Cover des Albums Heron von Heron.

Musikvorstellung: Heron – Heron

Foto: O*Rs

Die 80er-Jahre haben angerufen, sie wollen ihr Album zurück! So oder ähnlich könnte man das selbst betitelte Debütalbum des Leipziger Newcomer-Duos Heron zusammenfassen und hätte im Prinzip schon das wichtigste gesagt. Ein bisschen weiter ausholen möchte ich an dieser Stelle dennoch, denn wenig macht mir hier im Blog so viel Freude, wie auf vielversprechende Neulinge aufmerksam zu machen. Und noch eine Sache kann ich eigentlich direkt schon vorwegschicken: Wessen Herz sich für den Pop-Sound der 80er-Jahre auch nur ansatzweise erwärmt, wird mit „Heron“ so gut bedient wie schon lange nicht mehr. Steile These: vielleicht kommt 2023 auch einfach kein Album mehr, dass den Geist des schillerndsten Jahrzehnts der Musikgeschichte so atmet wie dieses. Warum das so sein könnte, das möchte ich nachfolgend mal versuchen zu ergründen.

Von Heron habe ich Euch hier schon verschiedentlich erzählt, möchte Euch aber dennoch noch einmal kurz ins Boot holen. Heron besteht aus Birthe Kleemann (Texte und Gesang) und Tino Kulisch (die ganze Klangtüftelei). Beide residieren in Leipzig, dort haben sie sich auch kennengelernt, stammen aber eigentlich aus anderen Ecken des Landes. Birthe singt und steht seit Kindertagen auf der Bühne, hat in verschiedensten Musikprojekten mitgewirkt und stand auch bei der Indie-Band I Heart Sharks als Backgroundsängerin mit auf der Bühne. Ein Unterfangen, das ziemlich holprig zu einem Ende kam, wie sie in einem Interview verriet.

Tino kommt eigentlich aus Altenburg, ist studierter Tontechniker und verdient seine Brötchen unter anderem als Dozent zum Thema Sounddesign, Arrangement, Remix, Produktion. Zuletzt war Tino in der Band Götterscheiße aktiv. Beide Protagonisten eint die Liebe zur Musik. Die gemeinsame Leidenschaft entdeckten sie eines späten Abends im Leipziger Seeblick, einer Szenekneipe in der Leipziger Südvorstadt. Birthe jobbte dort an der Bar, Tino ist an eben dieser hängengeblieben, es wurde spät, man philosophierte über Musik, diesdas. Zur Geburt von Heron wird folgende, sehr hübsche Anekdote überliefert: Tino soll eines Abends auf dem Bett seiner Freundin gesessen haben, während diese im Bad „mir wächst ein graues Haar“ vor sich hingesungen hatte. Soundtüftler, der er nun einmal ist, hat Tino das aufgenommen, gesampled, daran herumgeschnitten, bissken Instrumente drüber und dann an Birthe geschickt. Nur wenig später kam eine Sprachnachricht von Birthe in Retour. Darin enthalten: über die spontane Improvisation, eine nicht minder spontan improvisierte Melodie und ein bisschen Text. Fertig. Der Startschuss für die gemeinsame Unternehmung Heron war gefallen.

Spontaneität ist immer noch im Tun von Heron zu finden. Birthe erklärte in einem Interview, dass sie im Vorfeld nicht wirklich einem bestimmten Konzept oder einer konkreten Idee folgt, wenn sie Texte usw. entwickelt, sondern sich von einem inneren Gefühl, das die Musik in ihr auslöst, leiten lässt. Zunächst, so sagt sie, entstünde eine Art Kauderwelschenglisch bis sie für sich erkannt hat, in welche Richtung die Reise gehen soll. Spontaneität und Improvisation sind aber auch in der Produktion quasi feste Bestandteile. So entstand das komplette Album in Birthes Küche. In dem mir vorliegenden Interview erklärt Tino dazu, dass es kein Tonstudio mehr brauche, wenn man mit gutem Equipment und guten Mikrofonen arbeite und wisse, wie man damit intonieren müsse. Und in einer Umgebung aufzunehmen, in der man sich wohlfühle, sei auch schon die halbe Miete, da sich so sehr viel mehr Seele transportieren ließe.

Und wie hört sich dieses musikalische Süppchen nun an, das Birthe und Tino in einer Leipziger Küche geköchelt haben? Ich will es mal so sagen: Im Programm von 80s80s, einem Radiosender, der sich ausschließlich auf die Mucke der 1980er-Jahre spezialisiert hat und bei dem unter anderem der ehemalige Formel-Eins-Moderator Peter Illmann die Morgensendung moderiert, könnten die auf „Heron“ versammelten zehn Songs ganz bequem mit in die Playlist integriert werden. Würde man es niemandem sagen, es fiele vermutlich nicht auf, dass die Songs eben nicht aus den 80ern stammen, sondern neu sind.

Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft haben, aber ausnahmslos jeder Track auf dieser Bude glitzert und funkelt und schimmert in den schillerndsten Neonfarben und steckt so voller Anleihen und musikalischer Zitate aus jener Zeit, dass es für Fans eine wahre Wonne ist. Als jemand, der in den 80ern aufgewachsen ist und sein Herz für immer an den Sound jener Tage verloren hat, würde ich in diesem Album baden, wenn ich nur könnte. Und anschließend das Badewasser saufen.

Von Boy meets Girl über Pop und Wave bis Miami Sound Machine – so viel reanimieren Zeitgeist der 80er erlebt man heute nur noch selten

Boy meets Girl, The Human Leagure, Michael Sembello, Gloria Estefan bzw. Miami Sound Machine, Jennifer Rush, Sandra, Tiffany, Pat Benetar, Wave, Synthwave, Italdo-Disco, … so viele Namen und Strömungen jener Zeit kommen mir beim Hören von „Heron“ in den Sinn. Und dabei halten sich Heron nicht damit auf, irgendwelche Songs zu covern, sondern mit vertraut wirkenden Tönen etwas Neues zu schaffen. Kurz kommt mir der Blutengel Chris Pohl mit seiner Nebentätigkeit She Hates Emotions in den Sinn, der dort einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgt. Der Pohl mag die bekanntere Person sein – musikalisch aber müsste sich sein Versuch geschlagen geben, würde man das miteinander vergleichen wollen.

Allein schon mit dem Opener „This Is My Beginning“ ist die Marschrichtung für die nachfolgende Dreiviertelstunde klar: eingängige Synthie-Melodien, die sich in den Gehörgängen verankern, Hooklines, die noch durch den Kopf geistern, lange nachdem das Album längst verklungen ist und eine starke, stimmliche Leistung von Birthe in Form von wirklich bezauberndem Gesang. Es ist deutlich zu hören, dass Heron als Projekt vielleicht noch neu sein mag, wenn gleich die Gründung auch schon wieder drei Jahre zurückliegt. Aber dass die Dame und der Herr nicht erst seit gestern musizieren, das wird sehr schnell sehr klar.

„Togehter We Feel“ wirkt, als hätte man es aus einer Folge von „Miami Vice“ entnommen, „Hold My Tongue“ ist eine flirrende Ballade geworden, das flotte und tanzbare „Under Pressure“ ist wunderbar sündig, „Not Your Drug“ gefällt durch weite Synthieflächen, wie sie in jenem Jahrzehnt nicht selten waren und die letzten beiden Songs des Albums, „Being Quiet“ und „Keep Breathing“, bewerben sich mit im Rennen um die schönste Ballade des Jahres. Lange Rede, kurzer Sinn: Heron haben verstanden, wie die Mucke der 80er funktioniert (hat). Und auch wenn der Ansatz, den Sound am Leben zu halten oder wiederzuerwecken, nicht neu ist – einen wirkungsvolleren Defibrillator habe ich lange nicht erlebt.

Ich habe keine Ahnung, auf wie vielen 80er-Jahre-Partys ich in diesem Leben schon gewesen bin und wie viele Stunden schon in das Hören der Musik jener Zeit geflossen sind. „Miami Vice“ und andere Fernsehserien von damals kann ich so langsam im Schlaf rückwärts runterbeten. Ihr merkt schon: Ich bin Fan. Gelegentlich war ich auch neidisch, dass ich diese coole Musik, als sie neu war, nicht in einem Disco-fähigen Alter erlebt habe. Deshalb hat es grundsätzlich jede Band und jedes Album immer etwas leichter bei mir, mich zu begeistern, wenn der Spirit jenes Jahrzehnts aufgegriffen wird. Aber „Heron“ ist noch mal ein gänzlich anderer Schnack. Eventuell hat das Leipziger Duo hier gerade eine Messlatte gelegt, ohne sich dessen bewusst zu sein. In jedem Fall: sollten die 80er wirklich anrufen und ihre Musik zurückhaben wollen – nix da! Den Kram von damals können sie wiederhaben, Heron behalte ich aber.

Cover des Albums Heron von Heron.
Erscheinungsdatum
21. April 2023
Band / Künstler*in
Heron
Album
Heron
Label
O*Rs
Unsere Wertung
4.2
Fazit
Wessen Herz sich für den Pop-Sound der 80er-Jahre auch nur ansatzweise erwärmt, wird mit „Heron“ so gut bedient wie schon lange nicht mehr. Steile These: vielleicht kommt 2023 auch einfach kein Album mehr, dass den Geist des schillerndsten Jahrzehnts der Musikgeschichte so atmet wie dieses.
Pro
Schöner wurde der Geist der 1980er-Jahre musikalisch schon lange nicht mehr eingefangen
Pfiffige Arrangements, ganz toller Gesang
Passt perfekt in jede Playlist, in der 80er-Mucke vorhanden ist - und auch auf jede entsprechende Party
Kontra
Persönlich hätte ich mir etwas mehr Bass in der Produktion gewünscht, kann mir aber auch vorstellen, dass dies eine bewusstes Stilelement war
4.2
Wertung
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