem Ohr löse, staune ich, wie gut es funktioniert, sich völlig ziellos und scheinbar nur von den eigenen Füßen durch die Nacht leiten zu lassen. Gerade marschiere ich neben Straßenbahnschienen her, eine hohe, einigermaßen hässliche Schallschutzmauer trennt den Plattenbau dahinter von den Gleisen und der Hauptstraße daneben. Selbstverständlich sind die Straßenlaternen auf der anderen Straßenseite und damit in einer Entfernung von wenigstens 50 Metern. Es fühlt sich an, wie nicht nur mit den Schatten zu verschmelzen, sondern selbst zu einem zu werden. Es läuft „Every Now And Then“. Für mich die Nummer des Albums mit dem größten Identifikationspotenzial.

Geht gut ins Ohr …

Gekleidet in softe, futurepopige Mucke mit eingebautem Ohrwurm, trifft mich der Text im Inneren, verursacht so ein ganz leichten Schmerz in der Herzgegend. „Protect me from the evil / Save me from myself // Hold me tight never let me down / I need a place where I feel safe and sound / Open your eyes and you will see / The world that we live in is for you and me“ singt der Schober und erzeugt ein Gefühl, das sich nur schlecht greifen und noch schlechter in Worte kleiden lässt. Aber wie ich da so diese dunkle Straße entlang laufe, mich langsam dem Licht und damit einer Straßenbahnhaltestelle nähernd, kommt mir so ein Gedanke, was Solitary Experiments mit „Transcendent“ gemeint haben könnten.

Übersetzt bedeutet „Transcendent“ so viel wie überweltlich, metaphysisch. Nach Kant: sinnliche Wahrnehmung, Erfahrung und Bewusstsein übersteigend, übernatürlich, metaphysisch. Oder einfach nur göttlich. Und der rote Faden, der sich durch die allermeisten Texte dieses Albums zieht, ist die Suche nach einer Hand, die die eigene hält und durch, wie auch immer geartete, schwere Zeiten hilft. Ich würde nicht so weit gehen und dem Album der Berliner Elektroappelle Spiritualität oder ernsthaft religiöse Motive unterstellen wollen. Gleichwohl wäre es bei all der Scheiße in der Welt, die gleichzeitig passiert und die zur Überforderung einlädt, angefangen bei dem Krieg in der Ukraine über die Pandemie, die wieder Fahrt aufnimmt bis hin zur alles überschattenden Klimakatastrophe, wenig verwunderlich, wenn sich auch Solitary Experiments nach einer Stütze sehnen, die sie durch diese Tage bringen. „Willkommen in unserer Welt / wo alles zusammenfällt / und nur noch das Schicksal zählt / wir haben es selbst gewählt“, singt Dennis Schober gerade. Es läuft das Stück „Zeitgeist“ (wie treffend!), eine der Nummern, für die sie sich Verstärkung eingeladen haben. In diesem Fall Dirk Ivens, landläufig bekannt als Dive. Mit dem Ergebnis, dass diese Nummer eher härter wirkt und das gewohnte Klangspektrum der Berliner Band immens erweitert.

Die Band Solitary Experiments. Die fünf Männer stehen vor einem metallischen Hintergrund, der an ein großes Tor erinnert.
Quelle: Out of Line

Ich glaube, ich habe mich inzwischen verlaufen. Die Straßen, durch die ich gerade gehe, kommen mir unbekannt vor. Ein paar fahle Straßenlaternen schauen desinteressiert auf mich herab, während, bedingt durch den Wind, ein paar vorwitzige Bäume ihr buntes Laub nach mir werfen. Ich hänge immer noch dem Gedanken nach, dass „Transcendent“ neben all der Eingängigkeit, dem gelungen Spagat aus gewohnt und doch irgendwie neu, einen latent spirituellen, religiösen Touch haben könnte. Vielleicht wollen Solitary Experiments selbst auch gar nicht die göttliche Handreichung finden, sondern, in übertragenem Sinne, mit ihrer Musik selbst die Hand ausstrecken, um ihrer Hörerschaft durch eine beschissene, gesellschaftliche Gesamtsituation zu helfen?

