Ein Foto der Band Diary of Dreams, das aus vier Einzelfotos zusammengesetzt ist.

Musikvorstellung: Diary of Dreams – Melancholin

Foto: Silke Jochum / Till Kraus

Fünf Jahre sind in einer Welt, die sich aufgrund sich immer weiter anhäufender Krisen zunehmend schneller zu drehen scheint, mittlerweile eine unfassbar lange Zeit. Wir hatten die durch Corona bedingten, verlorenen Jahre, mit Momenten während des Lockdowns, in denen die Zeit eingefroren zu sein schien. Wir haben seit ziemlich genau einem Jahr diesen verfluchten Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Iran ist vermutlich nur noch ein bis zwei Wimpernschläge davon entfernt, ebenfalls im Besitz von Atomwaffen zu sein und was das bedeutet, darüber denke ich lieber erst gar nicht nach. China rasselt mit dem Säbel, Nordkorea ebenso. Dazu Inflation, Gas- und Energiekrise und über allem schwebt die Klimakatastrophe, die nicht weniger als das Aussterben unserer Spezies mit sich bringen könnte. All das ist nicht neu, aber gefühlt spitzt sich all das immer weiter zu. Der Geruch einer brennenden Lunte liegt förmlich in der Luft. So viel ist passiert in globalem Maßstab, seit Diary of Dreams vor rund fünf Jahren mit „Hell in Eden“ ihr bis dato letztes Album veröffentlichten. Auch privat ist mehr los gewesen, als auf einen Bierdeckel passt.

Diesen Blog hier habe ich zwischenzeitlich eingestampft, einen neuen aus der Asche auferstehen lassen, anschließend auch wieder eingestampft, nur um zum Original zurückzukehren. Dazu diverse Jobwechsel, die Geburt meines Kindes vor mehr als vier Jahren und was weiß ich nicht noch alles. Und auch bei Diary of Dreams selbst war einiges los. Zu den negativen Highlights gehört wohl die Zerstörung des „White Room“ genannten Studios durch das Hochwasser im Juli 2021. In dieser Zeit und dieser Welt also, in der gefühlt immer weniger positive Nachrichten aus dem Dauerfeuer aus Hiobsbotschaften durchdringen, ist die Zeit mehr als reif für ein neues Album von Diary of Dreams. Mit „Melancholin“ erscheint in diesen Tagen ein Werk, so viel darf ich jetzt schon verraten, welches die Zeit des langen Wartens mehr als wett macht. Liebe Leser*innen, es darf wieder geträumt werden. Und vielleicht ist die Welt plötzlich wieder ein wenig erträglicher.

Ich muss übrigens noch immer über das Wort „Melancholin“ nachdenken. Es scheint mir, als handele es sich dabei um eine Wortschöpfung, einen Kunstbegriff, der die Worte Melancholie und Dopamin vereint. Was zunächst widersprüchlich erscheint, schließlich haftet dem Begriff Melancholie so etwas Schwermütiges an, während Dopamin als Glückshormon bzw. Botenstoff des Glücks bekannt ist, wird bei näherer Betrachtung (oder besser: intensiver Auseinandersetzung mit der Musik des Albums) zu einer cleveren Metapher dessen, was hier geboten wird.

Melancholie als Botenstoff des Glücks?

Melancholie ist erst einmal kein negatives Gefühl. Wer gerne in Erinnerungen badet, sich von vergangenen Momenten und Erlebnissen forttragen lässt, wird das wohlige Gefühl kennen, das dieses Gedankenrasen begleitet. Die leichten Stiche in der Herzgegend, die damit einhergehen, wohl ebenfalls. Und doch – kann dies nicht auch bedeuten, froh und/oder glücklich zu sein, sobald man wieder daraus auftaucht? Nämlich wenn die Freude darüber überwiegt, jene Momente erlebt zu haben, anstatt darüber zu trauern, dass sie vergangen? Und je öfter ich das Album höre, umso mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass „Melancholin“ genau das ist: ein Botenstoff, der empfängliche Hörer*innen trotz – oder gerade wegen – des melancholisch anmutenden Klangs glücklich zu machen vermag.

