Cover des Comics Marvel Must-Have: Marvel 1602 Cover von Panini Comics.

Neil Gaimans und Andy Kuberts zeitloses Meisterwerk neu aufgelegt: „Marvel Must-Have: Marvel 1602“

Foto: Panini Comics

Die Überlegung „was wäre, wenn“ kennen wir alle. Ich gehe jede Wette ein, dass sich alle von Euch schon so manches Mal die Frage gestellt haben, was wohl wäre, wenn man sich früher im Leben für eine andere Option entschieden hätte als die, die es dann tatsächlich geworden ist. Im Comic-Bereich wird die Frage regelmäßig gestellt. Wahrscheinlich prominentestes, weil aktuellstes Beispiel sind die beiden Staffeln von Marvels „What If…?“, die man sich bei Disney+ anschauen kann. Dabei ist die Idee, bekannte Figuren neuen Betrachtungen zu unterziehen, losgelöst von irgendwelchen Kontinuitätsdingen, ein ziemlich alter Hut. Und auch die Geschichte, die von Panini Comics im Rahmen ihrer Marvel Must-Have-Serie neu aufgelegt wurde, hat mittlerweile auch schon mehr als 20 Jahre auf dem Buckel. „Marvel 1602“ erschien 2003 und wurde von einem – in jeder Hinsicht – fantastischen Team geschaffen: Neil Gaiman, einer der besten lebenden Fantasy- & Comic-Autoren (die Liste seiner Werke ist lang und gut; als Beispiel sei hier seine Comicreihe „Sandman“ (derzeit als Adaption bei Netflix zusehen) oder das Buch „American Gods“ (ebenfalls als Serie umgesetzt) genannt) schrieb die Geschichte, Andy Kubert (Preisträger des British Fantasy Award für „Whatever Happened To The Caped Crusader?“ als beste Graphic Novel, ebenfalls geschaffen in Zusammenarbeit mit Neil Gaiman) lieferte die wunderbaren Bilder dazu.

Als Neil Gaiman im Sommer 2001 zusagte, eine Geschichte für Marvel zu schreiben, war er schon längst ein Superstar im Bereich der Fantastik – aber auch als Comicautor. „Sandman“ hatte große Wellen geschlagen, zudem kamen diverse Kooperationen mit anderen Schwergewichten der Szene (etwa mit Todd McFarlane („Spawn“) bei der Miniserie „Angela“ im Jahre 1995). Und dann waren da ja auch noch seine Romane wie „Neverwhere“ (1996) oder die Zusammenarbeit mit Terry Pratchett an „Good Omens“ (1990). Lange Rede, kurzer Sinn: Wer Gaiman damit beauftragt, eine Geschichte für seine Figuren zu schreiben, weiß im Vorfeld schon, dass sie alles sein wird – nur niemals gewöhnlich. Eine klassische Hau-drauf-Superheldenorgie war nicht zu erwarten. Doch noch ehe Gaiman seine Arbeit wirklich umsetzen konnte, ereigneten sich die Anschläge vom 11. September 2001 und die Welt, die wir alle bis dahin kannten, war für immer verändert. Verständlich, dass Gaiman infolgedessen keine Lust hatte, etwa die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft durch die Straßenschluchten New Yorks schwingen zu lassen. „Keine Wolkenkratzer. Keine Bomben. Keine Schusswaffen. Ich wollte nicht, dass es eine Kriegsgeschichte wird, und ich wollte keine Geschichte schreiben, in der das Recht des Stärkeren galt – oder in der Stärke irgendetwas galt“, ist im Nachwort von Gaiman zu lesen. Stattdessen entwickelte sich die Idee, die Handlung 400 Jahre in die Vergangenheit zu legen und bekannte Figuren darin auftauchen zu lassen – teilweise so, wie wir sie in der Jetzt-Zeit auch erleben, teilweise aber auch komplett neu interpretiert.

Ich möchte bezüglich der Handlung an dieser Stelle gar nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Die 236 Seiten sind aber derart spannend und – wenig überraschend – so mitreißend geschrieben, dass man diesen Comic erst aus der Hand legt, nachdem man durch ist. Es ist zu vergnüglich zu lesen, wie sich Sir Nicholas Fury und Doctor Stephen Strange, als enge Vertraute und Ergebene von König Elisabeth I. mühen, ein großes Übel abzuwenden, was, wie sich im Verlaufe der Geschichte herausstellen soll, das Ende allen Seins bedeuten könnte. Es bereitet nahezu diebische Freude, Carlos Javier und seine Hexenbrut bei ihrem Tun, inmitten „normaler“ Menschen nicht aufzufallen, abmühen und Unterschlupf in einer besonderen Schule suchen. Dann ist da noch ein blinder, aber sehr akrobatischer Barde, die gefährlichste Frau Europas, vier ziemlich fantastische Gestalten – und ein junger Mann namens Peter Parquagh, seltsam fasziniert von Spinnen. Ich bin mir sicher, viel besser, als es dem dynamischen Duo Gaiman und Kubert hier gelungen ist, hätte man Figuren und Teams wie die X-Men, die fantastischen Vier, Dare Devil, Black Widow, Wanda Maximoff und viele weitere nicht in die Zeit von Inquisition, Hexenverbrennung und politischer Ränkespiele verlegen können. Zudem zieht auf sehr fatale Weise ein ebenfalls nur allzu vertraut wirkender Graf Otto von Doom im Hintergrund die Fäden. Bei alledem, was in diesem Comic so passiert – zeitgleich, parallel und auf verschiedene Kontinente verteilt – spielt auch das Mädchen Virgina Dare eine sehr zentrale Rolle. Der Legende nach das erste Kind, das in der neu gegründeten Kolonie Roanoke geboren wurde. Um Roanoke ranken sich zahlreiche Legenden, daher ist es kaum verwunderlich, dass Gaiman hier diese Thematik aufgreift. Ihr erinnert Euch vielleicht, in „Batman / Spawn: Dämenfluch“ diente auch die Legende von Roanoke als Grundstein für die gesamte Handlung. Die Geschichte ist, anders kann ich es nicht benennen, einfach ultraspannend und fesselnd und kommt – ganz Gaimans ursprünglicher Vorstellung entsprechend – ohne übertriebene Action aus. Das heißt nicht, dass es gar keine gibt. Aber im Vergleich zu anderen (Marvel-)Comics ist das hier alles um ein paar Gänge heruntergefahren. Viel mehr fühlte ich mich aufgrund des spätmittelalterlichen Settings, des Ränkeschmiedens von Königen (und solchen, die es gerne wären) sowie der Inquisition usw. mehr an Filme bzw. Bücher wie „Der Name der Rose“ erinnert. Inhaltlich passt das also.