Spekulieren kann man viel, wenn die Nacht lang ist, aber dieser Gedanke ist wie Energie, die, einmal erzeugt, auch nicht mehr aus der Welt zu bekommen ist. Gerade läuft das Titelstück, welches eine rein instrumentale Nummer ist, und in vielerlei Hinsicht zum Verweilen einlädt. Ich setze mich für einen Moment auf eine Mauer, die ein Wohnhaus umrahmt, checke auf dem Handy meine Position, und starre dann hinauf in den wolkenlosen Nachthimmel. Über mir hängt der Große Wagen und interessiert sich null für die Dinge auf unserer Welt. Da hier niemand in meine Gedanken hinein quatscht – oder singt – lasse ich sie unkontrolliert und ungebremst treiben. Ich erinnere mich der Dinge der letzten paar Jahre, an die Ausfahrten, die ich genommen habe, die Abbiegungen, die offensichtlich die falschen waren und so weiter, und fühle mich erschlagen. Dieser Moment des ungebremsten Gedankenschweifens hat etwas sehr kathartisches. Und vielleicht sind meine Augen ein wenig feucht, wie ich da so sitze, auf dieser mir fremden Mauer in einem Teil meines Viertels, das ich überhaupt nicht kenne. Sicher war es aber nur ein Insekt, was mir durch die Brille hindurch ins Auge geflogen ist. Kann nicht anders sein.

Solitary Experiments - Every Now And Then (Official Music Video)

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Der größte Teil der rund einstündigen Spielzeit des Albums ist herum und ich beschließe, mich wieder auf den Rückweg zu machen. Gerade läuft „Self-Fulfilling Prophecy“. „Is this all I’ll ever be? A self-fulfilling prophecy?“, trompetet mir Dennis gerade ins Ohr. Dieses vermaledeite Lied zwingt mich schon wieder zu einer Retrospektive auf mein eigenes Leben. Die Dinge, die sich in den letzten Jahren so ereignet haben, das regelmäßige Scheitern und wieder aufstehen, Staub ausklopfen und weitermachen. Und mit jedem Fehlversuch dieser nagende Zweifel, der das Selbstbewusstsein Stück für Stück auffrisst, bis man sich selbst nur noch das Scheitern zutraut. Eine selbst erfüllende Prophezeiung eben.

…und bleibt dort

Inzwischen bin ich zurück am Schreibtisch und versuche, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Vorhin waren da noch so viele Dinge, Ideen und Gedanken, die es über dieses Album zu sagen gäbe. Da ich aber nicht den Umfang des Telefonbuchs von Magdeburg mit dieser Review erreichen möchte, vielleicht noch so viel: „Transcendent“ ist ein Album, das unbedingt gefallen möchte. Ich kann daran nichts Verwerfliches finden. Wenn ich etwas hören möchte, was mir auf den Sack geht, dann lausche ich dem lieblichen Gesang von Laubbläsern. „Transcendent“ ist eingängig, es ist gut produziert, es hat hier und da ein paar spannende Gäste (neben dem Ivens auch Elena Fossi von Kirlian Camera), es geht gut ins Ohr und weiß über die gesamte Spielzeit von 11 Songs bzw. 55 Minuten gut zu unterhalten. Na, was will ich denn noch?

Ferner glänzt das Album je nach gewählter Ausstattung oder, sofern via Streaming konsumiert, mit einem fetten Bonuspaket. Da ist einerseits die, ich nenne sie mal so, „klassische“ Bonus-CD. Da sind die üblichen B-Seiten und Remixe drauf, allermeist durchaus hörbar und als Ergänzung zum eigentlichen Werk sehr gelungen. Aber im Vergleich zu „La Voix De La Femme“ eben nicht mehr als das: die klassische Beigabe.