Die wahre Bedeutung hinter dem Titel dieses Albums kennt wie üblich nur Adrian Hates, allenfalls noch ihm nahestehende Personen. Und wie ebenfalls üblich lässt er sich nicht in die Karten schauen. Die Wahrheit bleibt im Verborgenen. Ähnlich verhält es sich mit den Texten. Das allerdings ermöglicht, und auch das ist sehr typisch, viele, viele Möglichkeiten zur Interpretation. Zum Abtauchen in die eigene Gedanken-, Gefühls- und Traumwelt. Und ähnlich wie bei Träumen sind es hier immer wieder Fragmente, die hängen bleiben – oder an die man sich aus vielfältigsten Gründen klammert. Dazu ein Beispiel. In „the Secret“, der ersten Single, heißt es: I am my best friend / I am my biggest enemy / This is who I am / That is nothing I can change. Ja. Wer sich selbst schon mal im Weg stand – oder dies mit einer ausdauernden Regelmäßigkeit wie der Autor dieser Zeilen tut – wird sich hier direkt verstanden fühlen. Im Gegensatz zu Träumen, die uns am Ende einer jeden Nacht in und mit der Wirklichkeit allein lassen, bleiben die Texte erhalten. Wie Rettungsleinen treiben sie im Grau des Alltags, bereit, jederzeit von den Dreamers ergriffen zu werden.

Eine Produktion, wie von einem anderen Stern

Ich denke immer noch darüber nach, dass der Titel des Albums das Wort Dopamin beinhaltet. Und wenn ich mir der über alle Maßen herausragende Produktion dieses Albums gewahr werde, könnte ich einmal mehr frohlocken. Auch aus rein musikalischer und produktionstechnischer Hinsicht ist „Melancholin“ ein Botenstoff für Glücksgefühle.

Ich halte Adrian Hates ja inzwischen für einen ziemlich schlauen Fuchs, der sehr genau mit den Erwartungen seiner Hörerschaft zu spielen vermag. Immer dann nämlich, wenn man denkt, als langjährige*r Hörer*in von Diary of Dreams würde man inzwischen wenigstens eine Idee davon haben, wie sich ein Song über dessen Spieldauer entwickelt, machen ausnahmslos alle Songs dieses Albums einen Schlenker ins Unerwartete. Manchmal sehe ich in solchen Momenten Adrian Hates schelmisch grinsend vor mir.

Auch dazu ein Beispiel.

Das Eröffnungsstück „Mein Werk aus Zement“. Es eröffnet mit einem Ton, einem Geräusch, das schon so ein bisschen Trademark-Charakter hat. Wer allerspätestens seit „Nigredo“ dabei ist, wird diesen Pfeifton, der an Raubvögel erinnert, kennen. Dazu dumpfes, unheilschwangeres Dröhnen und dann … nichts. Für einen kurzen Augenblick wird runtergeregelt. Es ist beinahe ein wenig so, als hätte man das Ende von „Kalt!“, dem sogenannten Ghost Track von besagtem „Nigredo“ genommen, um direkt daran das neue Album anknüpfen zu lassen. Und wie schon „Hell in Eden“ schließt auch das aktuelle Album den Kreis zur musikalischen Vergangenheit der Band … wenigstens in den ersten rund 30 Sekunden. Und dann pfeffert einem Diary of Dreams eine solche Breitseite um die Ohren, dass man sich selbige kurz mal reiben möchte. Eine brachiale Gitarrenwand, garniert mit dem von Adrian in die Welt gebrüllten „Stumm. Bleib stumm!“. Ein wenig „MenschFeind“-Vibes schwingen auch mit. Falls sich jemand fragen sollte, inwiefern Breitseiten und Träumereien zusammenpassen: nicht jeder Traum ist in rosa Watte gepackt. Zusätzlich sind da immer wieder auch die Albträume, die uns heimsuchen.