Die tollen Zeichnungen von Andy Kubert stehen dem in nichts nach. Die Bleistiftzeichnungen wurden hier nicht erst getuscht, um Konturen schärfer zu gestalten, sondern direkt von Richard Isanove koloriert. Mit dem Ergebnis, dass wir hier wahnsinnig stimmungsvolle Bilder genießen können. Man sieht die Fackeln in den dunklen Gassen und Gängen förmlich flackern. Auch ohne, dass Namen genannt werden, wird relativ schnell klar, um welche*n Held*in es sich handelt, sobald eine neue Figur erstmals die Szene betritt. Es mögen nicht die actionreichsten Bilder sein, die je in Panels gebannt wurden – sie gehören aber ganz gewiss zu den atmosphärischsten! „Leider“ hatte ich gar nicht so viel Zeit, die Augen auf den schönen Zeichnungen verweilen zu lassen – schließlich musste ich zwingend immer weiterleisen, weil ich einfach wissen wollte, um was für ein gar schreckliches und Welten beendendes Ungemach es sich handelte, und wie es noch abgewendet werden sollte. Luxusprobleme, ich sags Euch.

„Marvel 1602“ hat, wie bereits eingangs schon erwähnt, 20 Jahre auf dem Buckel. Gut möglich, dass viele Comicfans diese Story mittlerweile längst goutiert bzw. in der ein oder anderen Ausgabe schon in der Sammlung haben. Wer das bis jetzt verpasst hat, aus welchen Gründen auch immer, oder schlicht noch zu jung ist, um vor 20 Jahren schon dabei gewesen zu sein, bekommt dank der Neuauflage einmal das komplette Meisterwerk in schmucker Darreichungsform serviert. Eine, wie ich finde, nach wie vor irre spannende und gut erzählte Geschichte, die zur Pflichtlektüre von Comicfans allgemein und Marvel-Fans ganz besonders gehört. Für mich immer noch einer der besten Marvel-Comics jemals. Und wenn man damit durch ist, kann man sich mit weiteren Comics beschäftigen, die aus diesem Ausflug ins Jahr 1602 hervorgegangen sind. Spider-Man oder die Fantastic Four haben jeweils eigene Ableger bekommen. Aber das möglicherweise ein Thema für einen anderen Artikel. Beide Daumen hoch für diesen zeitlosen Klassiker!

Cover des Comics Marvel Must-Have: Marvel 1602 Cover von Panini Comics.
Erscheinungsdatum
19. Dezember 2023
Verlag
Panini Comics
Zeichnungen
Andy Kubert
Inhalt
Neil Gaiman
Storys
Marvel 1602 1-8
Seiten
236
Unsere Wertung
4.5
Fazit
„Marvel 1602“ hat, wie bereits eingangs schon erwähnt, 20 Jahre auf dem Buckel. Gut möglich, dass viele Comicfans diese Story mittlerweile längst goutiert bzw. in der ein oder anderen Ausgabe schon in der Sammlung haben. Wer das bis jetzt verpasst hat, aus welchen Gründen auch immer, oder schlicht noch zu jung ist, um vor 20 Jahren schon dabei gewesen zu sein, bekommt dank der Neuauflage einmal das komplette Meisterwerk in schmucker Darreichungsform serviert. Eine, wie ich finde, nach wie vor irre spannende und gut erzählte Geschichte, die zur Pflichtlektüre von Comicfans allgemein und Marvel-Fans ganz besonders gehört.
Pro
Fantastische und sehr spannende Geschichte, die bekannte Figuren und Teams in eine Welt vor 400 Jahren wirft und sie auf teilweise ganz neue Weise interpretiert
Obwohl die Story schon 20 Jahre alt ist, hat sie nichts an Spannung oder Faszination verloren
Neil Gaiman ist einfach einer der besten Fantasy-Autoren jemals und zeigt hier einmal mehr, was er kann
Die Zeichnungen von Andy Kubert, zusammen mit den Farben von Richard Isanove, sind sehr stimmungsvoll und saugen Lesende förmlich hinein in die Panels
Kontra
4.5
Wertung
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