„La Voix De La Femme“ hingegen ist noch mal ein ganz anderer Schnack. Neun Songs finden sich auf diesem Mini-Album, auf dem einige Songs aus dem Hause Solitary Experiments von verschiedensten Sängerinnen interpretiert werden. Da ist unter anderem der ewig grüne Klassiker „Delight“, hier interpretiert von Julia Beyer! Leute! Julia! Ich hab’ noch im Kopf, wie sie mal sagte, dass sie nie wieder vor ein Mikrofon … – egal, Schnee von gestern! Die Frau, die neben Chandeen auch diversen anderen Projekten der Düsterszene immer mal wieder ihre Stimme lieh (ich denke an Rotersand, ich denke an Mesh oder an die Patenbrigade: Wolff), kann es noch und lässt „Delight“ so wirken, als wäre es immer schon ihre Nummer gewesen. Sensationell, sag’ ich mal!

Oder „Now Or Never“ mit Anja Adam von Adam is a Girl. Nicht weniger großartig. Bisschen witzig finde ich das schon, dass sie diese Nummer intoniert, ist doch „Now Or Never“ auch der Name des letzten Albums von Adam is a Girl. Hach, dieser wunderbare Zauber der Melancholie, dieser gekonnte Spagat zwischen federleicht und in den Abgrund ziehend … ich halte Anja ja für eine der spannendsten Stimmen in der (Düster-)Szene, aber das ist auch ein offenes Geheimnis, seit sie erstmals mit ihrer Band auf der Bildfläche auftauchte.

Die Beiträge von Mari Kattman, Omnimar, Schmoun und all den anderen: nicht weniger gefällig! „La Voix De La Femme“ ist ein höchst spannendes, zumal gelungenes Experiment und kann ganz wunderbar neben dem beachtenswerten Hauptalbum bestehen. Und das auch losgelöst von diesem.

Es ist inzwischen nach Mitternacht und eigentlich müsste ich den Laptop so langsam mal zuklappen und schlafen gehen. Morgen früh fordern wieder andere Dinge meine Aufmerksamkeit, nicht zuletzt dieser Job im echten Leben, der diesen Blog quasi mitfinanziert. Und doch muss noch ein abschließendes Fazit in die Welt geschrieben werden. Würde man große Würfe einer Band irgendwie messen können, man würde „Transcendent“ ganz, ganz weit vorn in der Diskografie von Solitary Experiments wiederfinden. Neben dem Umstand, dass es musikalisch schlicht zu unterhalten weiß, absolviert es noch eine Sache mit Bravour: Die Hand, die einem entgegengestreckt wird, die man nur zu ergreifen braucht, damit Dinge etwas weniger schwer sind, die finden die dafür empfänglichen Menschen in der Musik. In Musik, wie sie Solitary Experiments auf „Transcendent“ geschaffen haben. Und jetzt frage ich Euch: Was mehr muss ein Album schaffen können?

Cover des Albums "Transcendent" von Solitary Experiments.
Erscheinungsdatum
28. Oktober 2022
Band / Künstler*in
Solitary Experiments
Album
Transcendent
Label
Out of Line
Unsere Wertung
4.1
Fazit
Würde man große Würfe einer Band irgendwie messen können, man würde „Transcendent“ ganz, ganz weit vorn in der Diskografie von Solitary Experiments wiederfinden. Neben dem Umstand, dass es musikalisch schlicht zu unterhalten weiß, absolviert es noch eine Sache mit Bravour: Die Hand, die einem entgegengestreckt wird, die man nur zu ergreifen braucht, damit Dinge etwas weniger schwer sind, die finden dafür empfängliche Menschen in der Musik. In Musik, wie sie Solitary Experiments auf „Transcendent“ geschaffen haben.
Pro
Ein stimmungsvolles, gut produziertes Album, das in den kommenden Tagen der Dunkelheit ein Licht sein kann
"Transcendent" möchte gefallen und diese Anstrengung gelingt mit Bravour
Spannende, musikalische Verstärkung mit spannenden Auswirkungen auf den Sound
Je nach gewählter Edition: "La Voix De La Femme" mit all seinen weiblichen Gaststars ist eine ganz große Klasse für sich!
Kontra
4.1
Wertung
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