Jedenfalls: Es ist wirklich nicht schwer, das Gefühl zu entwickeln, man wüsste, was in diesem Lied noch passiert – ehe der äußerst flotte Beat einsetzt. Und dazu noch der Chor, der mit weiblichen Gastsängerinnen aufwartet. Ich weiß, man sollte derlei Begriffe nur sehr sparsam und wohldosiert einsetzen, dennoch geistert mir bei jedem Hören das Wort „episch“ durch den Kopf. „Mein Werk aus Zement“ gehört ins Lehrbuch „Gelungene Einstiege in ein Album“, keine Frage. Und wenn Adrian ganz zum Schluss mit seiner dunklen Stimme, die klingt, als könne ihr Besitzer alles Freud und alles Leid dieser Welt seit Anbeginn der Zeit bezeugen, spricht: „Ich glaub’ an die Zukunft, an Hoffnung und Glück. Ich weiß aber auch, davon krieg ich kein Stück“, dann muss ich mich jedes Mal kurz hinsetzen. Puh. Wenn man, wie ich, schriftlich attestierte Depressionen in der Krankenakte stehen hat, dann trifft es zunächst tief ins Mark. Bis die Erkenntnis einsetzt, nicht allein zu sein. Das aber scheint ohnehin eines der Erfolgsrezepte von Diary of Dreams zu sein. Den Dreamers, den Fans, ein kollektives Gefühl von verstanden werden zu vermitteln. Also, nur um das noch mal festzuhalten: was für ein Brett von einem Lied!

Vertraut wirkende Elemente – und doch alles neu

Aber damit ist es ja nicht getan. Das ganze Album schwankt immer wieder zwischen diesen ach so vertraut wirkenden Elementen und Dingen, die wir von Diary of Dreams noch nicht – oder zumindest so noch nicht – zu hören bekommen haben. „the Secrect“ war ja auch schon so eine erste Überraschung ob des flotten Beats mit den wunderbaren Synthwave-Anleihen. „Viva la bestia“ war das brachiale Kontrastprogramm dazu. „My distant light“ hingegen ist eines dieser Lieder, die mich fragen lassen, aus wie vielen Tonspuren ein Song dieses Albums wohl bestehen mag. Wie viele Layer mögen Adrian Hates und die Co-Produzenten Daniel Myer und Felix Wunderer wohl in einen Song gesteckt haben, um ein so vielfältiges Klangmosaik in den Gehörgängen zu installieren? Vor allem, wenn man sich „Melancholin“ über Kopfhörer gibt, ist es eine wahre Freude, die einzelnen Spurenelemente herauszuhören.

Ähnlich verhält es sich bei dem schwer synthetischen „the Fatalist“, das ich für einen der stärksten Songs der Tagebuchträumer jemals halte. Hier höre ich jedes Mal ganz besonders aufmerksam zu, aus Angst, ich könnte auch nur eins der zahlreichen, mit höchster fachkundiger Präzision platzierten Details verpassen. Oder „All is fragile“, dessen Synthie-Teppiche ein bisschen an das erinnern, was ein Jan Hammer damals in den 80ern schuf, als der den Soundtrack für die Fernsehserie „Miami Vice“ komponierte. Da es sich hier um eine Ballade handelt, aller mächtigen Gitarrenriffs zum Trotz, ist das hier vielleicht nicht „Crockett’s Theme“, sondern das von Adrian. Wer weiß. Oder „Beyond the void“, bei dem fragile Electronica auf fein gezupfte Gitarre trifft. Oder. Oder. Oder. Ich könnte noch ein etliche weitere Absätze darüber fabulieren, wie viel Handwerkskunst in diesem Album und dessen Songs steckt, wie gut sich alles zusammenfügt, belasse es aber bei diesen Beispielen. Ich möchte nur abschließend noch in den Raum stellen, dass Adrians Gesang hier eine neue Stufe erreicht hat.

Tja, und wenn das Album mit der ultra schwermütigen Trauerballade „tränenklar“ und Adrians letzten Worten „Wach auf!“ endet, denke ich mir: nö. Und starte die Wiedergabe des Albums ein weiteres Mal. Wie so viele andere Dreamers auch verliere ich mich regelmäßig in den musikalischen Welten, die ein Album der Tagebuchträumer vor mir eröffnet. Nicht immer habe ich direkt einen Zugang gefunden. Ich denke beispielsweise an „Grau im Licht“, das mich zunächst vor Herausforderungen stellte, dafür aber anschließend auch mit Hochgenuss belohnte. Hier ist es anders. Hier werde ich direkt vom Start weg gekegelt und ich bin ziemlich sicher, der Mehrheit der Hörenden wird es ähnlich ergehen. Ich weiß, auch mit Begriffen wie „Meisterwerk“ oder „Meilenstein“ muss man in homöopathischen Dosierungen um sich werfen, wenn überhaupt. Lasst es mich daher mal so sagen: Rückblickend wird man gewiss in der Zukunft sagen, dass Diary of Dreams mit „Melancholin“ ein wahrlich herausragendes Album gelungen ist, dass die meisten Vorgänger in den Schatten stellt. Wenn nicht sogar.

Melancholie + Dopamin = Melancholin, oder: Ein Album, das glücklich macht

Abschließend möchte ich noch einmal auf die eingangs getätigte Überlegung, dass es sich beim Titel „Melancholin“ um ein Kunstbegriff, zusammengesetzt aus „Melancholie“ und „Dopamin“, handelt, zurückkommen. Mit ihrem jüngsten Album haben Diary of Dreams ein Album geschaffen, das so groß ist und so gut, dass ich nicht umhinkomme festzustellen: viel mehr Freude kann musikalische Melancholie nicht mehr auslösen. Mehr Abwechslung, mehr ausgefeilte Produktion – überhaupt: mehr ‚mehr von allem‘ war vielleicht noch nie! – und somit ist es meines Erachtens nicht weniger als das bisher beste Album der Tagebuchträumer. Ich weiß, es ist immer ein bisschen müßig, ein Album mit den Vorgängern zu vergleichen, aber nach der für Diary of Dreams-Verhältnisse langen Pause zwischen zwei Alben ist einfach in jeder Sekunde, mit jedem Takt, jeder Note und jedem Ton hör- und spürbar, dass hier etwas ganz Besonderes herangereift ist. Und somit wären die lange Pause, die sich in der Zwischenzeit ereigneten Schicksalsschläge usw. doch noch zu etwas gut gewesen: der Schöpfung von rund 52 Minuten purer Freude. Das Album ist der Botenstoff dafür. Daher ist der Name „Melancholin“ schlussendlich auch Programm. Dafür gebührt Diary of Dreams nicht weniger als absolute Hochachtung.

Cover des Albums Melancholin von Diary of Dreams.
Erscheinungsdatum
24. Februar 2023
Band / Künstler*in
Diary of Dreams
Album
Melancholin
Label
Accession Records
Unsere Wertung
4.6
Fazit
Ich weiß, es ist immer ein bisschen müßig, ein Album mit den Vorgängern zu vergleichen, aber nach der für Diary of Dreams-Verhältnisse langen Pause zwischen zwei Alben ist einfach in jeder Sekunde, mit jedem Takt, jeder Note und jedem Ton hör- und spürbar, dass hier etwas ganz Besonderes herangereift ist. Und somit wären die lange Pause, die sich in der Zwischenzeit ereigneten Schicksalsschläge usw. doch noch zu etwas gut gewesen: der Schöpfung von rund 52 Minuten purer Freude. Das Album ist der Botenstoff dafür. Und somit ist der Name „Melancholin“ auch Programm.
Pro
Musikalisch sehr gereiftes und außerordentlich vielschichtiges Album, das die meisten Vorgänger überragt
Sensationelle Produktion, die vor allem über Kopfhörer am meisten Spaß macht, da es unheimlich viel zu "erhören" gibt
Mit "Mein Werk aus Zement", "the Fatalist" oder "Beyond the void" wieder diverse neue Songs für die Ewigkeit
Kontra
Es ist seit Jahr und Tag Konzept der Band bei regulären Studioalben, aber so langsam könnten sich auch DoD von dem 10-Lieder-pro-Album-Konzept lösen. Wenn etwas so gut ist wie hier, darf es gerne mehr sein
4.6
Wertung
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